MODERNE NOMADEN

Arbeiten zwischen Palmen und Meeresrauschen ist für viele Menschen ein immer wiederkehrender Tagtraum. Für so manchen digitalen Nomaden ist dieser Traum Wirklichkeit geworden, die Lebensrealitäten dieser Berufsgruppe sind jedoch weit diverser –ihre Herausforderungen und Schattenseiten mindestens genauso. Ein Porträt über vier digitale Nomaden und ihre Karrieren, wie sie wohl unterschiedlicher nicht sein könnten.

Auf den ersten Blick haben Sonia Jaeger und Kelvyn Colt wohl wenig miteinander gemeinsam: sie eine Psychologin, die sich gerade für die nächste Online-Therapiesitzung in Australien vorbereitet, er ein junger Hip-Hop-Künstler, der in Paris an seinen Texten feilt. Fragt man sie jedoch nach ihrem Arbeitsalltag, wird klar: Die beiden verbindet das Nichtgebundensein an einen bestimmten Wohn- oder Arbeitsplatz sowie das Arbeiten von Handy oder Laptop aus. So wie Jaeger bereits seit 2015 ihrer Selbstständigkeit als Psychologin ausschließlich digital via Zoom-­Meetings mit ihren Klienten nachgeht, baut Colt sich sein eigenes kleines Musikimperium genauso von unterwegs auf.

Damit lassen sich die beiden einer globalen Gruppe von Millionen von Menschen zuordnen: jener der digitalen Nomaden. Per Definition ver­steht man unter digitalen Nomaden Personen, deren Arbeitsweise durch Ortsunabhängigkeit und das Arbeiten mit digitalen Mitteln und Technologien gekennzeichnet ist. Zumeist sind diese Freelancer oder Selbstständige, Leute in Ausbildung und manchmal auch Angestellte. Schätzungen zur genauen Population des digi­talen Nomadentums sind schwierig – einerseits fehlt es an der Einsicht in die Lebensstile der Menschen, anderer­seits ist die genaue Abgrenzung, wer als digitaler Nomade gilt, schwierig. „Ich meine, ich bin ein digitaler Nomade, aber es war nicht so geplant“, sagt Colt auf die Frage, ob er sich denn als solcher sehe. „Künstler und Musiker, die international und länderübergreifend touren, sind sowieso Nomaden – und waren es in der Geschichte schon immer. Neu hinzugekommen ist, dass man am Laptop arbeitet und über die sozialen Medien von überall und zu jeder Zeit kommunizieren kann.“

Vor der Pandemie flog Colt mehrmals die Woche zu Musik­sessions, Auftritten, Fotoshootings und Interviews – und auch, wenn sich das Tempo und der Bewegungsradius seit Ausbruch der Pandemie verringert hätten, sei er nach wie vor jeden Tag beruflich viel unterwegs.

Alleine in den Vereinigten Staaten hat sich gemäß dem „The State of Independence in America Report" die Anzahl der digitalen Nomaden von 4,8 Millionen Menschen im Jahr 2018 auf 10,9 Millionen 2020 mehr als verdoppelt; Covid-19 ist hier wohl nicht ganz unschuldig. Mit der steigenden Popularität des digitalen Nomadentums haben sich auch ent­sprechende Stereotype über diese heraus­gebildet: Digitale Nomaden wollen ihrem Nine-to-­five-Job entkommen, sie streben nach Freiheit und wollen unkonventionell sein; ihre räumlichen Ziele sind dabei solche, die für den Durchschnittsmenschen als Urlaubsdestinationen gelten.

Zumindest Letzteres ist statistisch bewiesen: Laut einem Report der Asean (Assoziation süd­ost­­asiatischer Länder) führen Orte wie Ubud auf der indonesischen Insel Bali oder die vietnamesische Ho-Chi-Minh-Stadt die Liste der beliebtesten Ziele an. Auch Buenos Aires scheint zum Epi­zentrum für digitale Nomaden geworden zu sein, so die Plattform The Nomad List.

Das bestätigt auch Felicia Hargarten (die mittlerweile den Namen Yara Joy angenommen hat): Als wir die aufgeweckte Gründerin des DNX Festival zum Interview treffen, verweilt sie gerade im brasilianischen Florianopolis. „Es gibt ja mittlerweile auf der ganzen Welt Co-Working-Spaces und auch Anlagen, die auf digitale Nomaden spezialisiert sind. Für meinen Partner und mich sind insbe­sondere die Community vor Ort, das Angebot an Sportmöglichkeiten und gutes Essen ausschlag­gebend dafür, ob wir länger an einem Ort bleiben wollen“, sagt die Unternehmerin. Seit sieben Jahren gibt es das DNX Festival, dessen Abkürzung für Digital Nomad Experience steht und das sie gemeinsam mit ihrem Partner Marcus Meurer alias Sonic Blue gegründet hat. Entstanden ist es eher durch Zufall: „Wir waren zu dem Zeitpunkt bereits selbst digitale Nomaden und haben als Freelancer für Online-Start-ups aus Berlin und Düsseldorf remote gearbeitet. Unsere Freunde stellten uns immer wieder Fragen zu unserem Lebensstil, bis eine Freundin von mir meinte: ‚Wieso macht ihr nicht mal eine eigene Veranstaltung dazu?‘“ Mittlerweile verkauft das Paar jedes Jahr über 1.000 Tickets (deren Preise von knapp 200 € bis knapp 1.000 € reichen), bespielen 23.000 Follower online und haben DNX mit einer eigenen Online-Academy weiterentwickelt.

Die Diskrepanz zwischen der Scheinwelt auf Social Media und dem, was digitale Nomaden tatsächlich besitzen und sind, ist oft groß.

Einer, den das Reisen genauso dazu inspiriert hat, ein eigenes Unternehmen zu diesem Thema zu gründen, ist Fabio Hildenbrand. Der 24-jährige Heidelberger setzte sich nach seinem Abitur eine Weltreise in den Kopf: 41 Länder, 100 Destinationen und 14 volle Reisepassseiten waren ein Ergebnis; das andere war der Businessplan für das eigene Start-up Backpackertrail. „Besonders bei Backpacking-Reisen in fernere Länder ergeben sich Probleme wie die Suche nach geeigneten Routen, Kosteneinschätzungen oder auch einfach, die passenden Partner für eine solche Reise zu finden – das weiß ich aus eigener Erfahrung“, erklärt er. Die Backpackertrail-App ist eine KI-gestützte Applikation, die Antworten auf diese Fragen liefern soll. Mittlerweile beschäftigt Hildenbrand rund 40 Leute und arbeitet mit bekannten Plattformen wie Omio oder Skyscanner zusammen.

Die Sonnenseiten dieses Lebensstils sind für die vier genannten Nomaden schnell definiert: Positiv sind die vielen neuen Eindrücke und das ständige Kennen­lernen (mehr oder weniger) interessanter Menschen genauso wie das Gefühl von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Flexibilität. Doch auch die Nachteile sind mindestens genauso vielseitig: Langstreckenreisen und häufige Orts­wechsel erfordern penibles Planen und werfen Fragen nach der Wahl von Versicherungen, Zahlungs­methoden und Ähnlichem auf. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens MBO Partners sind nicht einmal 15 % der digitalen Nomaden ausreichend versichert.

Prekär ist auch die finanzielle Situation vieler digitaler Nomaden. Dies erforschte Harvard-­Professorin Beth Altringer in ihrer Umfrage
zum beruflichen Erfolg und Einkommen dieser Gruppe. Sie bewies: Nur ein geringer Prozent­anteil der Nomaden ist finanziell erfolgreich. Die mittleren und unteren bis mittleren Einkommensbereiche des Datensatzes zeigen hingegen: Digitale No­maden sind teils hoch verschuldet. Fast 60 % der Befragten in diesem Einkommensbereich hatten mehr als 60.000 US-$ Schulden. Obwohl das digitale Nomadentum für diese Gruppe als Lebensstil am unsichersten ist, bilden diese den Großteil. Die häufigsten Berufe am unteren Ende des Einkommensspektrums gehören zu den Bereichen Onlinemarketing und Vertrieb, Life-­Coaching und Social-Media-Bloggen.

Die Krux mit dem Geld beobachtet auch Sonia Jaeger immer wieder, denn ein beachtlicher Teil ihrer Klientel sind selbst digitale Nomaden: „Bei vielen – insbesondere jungen – digitalen Nomaden zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen dem, was sie auf Instagram vorgeben,
zu besitzen und zu sein, und dem, was sie tatsächlich in der Tasche haben. Neben dem Geldproblem ­versuchen viele, mit ihrer Scheinwelt auf Social Media und den immer neuen bevorstehenden Reisezielen Problemen zu entfliehen, die ent­weder tief in ihnen oder manchmal auch im Heimatland sitzen“, erklärt die Psychologin. Auch die zeitaufwendige Selbstständigkeit mit ihrem hohen Maß an Eigenverantwortung bringe ihre Herausforderungen. Und zu guter Letzt können auch das Gefühl von Einsamkeit und das Fehlen von längerfristigen zwischenmenschlichen Beziehungen belastend für die Psyche sein.

Digitale Nomaden, die laut dem „The State of Independence in America Report" überwiegend junge weiße Männer aus Europa oder Nordamerika sind, begeben sich gezielt in Länder, wo das Leben und Wirtschaften weniger kostenintensiv ist als in ihren Ausgangsländern. Nicht nur eine auslän­dische Unternehmensgründung – rund 75 % der digitalen Nomaden sind selbstständig – bringt Kosten­vorteile wie Steuerersparnisse, auch für Angestellte und Freelancer bedeutet ein west­liches Gehalt im globalen Süden oftmals ein Leben wie ein Sonnen­könig – oder zumindest mehr Netto­gewinn am Ende des Monats, verglichen mit einem Leben in den west­lichen Metro­polen. Ob dies moralisch vertretbar ist, steht zur Debatte; genauso wie die Frage, ob dieses Ver­lagern als finanzieller Erfolg gelten kann.

Dennoch lautet die Prognose: Das digitale Nomadentum wird nach der Pandemie einen Boom erleben. Nicht nur die Reiselust der Jungen, die laut Schätzungen der UNO über 20 % aller Reisenden (200 Millionen Menschen) ausmachen, ist größer denn je, auch die Arbeits­losenquote in der jungen Generation ist heute höher denn je, weswegen für viele traditionelle Berufe gar nicht mehr infrage kommen. Hildenbrand: Solange Arbeitgeber nicht mitziehen und Arbeitnehmern die Möglichkeiten eröffnen, Reisen und Arbeiten zu koppeln, wird es immer Menschen geben, die ihrem Fernweh nachgeben – Tendenz steigend.“

Text: Chloé Lau
Illustration: Emanuel Moser

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 5–21 zum Thema „Travel & Tourism“.

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