The Next frontier

Eine Welt, in der die gesamte Forschung frei zugänglich ist: Für Kamila Markram, Geschäftsführerin von Frontiers, einem der weltweit größten Open-Access-Verlage, wäre dies eine großartige Utopie. Das Ziel ist ehrgeizig – schließlich geht es darum, ein jahrhundertealtes akademisches Publikationssystem auf den Kopf zu stellen.

Im Jahr 2007 veröffentlichte Kamila Markram eine neue Forschungsarbeit über Autismus. Nachdem sie jahrelang daran gearbeitet hatte, freute sie sich darauf, die Früchte ihrer Arbeit zum ersten Mal online zu sehen – doch als sie sich in ihren Computer einloggte, stellte sie fest, dass ihre Arbeit hinter einer Bezahlschranke lag. Ihre Universität, die Eidgenössische Technische Hochschule in Lausanne (EPFL), hatte keinen Zugang zum Journal Neuropsychopharmacology. Also zückte sie ihre Kreditkarte und bezahlte – um ihre eigene Forschung herunterzuladen.

„Mir wurde klar, dass das nicht geht: Wenn ich selbst meine Arbeit nicht herunterladen kann, was ist dann mit Menschen an anderen Universitäten, die sich den Download von Arbeiten nicht leisten können?“, fragt Markram. „Was ist mit Eltern, die autistische Kinder haben? Die werden das nie lesen, weil sie 30 bis 40 US-$ dafür bezahlen müssen.“ Sie war überzeugt, dass es einen besseren Weg gab – also nahm sie die Sache selbst in die Hand und gründete im Jahr 2007 den Open-Access-Wissenschaftsverlag Frontiers.

Heute leitet Kamila Markram den Verlag, den sie gemeinsam mit ihrem Mann, Henry, gegründet hat. Beide sind Neurowissenschaftler. Seit der Gründung hat Frontiers über 300.000 Artikel veröffentlicht, die mehr als 1,6 Milliarden Mal angesehen und heruntergeladen wurden. Der größte Pluspunkt: Alle Inhalte sind frei und öffentlich zugänglich. „Die Geschichte hinter Frontiers ist eine Geschichte der Frustration“, sagt CEO Markram, „Frustration über ein veraltetes und kaputtes Publikationssystem.“

Das Verlagssystem, auf das sie sich bezieht, geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als die ersten akademischen Zeitschriften gegründet wurden, die sich hauptsächlich an einzelne Wissenschaftler richteten. Seitdem hat sich das akademische Verlagswesen zu einer Multimilliardendollar-Industrie ausgeweitet. Das Modell funktioniert folgendermaßen: Forscher reichen ihre Artikel in renommierten Fachzeitschriften ein mit dem Ziel veröffentlicht zu werden; die Universitäten wiederum zahlen hohe Abonnementgebühren für diese Fachzeitschriften damit ihre Forscher Zugang zu diesen Arbeiten haben.  Die Konsolidierung auf dem Markt bedeutet, dass sich die Branche auf eine Handvoll großer Akteure konzentriert.

Einer der größten Verlage, Elsevier, verdiente beispielsweise 2019 über drei Mrd. US-$. Im selben Jahr kündigte die Universität von Kalifornien ihr Jahresabonnement bei diesem Verlag in Höhe von zehn Mio. US-$. Springer Nature hat 2017 ebenfalls 1,6 Mrd. € eingenommen. Ein anderer prominenter akademischer Verlag namens John Wiley & Sons verdiente 2021 fast zwei Mrd. US-$. Die Harvard-Universität bezeichnete ihre Abonnements für akademische Zeitschriften einmal als „finanziell unhaltbar“ - zumal alle Forschungsarbeiten von staatlichen Steuergeldern finanziert werden, dann aber den Forschern und Bürgern nicht, oder nur limitiert, zugänglich sind.

All dies hat zu einer größeren Diskussion über die Notwendigkeit von Open-Access-Publikationen geführt, die nicht hinter einer Bezahlschranke liegen. „Es gibt eine Zehn-Milliarden-Dollar-Industrie, die diese Forschungsergebnisse als Geiseln hält“, argumentiert Markram. „Die Forschung muss zum Nutzen der gesamten Menschheit offen zugänglich sein.“ Ihrer Ansicht nach wurden die Innovationszyklen verlangsamt, weil die Inhalte hinter teuren Abonnementmodellen versteckt sind. „Es liegt im Interesse jedes Forschers, seine Forschungsergebnisse so weit wie möglich zu verbreiten“, so Markram.

Ein Paradebeispiel: die Covid-19-Pandemie. Viele Zeitschriften stellten ihre Forschungsartikel über das Virus frei zur Verfügung; auch das Virusgenom wurde von Wissenschaftlern in China öffentlich zugänglich gemacht. „Dies ermöglichte es ihnen, Lösungen, Behandlungen und Impfstoffe in einem viel schnelleren Tempo zu entwickeln als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit“, sagt Markram.

Innerhalb eines Jahres war der Impfstoff von Pfizer/Biontech der erste, der von der Weltgesundheitsorganisation eine Notfallvalidierung erhielt. Dies geschah zeitgleich mit dem Vorstoß mehrerer Köpfe der Vereinten Nationen für eine offenere Wissenschaft als Reaktion auf die Krise. „In diesen schwierigen Zeiten können die besten Gesundheitstechnologien und Entdeckungen nicht nur für einige wenige aufbewahrt werden“, sagte Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, „denn was nützen Spitzentechnologien, wenn sie die Menschen, die sie am meisten brauchen, nicht erreichen?“

„Es liegt im Interesse jedes Forschers, seine Forschungsergebnisse so weit wie möglich zu verbreiten.“
Kamila Markram

Mit fünf Jahren war Markram mit ihrer Familie vor den sozialen Unruhen in Polen nach Deutschland geflohen. Ihre frühesten Erinnerungen sind die an ein Flüchtlingslager und die Tatsache, dass sie zeitweise „die Außenseiterin“ war. Sie studierte zunächst Philosophie an der Freien Universität Berlin und dann Psychologie, bevor sie sich am Max-Planck-Institut der Hirnforschung zuwandte. Im Jahr 2003 zog sie in die Schweiz, um an der EPFL in Neurowissenschaften zu promovieren. Dort hat Markram die Intense World Theory of Autism mitentwickelt – eine Theorie, die davon ausgeht, dass Autismus das Ergebnis eines „supergeladenen“ Gehirns ist, welches autistische Menschen dazu veranlasst, sich von einer übermäßig intensiven Welt zurückzuziehen. (Ihre Forschung wurde durch ihren Stiefsohn Kai inspiriert, der Autist ist.)

Zu diesem Zeitpunkt hatte Markram bereits zwei der größten Hindernisse in der akademischen Publikationslandschaft ausgemacht: „Das erste ist das Peer-Review-Verfahren an sich – es ist langwierig und mühsam“, sagt sie. (Dieser Prozess kann bis zu ein Jahr dauern, in dem die Forscher bereits zu ihren nächsten Projekten übergegangen sind.) „Sobald die Arbeit das Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat und veröffentlicht wurde, ist sie für andere nicht mehr zugänglich. Sie ist hinter einer Bezahlschranke versteckt“, nennt Markram das zweite große Hindernis.

Ihre Frustration machte auch vor dem Labor nicht halt – die Idee für Frontiers wurde oft am Esstisch mit ihrem Mann diskutiert. „Warum sich beschweren? Warum nicht etwas dagegen tun?“, erinnert sich Markram an diese Momente. Frontiers wurde zunächst als gemeinnützige Organisation an der EPFL in der Schweiz gegründet. Damals gab es nur eine neurowissenschaftliche Zeitschrift und 17 eingereichte Artikel, die durch philanthropische Spenden unterstützt wurden. Im darauffolgenden Jahr erhielt das Unternehmen seine erste Investition von der Privatfirma Kaltroco. Im Jahr 2012 konnte Frontiers durch die Erhebung von Gebühren für die Bearbeitung von Artikeln finanziell selbsttragend werden; dies ist nach wie vor die einzige Einnahmequelle.

Die Preise sind transparent und können auf der Website von Frontiers eingesehen werden. „Mit dem Aufkommen der Open-Access-Verlage, uns eingeschlossen, haben wir diese Kostenstrukturen transparent gemacht, sodass man genau weiß, wie viel ein Artikel kostet“, erklärt Markram. „In unserem Fall liegen die Bearbeitungsgebühren für Artikel zwischen 1.000 und 3.000 US-$. Im Durchschnitt kostet ein Artikel in Frontiers etwa 2.300 US-$.“ Frontiers arbeitet mit Tausenden von Forschern zusammen, die in Redaktionsausschüsse berufen werden, um die Inhalte zu überprüfen; derzeit gibt es weltweit etwa 176.000 Redakteure.

Die Appelle für eine offene Forschungswelt nehmen weiter zu. Die Europäische Kommission hat die offene Wissenschaft bereits zu einer Priorität ihrer Forschungs- und Innovationsförderprogramme gemacht. Inzwischen setzt sich auch „cOAlition S“ – ein internationales Konsortium, das von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Forschungsrat unterstützt wird, für die Abschaffung von Bezahlschranken für Veröffentlichungen ein. Ziel ist, dass alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die mit Forschungsgeldern finanziert werden, der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen.

Der Vorstoß für eine offene Wissenschaft ist ein gutes Zeichen für Frontiers. Das Unternehmen hat seine Büros auf dem Universitätscampus vergrößert und seinen Hauptsitz in das Zentrum von Lausanne verlegt. Heute beschäftigt es mehr als 1.400 Mitarbeiter in 14 verschiedenen Ländern. Allein die Zahl der Beschäftigten ist 2021 um 58 % gestiegen. „Unser Ziel ist es, die gesamte Wissenschaft zu öffnen“, sagt Markram. „Das bedeutet, dass wir der größte und meistzitierte Verlag werden wollen, um der Welt zu zeigen, dass das möglich ist.“

Wie plant Frontiers, dieses Ziel zu erreichen? Der erste Schritt besteht darin, mehr Zeitschriften herauszubringen. Das Unternehmen deckt bereits rund 1.000 Disziplinen ab, in Zukunft werden es einige Tausend sein. Allein in Europa will der Verlag bis Ende 2022 weitere 1.000 Mitarbeiter einstellen und seine Präsenz in Nordamerika und China ausbauen. „Wir werden stark in Technologie und künstliche Intelligenz investieren, um Forscher beim Peer-Reviewing von Artikeln zu unterstützen. Qualitätssicherung in großem Umfang kann nicht von Menschen allein geleistet werden“, erklärt Markram. „Wir wurden digital geboren, wir sind im Herzen ein Technologieunternehmen.“

Seit sie Frontiers gegründet hat, hat Kamila Markram noch nie für Forschung bezahlt – und das will sie auch so beibehalten. „Ich habe sicher nicht vor, dass meine Kinder auf diese Weise für die Wissenschaft bezahlen. Wenn sie erwachsen sind, werden sie eine offene Wissenschaftswelt erleben.“

Kamila Markram
...wurde in Wrocław, Polen, geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie schrieb ihre Magisterarbeit am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und schloss 2003 ihr Studium der Psychologie an der Technischen Universität Berlin ab. 2006 promovierte sie in Neurowissenschaften an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne. Kamila Markram gründete 2007 gemeinsam mit ihrem Ehemann Henry Markram Frontiers und ist CEO des Wissenschaftsverlags mit Sitz in Lausanne, Schweiz.

Text: Olivia Chang
Fotos: Frontiers

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 2–22 zum Thema „Innovation & Forschung“.

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