17 ZIELE IM BLICK

Nora Wilhelm nimmt sich etwas vor, das Regierungen, Unternehmen und Gemeinden gleichsam herausfordert: Mit ihrer Plattform Collaboratio Helvetica arbeitet sie daran, dass die Schweiz bis zum nächsten Jahrzehnt alle Ziele der UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung erreicht.

Am Ende des Tages ist es unser Ziel, überflüssig zu werden“: Diese Aussage klingt erst einmal kontraintuitiv – nicht jedoch für Nora Wilhelm. Sie misst daran ihren Erfolg. Die Mitgründerin der Schweizer Collaboratio Helvetica hat sich dafür sogar ein Datum gesetzt: 2030. Denn das ist die Deadline für die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Im Jahr 2015 wurden die SDGs für die Verbesserung des Zustands der Welt in den Bereichen Umwelt, Soziales und Wirtschaft ­verabschiedet. Die Ziele sind gelinde ­gesagt ehrgeizig: die Beseitigung der Armut, der Aufbau inklusiver Städte, die Sicherstellung bezahlbarer Energie, sauberen Wassers und guter Bildung. Und: Die SDGs sind nun in den Unternehmensstrategien und Jahresberichten verankert – CEOs stehen zunehmend unter Druck, konkrete Maßnahmen nachzuweisen.

Unter den 193 UN-Mitglieds­staaten befinden sich Schweden, ­Dänemark und Finnland derzeit an der Spitze, wenn es um den Fortschritt in puncto SDGs geht. Die Schweiz rangiert indes auf Platz 15, hinter ihren deutschen, französischen und österreichischen Nachbarn. „Es gibt so viele Initiativen und Projekte, um die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben, Rassismus zu bekämpfen und den Klimawandel zu stoppen – wie kommt es, dass wir nicht an diesem Wendepunkt sind?“, fragt Wilhelm. „Es gibt ­Fortschritte, aber sie geschehen nicht in dem Ausmaß und der Geschwindigkeit, die wir bei einigen Schlüsselthemen brauchen würden.“

Es gibt nur zwei SDGs, die die Schweiz erreicht hat: keine ­Armut und Zugang zu bezahlbarer und ­sauberer Energie. Aber in den Be­reichen Klimaschutz sowie bei verantwortungsvoller Produktion bzw. ebensolchem Konsum schneidet sie laut SDG-Index immer noch schlecht ab. „Wir gehören zu den Weltmeistern im Spill-over-Effekt – also wie viel an CO2-Emissionen Schweizer pro Kopf zum Beispiel durch ihren Konsum anderswo verursachen“, erklärt Wilhelm. „Wir sind mitverantwortlich dafür, dass anderswo Menschen an Atemwegserkrankungen sterben, um es mal ganz salopp zu ­sagen.“

Das zwölfköpfige Team von Collaboratio Helvetica mit seinen rund 50 ehrenamtlichen Mitarbeitern will das ändern. Wilhelm hat das kollaborative ­Innovationsökosystem ­Anfang 2017 zusammen mit Leo Caprez, Erik ­Gloerfeld, Emilia Pasquier, Michel Bachmann und Oswald ­König gegründet. Die Mission ist es, Akteure aus allen Sektoren zusammenzubringen, um einen systemischen ­Wandel voranzutreiben und letztendlich der Schweiz zu helfen, ihre SDG-­Ziele zu erreichen. Bis ­heute hat Wilhelm Unterstützung von über 70 Stakeholdern (darunter Impact Hub, das Schweizerische Forum für Außen­politik sowie Engagement Mi­gros) ­erhalten und an die vier Millionen CHF gesammelt. „Wir dachten, dass die Schweiz mit ihrem Reichtum und ­ihren Privi­legien ideal dafür prädestiniert ist, über Sektoren und Grenzen ­hinweg zusammenzuarbeiten, um einen ­Systemwandel zu bewirken“, so ­Wilhelm. „Die Geschichte des Landes ist ja eine, die im Vergleich zu unseren Nachbarn aus der Zusammen­arbeit erwachsen ist.“ Collaboratio Helvetica hat verschiedene Initiativen unter ihrem Dach, von Workshops zum Kapazitäts­aufbau über ­Dialoge bis hin zu Social Innovation Labs (in denen verschiedene Interessengruppen zusammenkommen und schließlich prototypische Lösungen entwickeln). Solche Methoden können sogar Gesetze ändern oder ­politische Agenden und Strategien gestalten.

Von Workshops zum Kapazitätsaufbau über Dialoge bis hin zu Social Innova­tion Labs: Collaboratio Helvetica vereint verschiedene Initiativen unter ih­rem Dach, um in der Schweiz bis 2030 die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Ein paar Beispiele: Eine Gemeinde im Kanton Luzern setzte nach dem Dialog mit Collaboratio Helvetica erstmals Nachhaltigkeit auf ihre politische Agenda. Ein anderes Mal wurde ein Solarenergieplan in einer Stadt im Kanton Waadt ver­abschiedet, nachdem die Idee in Zusammenarbeit mit den lokalen politischen Parteien entwickelt worden war. Bis heute hat die Collaboratio Helvetica auch über 100.000 CHF zur Finanzierung von Projekten und Prototypen wie schulwandel.ch, einem neuen Bildungsinkubator zur Verbesserung der Lernerfahrungen von Schul­kindern, ausgeschüttet und geholfen, über 1.2 Millionen CHF für SDG-Projekte aufzubringen.

Die 27-jährige Aargauerin glaubt, dass ihr „bewusstes Er­wachen“ im Alter von 15 Jahren stattfand. Ein Vortrag der Unicef-­Botschafterin Elizabeth Dallaire über den Völkermord in Ruanda und die Bilder von Schlachthöfen und Abholzung im Amazonasgebiet brachten ihre „idyllische Blase“ zum Platzen. „Es tat mir weh, was da passierte“, sagt Wilhelm. „Ziemlich schnell aber konnte ich dieses Gefühl in einen Beitrag und nützliches Handeln verwandeln.“ In ihrer Frei­zeit engagierte sich Wilhelm ehrenamtlich für das Rote Kreuz, trat dem Europäischen Jugendparlament bei und ver­suchte sogar, ihre Schule davon zu überzeugen, vegetarisches Essen anzubieten. Ein anderes Mal ab­solvierte sie ein Praktikum in einem Kinderhilfswerk und half der Caritas in armen und unterversorgten Ge­meinden. „Auch wenn ich es mir anders gewünscht hätte, war mir klar, dass man mit 16 Jahren den Welt­hunger nicht alleine beseitigen kann. Ich habe versucht, meinen Bereich zu finden, in dem ich etwas bewirken und Einfluss nehmen konnte, und von da aus ist alles gewachsen.“

Mehr als ein Jahrzehnt später hat Wilhelm inzwischen ihren Bachelor in International Affairs an der Universität St. Gallen absolviert und ist derzeit an ihrem Master in Social Innovation an der Universität Cambridge dran. Das Programm, sagt sie, wird ihre Arbeit an der gesellschaftlichen Trans­­formation in der Schweiz vertiefen. „Während unser politisches System viel Partizipation und inkrementelle Verbesserungen zulässt, bietet es nicht viel visionäre Führung“, betont Wilhelm. „Seine derzeitige Struktur und sein Tempo können sehr handlungsorientierte und visionäre Men­schen entmutigen, die einen Wandel in großem Maßstab sehen wollen.“ Seit ihrer Gründung hat Collaboratio Helvetica an die vieri Millionen CHF aufgebracht, hauptsächlich dank Stiftungen, staatlicher Mittel und Spenden. „Generell sind viele der Fördermechanismen, die es gibt, auf For-Profit-Modelle ausgerichtet“, sagt Wilhelm. „Natürlich ist jeder Schritt nach vorne wichtig, aber ich denke, es ist klar, dass wir ein System nicht mit ein paar 20.000-Franken-Projekten pro Jahr verändern werden. Wir brauchen höhere Investitionen.“ Der­zeit ist sie Mitgründerin eines neuen Sozialunternehmens namens Com­plex­ity Compass, das helfen soll, die Lücke zwischen Kapital und vielversprechenden Projekten zu schließen.

Nora Wilhelm
...absolviert derzeit ein Masterstudium in Social Innovation an der Universität Cambridge. Sie gründete 2017 Collaboratio Helvetica mit.

Es bleibt noch ein Jahrzehnt, die Uhr tickt. Auch wenn die Colla­boratio Helvetica im Jahr 2030 endet, kann sich Wilhelm vorstellen, weiter an einer nachhaltigeren und gerechteren Zukunft zu arbeiten – sei es als Dozentin an Universitäten oder in einer formalen Rolle in der Politik. Auf die Frage, wie optimistisch sie ist, dass die Schweiz ihre SDG-Ziele erreichen wird, verweist sie auf die Idee der kreativen Spannung aus „The Fifth Discipline“ von Peter Senge. „Wenn man zu sehr auf das Potenzial fokussiert ist und nur sieht, wie die Dinge sein könnten, läuft man Gefahr, ein irrelevanter Idealist zu sein. Man träumt nur und ist von der Realität abgekoppelt, sodass nichts jemals ankommt. Wenn man zu sehr auf die Realität fokussiert ist, kann man auch irrelevant sein, weil es so viel Zynismus und Hoffnungs­losigkeit gibt, dass man tatsächlich nie etwas verändern wird.“ Wo steht sie also? „Ich sehe mich gerne mit den Füßen fest auf dem Boden und mit dem Kopf in den Wolken. Die Spannung mag unbequem sein, aber genau hier passiert die Magie.“

Text: Olivia Chang
Fotos: Cohort 2030, Collaboratio Helvetica

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–21 zum Thema „Künstliche Intelligenz“.

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