KI "GIUSEPPE" BITTET ZU TISCH

Eine künstliche Intelligenz erfindet Nahrungsmittel, die nun in elf Staaten – darunter die USA, Kanada, Chile, Brasilien, Argentinien, Mexiko, Peru und Kolumbien – im Supermarktregal stehen. Ob Kakao, Milch, Eiscreme, Mayonnaise, Hamburger oder Hähnchenfleisch: Alle Produkte sind rein pflanzlich. Wie funktioniert das?

Was, wenn es in Chile ein Start-up gibt, das per KI tierische Lebensmittel aus rein pflanzlichen Inhaltsstoffen nachbaut? Und was, wenn das so gut funktioniert, dass es vor gut zwei Monaten ein Joint Venture mit einem Industriegiganten einging und sich nun The Kraft Heinz Not Company LLC nennt? Wie kann es sein, dass (ehemals drei) junge Chilenen 2015 mit ihrem Algorithmus antraten, um den Lebensmittelmarkt zu entern, und deren Firma nun 1,5 Mrd. US-$ wert ist? Was hinzukommt: Die KI-Kopie steht ökologisch besser da als das Original.

Der CEO der selbsternannten Food-Neuerfindung The Not Company heißt Matías Muchnick. Im Gespräch mit Forbes DA sagt er über seine Beweggründe, dass er, als er hinter die Kulissen der Lebensmittelindustrie blickte, nicht glauben konnte, was sich da zeigte. Die Branche mache es wirklich schwer zu begreifen, was man da eigentlich esse. „Ich habe noch nie verstanden, dass wir uns heute schlechter ernähren als meine Eltern. Das wollte ich ändern.“ Erstaunlich, denn der Lebensweg des 34-Jährigen sieht nicht nach Revolte aus. Sein Vater arbeitete 30 Jahre in der Finanzindustrie, der Großvater gründete die Apothekenkette Salcobrand. Muchnick landete nach seinem BWL-Studium bei der Investmentbank J.P. Morgan in Hongkong. Dort hielt er es zwei Monate aus: „Ich traf viele Entrepreneure und merkte, dass diese Menschen glücklich waren, während meine Arbeit darin bestand, reiche Menschen noch reicher zu machen.“ Neben Muchnick gründete der heutige CTO Karim Pichara das Unternehmen mit, das pflanzliche Alternativen zu tierischen Lebensmitteln entwickelt. Pichara lehrte Astrophysik an der Harvard-Universität; der Chilene brachte Wissen in den Bereichen Machine Learning und Data Mining mit. Über das im März 2021 gewährte US-Patent von „Giuseppe“ sagte er der Tageszeitung La Tercera: „Wir schützen die Technologie durch ein Patent.“ Bis November 2021 war der Biochemiker Pablo Zamora der Dritte im Bunde. Rückblick: 2015 fragte ihn Muchnick, ob er den Algorithmus zum Ersatz von Tierproteinen schreiben könne. Als Zamora zusagte, begann die Reise auf der Suche nach der perfekten pflanzlichen Kopie. Doch Zamora verließ die Firma.

Die junge Firma setzt bei der Entwicklung neuer Produkte auf ihre KI „Giuseppe“. Diese soll jene pflanzlichen Inhaltsstoffe finden, die neu kombiniert bisherige tierische Produkte imitieren. Hinter Giuseppe steht ein 40-köpfiges Team aus Köchen, Ingenieuren und Wissenschaftlern. Deren Mission: Zu 100 Prozent pflanzliche Lebensmittel herzustellen, die identischen Geschmack und bessere Nährwerte aufweisen als das Original. Giuseppe arbeitet auf struktureller Ebene und analysiert tierische Lebensmittel wie Fleisch oder Joghurt. Lautet die Frage: „Woraus besteht Milch?“, gleicht das System jene Infor­mationen mit seiner Datenbank ab und gleicht ab, ab, woraus Milch strukturell besteht. In dieser stecken die geballten chemischen, molekularen und ernährungsphysiologischen Informationen von 4.000 pflanzlichen Proteinen. Die KI fahndet nach molekularen Übereinstimmungen und spuckt 50 bis 60 chemische Muster aus, die in Farbton, Aromen und Textur dem Originallebensmittel am nächsten kommen. Dann wird alles gekocht und verkostet. Wichtig ist, dass Struktur, Textur, Aroma und Farbe übereinstimmen und dass sich der Klon wie das Original verwenden lässt. Misslingt der erste Wurf, werden Variablen verändert und dem System mitgeteilt. Durch die Möglichkeit des Machine Learning stellt sich die KI darauf ein und liefert genauere Ergebnisse für das gewünschte Lebensmittel. Giuseppe heißt übrigens so, weil sein Tun an das des Renaissancemalers Giuseppe Arcimboldo erinnert, der für seine Obst-und-Gemüse-Porträts weltberühmt wurde.

Im Februar 2022 gelang der lateinamerikanischen Firma ein Coup: Seitdem gibt es ein Joint Venture mit dem weltweit fünftgrößten Lebensmittelmulti The Kraft Heinz Company. Name des Joint Ventures: The Kraft Heinz Not Company LLC. Der Tageszeitung El Mercurio sagte Muchnick dazu: „Wir brauchten 1,5 Jahre, um in den USA in 6.000 Supermärkten gelistet zu werden. Dank des Joint Ventures könnten wir in nur zwei Tagen in 40.000 Geschäften und 70.000 Restaurants sein.“ Doch der Abschluss sorgte beim Gründer „für Schlaflosigkeit in der Nacht vor der Ankündigung des Joint Ventures.“ Die Idee hinter dem Schritt: Sie werden pflanzliche Produkte von sehr bekannten Kraft-Heinz-Marken entwickeln – mit Not-Co-Logo darauf. Auf der Alternative steht dann: „Heinz Senf pflanzlich – powered by Not Co“. „Unsere Mission war es schon immer, Tiere aus der Nahrungsmittelbranche zu entfernen. Das Joint Venture ist darauf ausgerichtet, die globale Lebensmittelproduktion neu zu gestalten und eine nachhaltigere Zukunft zu erreichen.” Er hofft, dass die Firma köstliche pflanzliche Versionen der Lebensmittel anbietet, die man gewohnt zu essen sei. Die Kunden fragten nach Produkten und die Verantwortlichen hörten stets zu. Für The Kraft Heinz Not Company wünscht er sich köstliche pflanzliche Lebensmittel für alle!” Dies sei “erst der Anfang”. Steht eines Tages auch ein Börsengang an? Nein, sagt Muchnick, den wird es nicht geben, denn der erfolge nur aus zwei Gründen: „Entweder übt der Vorstand massiven Druck aus, das Unternehmen an die Börse zu bringen, oder der angemessene Wert und damit das Kapital auf dem privaten Markt lassen sich nicht finden.“

Es war ein großer Sprung nach vielen kleinen. Das zeigt ein Rückblick: Not Cos erstes Pflanzenwunder kommt im Frühjahr 2017 auf den Markt. „Anfangs belieferten wir 40 Läden“, sagt Muchnick. Den Käufern schmeckte die Mayonnaise. Innerhalb von neun Monaten steigt damals der Marktanteil der „Nicht-Mayonnaise“ im Segment auf acht Prozent. Muchnick: „Das war unglaublich. Die Produktion lief in drei Schichten und die Menschen liebten die Firma. Kaum hatten wir die Geschäfte beliefert, waren wir am kommenden Tag ausverkauft.“ In Gläser füllen die Mitarbeiter jene neuartige Mayonnaise, in der Eier, Soja, Cholesterin, Gluten und Laktose fehlen. Ein Blick auf die Rezeptur erstaunt: Nur elf Zutaten, darunter Traubenessig, Kichererbsen, Senfkörner, Knoblauch und brauner Zucker – alles pflanzlich, bis auf den Konservierungsstoff EDTA. Zuvor fanden sich auch Lupinen in der „Not Mayo“. Die Ökobilanz kann sich sehen lassen: Verschlingt die Herstellung eines Liters herkömmlicher Mayonnaise bisher 194 Liter Wasser, sind es laut Not Co bei ihrem Produkt 32,4 Liter; selbst der CO2-Ausstoß sinkt um 37 Prozent. Doch jede Gründerphase hat ihren Preis: „Es ist stressig und jeden Tag gibt es Probleme, denn unsere Produkte sind eine Revolution“, sagt der Gründer. Erfolg hat die junge Firma aber auch mit der „Not Milk“: Das lokale Wirtschaftsmagazin Capital fand heraus, dass sich das Substitut einen Marktanteil von zwei Prozent sicherte – innerhalb von vier Wochen. Stichwort Nährwert: Kommt das Original im 0,2-Liter-Glas auf 94 Kilokalorien, sind es bei der neuen „Milch“ 60 Kilokalorien, und der Zuckergehalt ist laut Not Co um etwa zwei Drittel geringer als bei Kuhmilch. „Wir zeigen, dass sich Fleisch, Käse, Milch und vieles mehr aus Pflanzen beziehen lassen“, sagt Nahrungsmittelrevoluzzer Muchnick dazu. „Unser Fokus ist, die Kühlschränke mit all unseren Produkten zu füllen.“ Heute verkaufen die Chilenen Mayonnaise pur und jene mit „Oliven“, „Knoblauch“, „Low Fat“ und „Spicy“; dann gibt es acht Eissorten, etwa mit „Himbeeren“ oder „Salted Caramel“, weiters „Not Milk“ „normal“ sowie als Schoko- oder Latteversion, „Chai Latte“ oder „Hot Milk“ – und Hamburgerpatties aus Hackfleischersatz sowie die Hähnchenfleischkopie „Chicken Burger“. Insgesamt gibt es 19 Produkte in unterschiedlichen Größen.

Nur: Was ist von all dem zu halten? In Singapur kümmert sich Raffael Osen am Singapore Institute of Food and Biotechnology Innovation als Leiter der Abteilung Food Process Engineering um die Zukunft der Nahrung. „2018 hörte ich zum ersten Mal von der Firma. Selbst wenn ich die Produkte noch nicht testete, sorgt die KI für sehr spannende Entwicklungen. Generell lässt sich sagen: Die Vielfalt an alternativen Proteinquellen nimmt immer weiter zu. Wir forschen an der Gewinnung pflanzlicher Proteine aus dem Bioreaktor wie Pilzen, Einzellern und kultiviertem Fleisch. Was mich besonders fasziniert, sind Strukturierungsmethoden, um diesen Proteinen eine fleisch- oder fischähnliche Struktur zu verleihen. Das ist ein großes Thema, wenn wir über die Nahrungsmittel der Zukunft sprechen. Asien ist ein besonders interessanter Wachstumsmarkt für derartige neue Lebensmittel, bei der die Anwendung künstlicher Intelligenz im Bereich ,Flavour and Food‘ eine immer größere Rolle spielen wird.“ Weiters sagt Osen: „Wenn es nach mir ginge, gäbe es viele neue proteinreiche Lebensmittel auf Basis von Pflanzen, Pilzen und kultivierten Zellen, die in Sachen Genuss und Nährwert den konventionellen tierischen Lebensmitteln in nichts nachstehen und weniger Ressourcen bei der Gewinnung verbrauchen.“ Rosige Zeiten also für Firmen wie Not Co.

Muchnick und seine Partner gründeten mit Eigenkapital in Höhe von 250.000 US-$. Dann wollte der Kapitalmarkt mitmischen: 2019 gab Bezos Expeditions einen großen Teil jener 30 Mio. US-$, die das Start-up in einer Finanzierungsrunde einsammelte. Später folgten 235 Mio. US-$ und das Interesse von Tennislegende Roger Federer und Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton. Dabei treibt die Chilenen nicht nur die Suche nach gesunder Nahrung an – sie möchten einen positiven „Impact“ schaffen, der etwas verändert und der Umwelt gut tut.

Das ist auch bitter nötig: In 30 Jahren könnten laut der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung fast zehn Milliarden Menschen leben. „Not Co wurde geboren, um das Unmögliche möglich zu machen“, sagt Muchnick dazu. Dies belegen auch Zahlen der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt: Demnach stecken im globalen Durchschnitt exakt 14.414 Liter Trinkwasser und 22 Kilogramm Treibhausgase in einem Kilogramm Rindfleisch. Die Viehzucht für die Nahrungsmittelproduktion verursacht laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen weltweit satte 14,5 Prozent aller vom Menschen gemachten Kohlendioxid-Emissionen.

Zurück zu „Giuseppe“: Es dauert, bis die KI versteht, was wir auf Pommes oder als Frühstücksgetränk lieben. „Wir hatten grüne und lila Mayonnaise“, so Muchnick, „oder auch eine Mayonnaise mit Rüben – sie schmeckte gut, aber man kann nichts verkaufen, was violett ist.“ Über die Zukunft sagt er: „Wir haben ehrgeizige Träume und sind keine Träumer. Wir machen lieber!“ Doch weshalb gründeten er und seine beiden Mitstreiter die Firma, die im Sommer 2021 bereits 275 Menschen Arbeit gab, ausgerechnet in Südamerika? „Chile hat den höchsten Prozentsatz an Unternehmertum in Lateinamerika, da der Staat die Szene durch das Programm ,Start-Up Chile‘ fördert. Tausende werden so zur Innovation ermutigt“, sagt der Firmenboss. Offen bleibt, wo welches Produkt als Nächstes auf den Markt kommt und wie sich das Joint Venture mit The Kraft Heinz Company entwickelt. 2022 soll das erste gemeinsame Produkt auf den Markt kommen.

Bereits 2019 sagte Matías Muchnick: „Wir wollen das erste chilenische Unicorn-Start-up werden.“ Diesen Traum erfüllte sich der Entrepreneur bereits. Und: Der Mann spielt Rugby, eine Sportart, bei der es neben Stärke auch auf gute Reflexe ankommt.

Text: Matthias Lauerer
Fotos: Cristóbal Olivares


Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–22 zum Thema „KI“.

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