DIE FRÜCHTE DES ERFOLGS

Mit einem Do-it-yourself-Bausatz bastelte sich Erez Galonska 2012 seine erste Indoorfarm – mitten im Wohnzimmer seiner Eltern in Tel Aviv. Die Idee erwies sich als erfolgreich: Heute betreibt das von ihm gegründete, in Berlin ansässige Unternehmen Infarm mehr als 1.400 vertikale Farmen auf der ganzen Welt. Nun will Galonska weiterwachsen – und ein weltweites Netzwerk für die Lebensmittelversorgung der Menschheit schaffen.

Wer auf der Facebook-Seite von Infarm ganz nach unten scrollt, findet ein Foto eines Wohn­wagens aus dem Jahr 1955, der mitten in den Prinzessinnengärten in Berlin steht. Das Foto entstand im Sommer 2013, die Türen des Wohnwagens stehen offen und Erez Galonska sitzt in einem T-Shirt auf dem Boden. Er hielt damals einen Workshop über Hydrokultur, eine Me­thode, um Pflanzen ohne Erde in Wohnräumen ­anzubauen. Das Innere des Wohnwagens ist in eine vertikale Farm verwandelt worden – mit gestapelten Regalen, einem Wassertank, kleinen Rohren und LED-Leuchten. Auf einer Tafel steht: „Probieren Sie die DIY-Indoorfarm aus – erstellen Sie Ihren eigenen Micro­greens-Salat“.

Als wir Galonska acht Jahre später per ­Videointerview treffen, hat sich an seinem Enthusiasmus für Lebensmittel wenig geändert. Doch er hat sein Hobby zum Beruf gemacht: Heute ist der Israeli CEO und Mitgründer von Infarm, einem der weltweit größten Unternehmen für vertikale Landwirtschaft, das er gemeinsam mit seiner Partnerin Osnat Michaeli und seinem Bruder Guy leitet. Die Mission des Unternehmens ist seit der Zeit in den Prinzessinnengärten unverändert: die Erzeugung frischer Produkte mithilfe intelligenter modularer Farmen und die Unterstützung von Städten bei der Selbst­versorgung mit Lebensmitteln. „Wir wollen bessere Produkte für uns selbst herstellen“, sagt er, „und zwar nicht nur wegen des Geschmacks, sondern auch hinsichtlich Nährwert und Vielfalt. Das ist eigentlich ein selbstsüchtiger Antrieb – dessen Ergebnis wir aber mit Menschen auf der ganzen Welt teilen möchten.“

Galonska erinnert sich an skeptische Stimmen zu Beginn: „Als wir anfingen, hielten uns die Leute für verrückt.“ Das ist heute nur noch selten der Fall, denn die Standorte von Infarm erstrecken sich von Berlin (dem Hauptsitz) über die USA, Frankreich, die Niederlande und Japan; das Unternehmen beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter. Mit seinem Modell des „Farming-as-a-Service“ sind die Produkte der 1.400 vertikalen Farmen in Supermärkten wie Edeka, Aldi, Rewe, Carrefour, Intermarché und sogar im Sternelokal „Restaurant Tim Raue“ zu haben. Die Vorteile sind laut Infarm vielfältig: Während die Kunden frisches Basilikum und Salat in schönen, mit LED-Lampen beleuch­teten Glasvitrinen kaufen dürfen, sind die Supermärkte in der Lage, frische Produkte direkt vor Ort anzubieten.

Doch Galonskas Antrieb geht über gutes Essen hinaus: „Eine der größten Fragen unserer Zeit lautet: Wie wird sich die Menschheit bis 2050 ernähren? Selbst wenn wir ein milliardenschweres Unternehmen aufbauen, werden wir nicht in der Lage sein, die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren.“ Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die Population der Erde innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte auf 9,8 Milliarden Menschen anwächst. Hinzu kommt, dass sich die Klimakrise verschärft und die Covid-19-Pandemie die Fragilität unserer Wertschöpfungsketten im Lebensmittelbereich deutlich gemacht hat. „Es gibt einen starken Trend zur Dezentralisierung und zur Reduktion von Risiko in der Versorgungskette. Das passiert, indem die Produktion sehr nahe am Wohnort der Menschen stattfindet“, sagt Galonska. „Wenn man den Bauernhof näher an die Menschen bringt und bessere Produkte zu einem besseren Preis anbaut, dann wird das von der Masse akzeptiert werden.“

All das hat einen Markt geschaffen, der Investoren anzieht. Laut dem Datenanbieter Pitchbook betrugen die Investitionen im Indoorfarming-Markt im Jahr 2020 allein in den USA 929 Millionen US-$ (786 Millionen €) – doppelt so viel wie 2019. Die Attraktivität hat dazu geführt, dass etwa Infarm-Konkurrent Bowery Farming eine Bewertung von 2,3 Milliarden US-$ (1,95 Milliarden €) erhielt, das Unternehmen Aerofarms legte indes einen Börsengang mit einer Bewertung von 1,2 Milliarden US-$ (eine Milliarde €) hin. Doch manche zweifeln. Führt Vertical Farming zu einer begrenzten Auswahl an Produkten? Wie viel Strom wird verbraucht? „Diese Fragen sind berechtigt, wenn man sich die Branche heute ansieht“, räumt Galonska ein. Doch er ist überzeugt, dass der eigene Weg nachhaltig ist: „Die Farmen, die wir derzeit betreiben, sind bereits um 50 % effizienter als im Vorjahr.“

Man könnte sagen, dass der Erfolg von Infarm schon früh gesät wurde. Galonskas Vater war ein Landwirt, seine Mutter Unternehmerin. Geboren und aufgewachsen ist er in Ganot, einem Moschaw in der Nähe von Tel Aviv mit 540 Ein­wohnern. „In dem Dorf gibt es einen zentralen Wert, nämlich das Land zu bewirtschaften und die Früchte zu genießen“, sagt Galonska (obwohl auf dem Ackerland seines Geburtsortes inzwischen Immobilienprojekte gebaut wurden). Nachdem er in der israelischen Armee gedient hatte, ging Galonska auf Reisen und entschied sich für ein Leben „off the grid“. „Ich hatte den Eindruck, dass dies dem Gefühl, frei zu sein, am nächsten kommt.“ Seine Reisen führten ihn in abgelegene Orte auf der ganzen Welt. Er verdiente sich mit Gelegenheitsjobs auf Mangofarmen und in Weinbergen etwas dazu, bevor er sich schließlich auf La Gomera auf den Kanarischen Inseln niederließ, wo er auf dem Gipfel eines Bergs lebte, Wasser aus Quellen trank und seine eigenen Lebensmittel anbaute. „Ich konnte mich selbst ­versorgen – und habe mich gefragt: Wie kann ich einen Teil davon mit in die Stadt nehmen? Das war der Beginn von Infarm.“

Galonska hat keine Universität besucht, sondern bezeichnet sich selbst als eifrigen Lerner. Sein erster Schritt führte ihn zur Google-Such­maschine, wo er „Wie kann ich ohne Erde an­bauen?“ eintippte. Konkret interessierte er sich für den Aufbau von Hydrokulturen in städtischen Gebieten. Die Idee in Israel zu verwirklichen kam nicht infrage – der Markt war zu klein und die Diskussionen über Nachhaltigkeit standen erst am Anfang. Seine Indoorfarming-Besessenheit führte Galonska schließlich 2012 zusammen mit seinem Partnerin und seinem Bruder nach Berlin-Neukölln: „In diesem Land kommen jeden Tag neue Unternehmer und Start-ups hinzu, denn es gibt ein Öko­system, das eben darauf ausgelegt ist.“

Das Unternehmen will bis 2025 hundert „Growing Centers“ (Distributionszentren) in über 25 Ländern aufbauen. Die geschätzte Fläche dafür sind 280.000 Quadratmeter. Laut Crunchbase hat das Unternehmen seit 2013 mehr als 340 Milli­onen € an Finanzmitteln von Investoren wie Atomico und Hanaco Ventures erhalten. Die jüngste Runde, die Series C, in der Höhe von 143 Millionen €, wurde von LGT Lightstone an­geführt.

Erez Galonska
...wurde in Israel geboren. Er zog 2012 nach Berlin und gründete mit seiner Partnerin Osnat Michaeli sowie seinem Bruder Guy im Jahr 2013 Infarm. Derzeit ist er CEO von Infarm.

Doch wann will Infarm Gewinne schreiben? „Wir stecken den Großteil unserer Ressourcen in die Expansion: Hundert Wachstumszentren, F&E und Innovation. Unser Ziel ist es, bis 2023 profi­tabel zu sein“, sagt Galonska. Das Unternehmen, das sich in Privatbesitz befindet, zieht es vor, seine Umsatzzahlen für sich zu behalten, und lehnt es trotz mehrmaliger Forbes-Nachfrage ab, sich zum Anteil der Gründer oder zur Bewertung zu äußern. Dennoch wächst Infarm im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 100 %. Allein die Pandemie ließ den Umsatz laut Galonska um über 200 % ansteigen. In Medienberichten wurde über einen möglichen Börsengang von Infarm spekuliert, dessen Bewertung bei einer Milliarde € liegen könnte. Bestätigt wurden diese Gerüchte jedoch nicht. Auf die Frage, ob ein Börsengang geplant sei, sagt Galonska: „Wir haben keine konkreten Pläne, aber wenn man sich ansieht, was ein Börsengang bringen kann, dann ist es der Zugang zu mehr Kapital, um als Unternehmen zu wachsen. Wenn wir über hundert Zentren wachsen wollen, müssen wir die nächsten Schritte noch mal überdenken.“

Die nächste Phase von Infarm wird zunehmend der eines Technologieunternehmens ähneln. Insgesamt hat das Unternehmen mehr als 300 Milliarden Datenpunkte in seinem mit der Cloud verbundenen Netzwerk gesammelt. Diese Daten werden genutzt, um die Anbaubedingungen zu optimieren – von der Beleuchtung über die Temperatur bis hin zum pH-Wert des Wassers. Und auch das Wachstum könnte jenem von Tech-Unternehmen ähneln: Galonskas Vision ist es, weltweit Tausende von Infarms Growing Centers zu errichten. Doch wann wird er die Früchte seiner Arbeit genießen? „2050 ist ein guter Zeitpunkt, um uns zu fragen: Haben wir der Menschheit geholfen, dass sie sich auf eine bessere und spannendere Weise ernähren kann? Konnten wir den Druck auf Wasserverbrauch, Landnutzung und CO2-Emissionen verringern? Dann hätte ich das Gefühl, dass wir etwas erreicht haben.“

Text: Olivia Chang
Fotos: Infarm

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 7–21 zum Thema „Smart Cities“.

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