AMAZON UMSCHIFFEN

In den letzten zehn Jahren hat der Direct-to-Consumer-Vertrieb (DTC) einen Aufschwung erlebt. Forbes-„Under 30“-Listmaker Jan-Niklas Kokott ist seit 2011 in der Branche aktiv und baute mehrere DTC-Marken auf, darunter auch das Unicorn Glossier. Doch wie und warum ist DTC im letzten Jahrzehnt immer populärer geworden?

Der US-Handelsriese Walmart – mit 559 Milliarden US-$ der umsatzstärkste Konzern der Welt – musste in den letzten Jahren mehrere Hundert Filialen schließen und mehr als 15.000 Mitarbeiter kündigen. Indes wuchs der Tech-Riese Amazon ­alleine dieses Jahr in puncto Mit­arbeiter um 30 %, auf 1,46 Millionen Personen. Doch neben dem stationären Handel und Amazon gibt es noch weitere Vertriebsmöglichkeiten – darunter Direct-to-Consumer (DTC). Damit ist der direkte Verkauf von Waren an Endkunden gemeint.

Auch die damals 24-­jährige Bloggerin Emily Weiss ­setzte auf DTC, als sie 2014 die Kosmetik­marke Glossier gründete (wofür sie es 2015 auf die „Under 30“-Liste von Forbes schaffte). Mit ihrem Leitsatz „Listen to your Customer“ ­wollte sie die Schönheitsindustrie auf den Kopf stellen: Anstatt zu diktieren, wie eine Frau auszusehen hat – wie bei den herkömmlichen Kampagnen etablierter Marken –, wollte sie die Marke zusammen mit ihren Kunden aufbauen sowie den Vertrieb gänzlich online und direkt abwickeln.

Die Branche war reif für den Wandel. Frauen geben jährlich ­satte 500 Milliarden US-$ für ­Kosmetik- und Pflegeprodukte aus, jedoch großteils in physischen ­Geschäften. Laut einem Bericht des Beratungsunternehmens McKinsey wurden vor der Coronakrise bis zu 85 % der Kosmetikprodukte im statio­nären Handel gekauft. Sogar die ­jüngeren Generationen – Millennials und die Gen Z – kauften bis zu 60 % ihrer Produkte in physischen ­Geschäften. In der Branche war DTC über ­digitale Kanäle noch unerforschtes ­Terrain.

Zum Erfolg von Glossier trug auch der deutsche Jan-­Niklas ­Kokott maßgeblich bei. Der „Under 30“-Listmaker 2017 war erst als Head of Product & Customer Insight, später als Head of User Experience tätig. Er baute die digitale Infrastruktur hinter der Kosmetikmarke auf.

„Damals war der Direkt­vertrieb noch kein großes ­Thema“, ­erinnert sich Kokott: „Was den ­Onlinehandel angeht, drehte sich die Diskussion viel eher um Onlinemarktplätze wie Amazon und weniger um DTC.“ Somit gab es für junge digital denkende Unternehmen eine Chance, den Direktvertrieb besser und schneller umzusetzen als die etablierten Legacy-Unternehmen, etwa der US-Kosmetikriese ­Sephora. Kokott: „Für sie (die großen Player, Anm.) war das Online-Segment definitiv noch nicht Priorität. Letztlich wird immer in die umsatzstärksten Kanäle investiert und der Online-Handel hat damals nur wenige Prozentpunkte ausgemacht.“ Damals war das der stationäre Handel.

Als Pionier im Bereich DTC gilt bis heute Warby Parker, ein US-Onlinehändler für Brillen. Mit seinem Erfolg legte das Unternehmen den Grundstein für eine ­gesamte Branche. Diesen Sommer ging ­Warby Parker an die Börse und entschied sich dabei, die Aktien direkt an die Anleger zu verkaufen, und nicht wie bei einem herkömmlichen Börsengang über Vermittler.

DTC bietet durchaus ­Vorteile. Die offensichtlichsten sind ­höhere Gewinnmargen sowie die Möglich­keit, mehr Daten über die ­Kunden zu sammeln. Dazu kommt laut ­Kokott die Personalisierung: „Ein Beispiel wäre etwa die Baby­nahrungsmarke ­Cerebelly, die von ­einer Neurowissenschaftlerin ent­wickelt wurde. Sie hat eine Zuordnung von bestimmten Nährstoffen zu ­verschiedenen Entwicklungsphasen während der Gehirn­entwicklung gefunden.“ Somit können Kunden ein Quiz ausfüllen und ­Fragen zum Entwicklungsstand ­ihres ­Babys beantworten. Das Ganze ist ein ­Abomodell, das sich automatisch anpasst, wenn das Kind ­älter wird. „Es gibt eine Menge Dinge, die man tun kann, um ein Kauferlebnis zu schaffen, das sich von Amazon unterscheidet“, so Kokott.

„Heute kann man auch via Instagram direkt verkaufen. Es braucht also nicht einmal eine Website, um ein E-Commerce-Unternehmen aufzubauen“, sagt Jan-Niklas Kokott, Gründer der Agentur Lumber.

Die Kombination aus einem Online-first-Zugang sowie einem Schwerpunkt auf Kundenfeedback hat sich auch für Glossier als durchaus erfolgreiche Taktik erwiesen: 2019 wurde das Unternehmen mit Sitz in New York erstmals zum Unicorn, überstieg also die Bewertung von einer Milliarde US-$. Im Juli 2021 schloss Glossier eine Series-E-Finanzierungsrunde ab und ­erhöhte seine Bewertung noch mal auf satte 1,8 Milliarden US-$.

In einem gewissen Sinn war ­Kokott der perfekte Kandidat für den Job. Vor Glossier arbeitete der gebürtige Berliner bei ­Flaconi, ­einem 2011 gegründeten Online­versandhändler für Beautyprodukte, der mit deutschen Kosmetik­riesen wie ­Douglas im Onlinesegment konkurrieren wollte. Damals standen ­viele der Idee, ­Kosmetikprodukte online zu verkaufen, eher skeptisch gegenüber: „Zu der Zeit war das Risiko­kapital in Deutschland viel konservativer als in den USA – vor allem in Bezug auf die Geldmengen, die in Start-ups investiert wurden“, so ­Kokott.

Jan-Niklas Kokott
...absolvierte einen Bachelor in Business Administration an der Freien Universität Berlin. Zwischen 2015 und 2018 baute er das amerikanische Kosmetik-Unicorn Glossier mit auf, 2018 gründete er Lumber mit, eine E-Commerce-
und Webdesign-Agentur.

Heute ist das anders. Der ­Direktvertrieb wird ein immer beliebteres Modell: Laut dem Marktforschungsunternehmen E-Marketer wird der Anteil von DTC-Verkäufen am ­gesamten E-Commerce-­Umsatz 2020 bei 17,75 Milliarden US-$ liegen, ein Anstieg von 24,3 % gegenüber 2019. Etablierte Marken wie Nike und Pepsi setzen heute auf den Aufbau ­ihrer ­eigenen E-Commerce-Infrastruktur (2020 machten DTC-Verkäufe 33 % des Nike-­Umsatzes aus). Auch die Kosmetikbranche kennt DTC-Erfolgsstorys: Reality­star ­Kylie ­Jenner ­verkaufte 2019 51 % ­ihrer Direktvertrieb-­Marke ­Kylie Cosmetics für 600 Millionen US-$ an den Parfum- und Kosmetikkonzern Coty. Auch ­Jenner nutzte die sozialen ­Medien ­geschickt, um eine loyale Gemeinschaft aufzubauen und ihre ­Marke somit organisch ­skalieren zu ­können.

Mit dem Aufstieg des DTC-Sektors ist auch die Nachfrage nach Experten gestiegen – darunter ­Kokott. Er verließ Glossier 2018, um sein eigenes Unternehmen Lumber zu gründen. ­Lumber ist eine Agentur, die E-Commerce und DTC-Konzepte umsetzt – von der Programmierung eines Onlinestores bis hin zu Branding und Graphic ­Design. Derzeit betreut Lumber mit einem Team von zehn Mitarbeitern zwölf Kunden, darunter etwa die ­bereits erwähnte Marke Cerebelly, das Essens-Start-up der Hollywood-Schauspielerin Gal Gadot namens Goodles und der Fahrradanbieter Super 73.

Der DTC-Markt wächst, ­Amazon aber genauso. Denn die Entscheidung für Unternehmen, wie sie ihre Produkte ­verkaufen, muss keine Entweder-oder-­Frage sein. Viele Marken, die eine ­eigene Infrastruktur ­haben, ­stellen ihre ­Produkte dennoch auf ­Amazon – um entdeckt zu ­werden. ­Dieser Faktor der „Discovery“ stellt laut Kokott eine der größten ­Herausforderungen im DTC-­Geschäft dar. Doch ­mithilfe ­sozialer Medien wurde schon die ­nächste Phase eingeleitet, denn die Markteintrittsbarrieren für DTC-Marken und den elektronischen Handel sind erheblich gesunken. Kokott: „Heute kann man auch via Insta­gram direkt verkaufen. Es braucht also nicht einmal eine Website, um ein E-Commerce-­Unternehmen ­aufzubauen.“

Text: Sophie Spiegelberger
Fotos: Nachman Blizinsky

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 9–21 zum Thema „Handel“.

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