ALTES HAUS IM NEUEN GEWAND

Nachdem Sotheby’s fast 300 Jahre lang auf altmodische Art Geschäfte gemacht hat, hat das Unternehmen während der Pandemie sein Drehbuch neu geschrieben: Es hat sich den NFT-Markt und einen Netflix-ähnlichen Algorithmus zunutze gemacht, um einer neuen Generation von Kunden ein ernsthaftes Angebot zu machen.

Im Herbst 2020 schlug ein junger Mitarbeiter der Abteilung für zeitgenössische Kunst bei Sotheby’s vor, eine neue Anlageklasse zu erforschen, in der Hoffnung, bei Charles Stewart, dem neuen CEO des Unternehmens, zu punkten. Stewart hatte noch nie etwas von NFTs (Non-Fungible Tokens) gehört, aber er war fasziniert – vielleicht war ja etwas für das ehrwürdige, 1744 gegründete Auktionshaus dabei. „Ich habe sicherlich nicht erwartet, was in den nächsten zwölf Monaten passieren würde“, sagt Stewart, 52.

In der Tat hätten nur wenige voraussehen können, dass NFTs innerhalb eines Jahres bei einer neuen Generation junger, kryptobesessener Sammler so begehrt sein würden wie ein Picasso oder ein Porsche. Sotheby’s verkaufte 2021 NFT-Kunst und andere digitale Sammlerstücke im Wert von fast 100 Mio. US-$ – zugegebenermaßen ein kleiner Teil der 17,6 Mrd. US-$, um die 2021 NFTs weltweit gekauft wurden, und weniger als die rund 140 Mio. US-$, die Hauptkonkurrent Christie’s verkaufte. Sotheby’s rechnet damit, seinen Anteil an diesem Markt 2022 zu erhöhen, selbst wenn man die extreme Volatilität der NFTs in Betracht zieht: Open Sea, der größte NFT-Marktplatz, verzeichnete im Januar einen Rekordumsatz von fünf Mrd. US-$; bis Ende März ist das Handelsvolumen aber um mehr als 20 % gegenüber dem Vormonat gesunken.

Zwei Kräfte haben Sotheby’s zu einer Modernisierung gedrängt: die Pandemie und neue Eigentümer. Im Jahr 2019 übernahm der französische Telekom-Magnat Patrick Drahi (sein Vermögen beläuft sich auf 6,6 Mrd. US-$) das Haus in einem 3,7-Milliarden-US-$-Deal. Die Transaktion bildete den Abschluss einer zwei Jahrzehnte währenden Periode, die damit begann, dass der Sotheby’s-Vorsitzende Alfred Taubman 2002 wegen eines Preisabspracheskandals ins Gefängnis musste, in der der Kurs teils dramatisch abstürzte (-40 % von Juni 2018 bis Juni 2019, während der S&P 500 stagnierte) und in der Umsatzrückgänge von 4 % (im letzten Jahr als öffentliches Unternehmen) zu verzeichnen waren.

Heute sieht die Lage für Sotheby’s wesentlich besser aus – dies ist zu einem großen Teil Charles Stewart zu verdanken, einem ehemaligen Investmentbanker, der den CFO-Job bei Drahis niederländischem Telekommunikationsunternehmen Altice aufgab, um zu Sotheby’s zu wechseln. Seit seiner Ankunft hat das Haus einen Teil seines Schwerpunkts auf NFTs und andere im Entstehen begriffene Märkte – Luxussneakers, seltene Teesorten – verlagert.

Sotheby’s erzielte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 7,3 Mrd. US-$, ein deutlicher Anstieg gegenüber 2020 (+38 %) und 2019 (+22 %). „Die Pandemie hat es uns ermöglicht, die Konventionen des Kunstmarkts zu überdenken, die tiefgreifend sind“, sagt Stewart.

Eines der ersten Dinge, die Sotheby’s im Zeitalter von Zoom tun musste, war die Art und Weise zu ändern, wie es seine Auktionen durchführt, um die Gefahren persönlicher Veranstaltungen zu vermeiden. Als die Auktionen von Sotheby’s im Juni 2020 online gingen, wirkten die Livestreams wie eine Mischung aus „Downton Abbey“ und einem CNN-Beitrag: Der Chefauktionator von Sotheby’s, Oliver Barker, wurde mit dem Ohrhörer eines Nachrichtensprechers ausgestattet, um sicherzustellen, dass die Produktionskabine die neuesten Gebote an ihn weiterleiten konnte. Das Set bestand aus sechs Flachbildschirmen, die Räume in New York, Hongkong und London zeigten, in denen telefonisch Gebote abgegeben wurden. (Mit der Lockerung der Covid-Beschränkungen kehren die Live-Audios zurück.) Die bekanntesten Auktionen von Sotheby’s haben inzwischen fast zwei Millionen Onlinezuschauer, in den letzten Jahren waren es nur ein paar Tausend. 2021 wurden 92 % aller Gebote via Web abgegeben, etwa das Dreifache des Anteils von 2018.

„Die Pandemie hat es uns ermöglicht, die Konventionen des Kunstmarkts zu überdenken, die tiefgreifend sind.“

Charles Stewart

Stewart hat sich auch die umfangreiche Kundendatenbank des Unternehmens zunutze gemacht – einschließlich des „FYEO 74“- Systems (FYEO = For Your Eyes Only), das exklusive Verkäufe verfolgt –, um mehr darüber zu erfahren, wer kauft und woran er sonst noch interessiert sein könnte. So experimentiert Sotheby’s jetzt mit prädiktiven Algorithmen, die ein wenig wie die Filmempfehlungen von Netflix funktionieren, indem sie die Interessen eines Kunden verfolgen und den Sotheby’s-Verkäufern Vorschläge unterbreiten. Stewart würde es auch gerne sehen, dass die Kunstmarktspezialisten des Unternehmens ihre persönlichen Marken online aufbauen würden, um junge, internetaffine Käufer anzuziehen: „Es gibt einen Platz in den sozialen Medien für jemanden, der zum Beispiel ein Experte für zeitgenössische südostasiatische Kunst ist.“

Was verkaufen diese Experten? Einiges davon ist recht traditionell: Letztes Jahr konnte Sotheby’s mit einem 676-Millionen-US-$-Verkauf von Kunst des 20. Jahrhunderts (Rothko, Pollock, Twombly) des New Yorker Immobilienmoguls Harry Macklowe und seiner Ex-Frau punkten; ein zweiter Teil ihrer Sammlung, darunter Werke von Andy Warhol und Gerhard Richter, wird im Mai unter den Hammer kommen und könnte den 832-Millionen-US-$-Rekord für eine Sammlung brechen, den der Nachlass von David Rockefeller 2018 aufgestellt hat.

Ein Großteil des neu gestalteten Geschäfts von Sotheby’s ist jedoch weniger konventionell: Im Oktober 2021 verkaufte das Haus ein Paar Nikes, die einst Michael Jordan trug, für 1,5 Mio. US-$ (ein Rekord für Turnschuhe); zwei Monate später wurden in Hongkong seltene Teesorten im Wert von mehr als einer Mio. US-$ versteigert. Dies war die erste Auktion dieser Art und eine von mehreren Bemühungen, die immer zahlungskräftigere asiatische Kundschaft anzusprechen.

NFTs bleiben natürlich ein wichtiger Bestandteil, um die nächste Generation von Sammlern für sich zu gewinnen. So konnte Sotheby’s im April 2021 mit einem Werk des anonymen Künstlers Pak im Wert von 16,8 Mio. US-$ rund 3.000 Interessenten anziehen. Dann folgten rekordverdächtige Preise für zwei der beliebtesten Cartoon-NFTs: 11,8 Mio. US-$ für einen „CryptoPunk“ im Juni 2021 und 3,4 Mio. US-$ für einen „Bored Ape“ im Oktober.

Um das Krypto-Publikum weiter zu umwerben, hat Sotheby’s im Mai 2021 begonnen, Zahlungen in Bitcoin und Ethereum zu akzeptieren. Im Juli 2021 zahlte ein anonymer Bieter mehr als zwölf Mio. US-$ in Kryptowährungen für einen birnenförmigen Diamanten von 101,4 Karat. Im November begleitete das Auktionshaus Constitution DAO, eine ursprünglich über Twitter zusammengestellte Investorengruppe, durch den Auktionsprozess, als sie (erfolglos) versuchte, eine seltene Kopie der US-Verfassung zu erwerben, nachdem sie mehr als 40 Mio. US-$ in Ethereum dafür gesammelt hatte. Das Dokument wurde schließlich für 43,2 Millionen US-$ an den Milliardär Ken Griffin verkauft. Um die Anfälligkeit für die wilden Wertschwankungen von Kryptowährungen zu minimieren, wechselt Sotheby’s innerhalb weniger Wochen nach einem Verkauf in Fiat-Währung.

Sotheby’s hofft, dass die Krypto-Kenner zu Kunst-, Wein- und Schmucksammlern werden und so ein „Schwungrad-Effekt“ entsteht. Die Strategie scheint aufzugehen: Justin Sun, der 31-jährige Gründer der Kryptoplattform Tron, hat eine 78,4 Mio. US-$ teure Giacometti-Skulptur von Macklowe erworben, nachdem er eine beachtliche NFT-Sammlung angelegt hatte.

Während NFTs für Sotheby’s eine großartige Möglichkeit sind, junge und neureiche Menschen zu erreichen, sind sie auch hochriskant. Im Februar wurde bei einer viel beachteten Sotheby’s-Auktion von 104 „CryptoPunks“ ein Erlös von bis zu 30 Mio. US-$ erwartet – doch der Abend endete, bevor er überhaupt begonnen hatte: Der Verkäufer brach die Auktion 30 Minuten nach der festgelegten Startzeit ab – wahrscheinlich ausgelöst durch den 35-%-Preisverfall von Ethereum binnen drei Monaten.

Und dann ist da noch die Frage des Nutzens von NFTs für einige Investoren. „Es ist schon komisch“, sagt Michael Bouhanna, Vizepräsident von Sotheby’s und Co-Leiter für digitale Kunst, „aber manchmal, wenn ich einen NFT verkaufe, fragen die Leute: ‚Was soll ich damit tun?‘“ In Wirklichkeit werden NFTs meist als Profilbilder in den sozialen Medien auf einem Computer oder Telefon angezeigt, obwohl einige hoffen, diese Käufe als Avatare in zukünftigen digitalen Welten zu verwenden, z. B. im Metaverse.

Text: Abraham Brown, Forbes US
Foto: Stephen Bondio, Alive Coverage for Sotheby’s


Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–22 zum Thema „KI“.

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