Abenteuer Leben

Die Entdeckerin Pip Stewart radelt von Malaysia nach London, schlägt sich mit Elitesoldaten durch Norwegen oder erkundet per Kajak einen der größten Flüsse des Amazonas-Urwalds. Welche Lektionen hat die Britin auf ihren Abenteuern fürs Leben gelernt?

Nach 72 Tagen waren sie endlich am Ziel. Pip Stewart, 37, und ihre Mitstreiterinnen Laura Bingham und Ness Knight hatten den Atlantik erreicht. Rund 1.014 Kilometer waren sie auf dem Fluss Essequibo im Amazonas-Regenwald per Kajak gepaddelt – von der Quelle in den Bergen Guyanas bis zum Meer. Damit war den Frauen und ihren Helfern vom indigenen Volk der Wai-Wai etwas Einzigartiges gelungen: Niemand vor ihnen hatte den südamerikanischen Strom in seiner vollen Länge erkundet.

Es war eine Expedition, bei der Blut, Schweiß und Tränen flossen; ein Trip voller Schönheit und Schrecken, der die Abenteu­rerinnen an die Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit brachte. Es war ein Überleben am Limit.

Als wir Pip Stewart im Herbst 2022 in ihrer Heimat East Wittering an der englischen Süd­küste besuchen, ist sie mit ihrem zweiten Kind schwanger. Mit ihrem Partner Charlie und ihrer zweijährigen Tochter Willow lebt sie in einem Haus am Kieselstrand, den Horizont hat sie hier immer im Blick. Stewart strahlt im Gespräch Energie und Neugier aus und erzählt ohne Eitelkeit von ihren Erlebnissen.

Menschen wie Stewart sind mächtige Markenbotschafterinnen. Firmen und Ausrüster schmücken sich gern mit ihr und ihren Mitstrei­terinnen, die gemeinsam via Social Media Hunderttausende Fans erreichen. Die weltweite Outdoor- und Abenteuerindustrie ist ein Wachstumsmarkt, rund 288 Mrd. US-$ schwer, und bis 2030 soll die Branche um fast 30 % wachsen.

Stewarts Amazonas-Abenteuer liegt vier Jahre zurück, nun ist ihr Buch über die Reise auch auf Deutsch erschienen. Die Journalistin und Autorin kann nie lange ruhig sitzen – sie ist immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Und ein solches kann für die Mutter auch ein Roadtrip mit Mann und Kind im Campervan durch Skandinavien sein. Stewart radelte schon von Malaysia nach London oder schlug sich mit den Royal Marines durch den norwegischen Winter. Mit jeder Expedition hat sie die Welt und vor allem sich selbst besser kennengelernt. So konnte sie Strategien entwickeln, mit denen sich auch die Herausforderungen im Job, in der Karriere, in der Beziehung und im Alltag besser meistern lassen. Hier erklärt Stewart, was sie auf ihren Abenteuern fürs Leben gelernt hat.

Mach auch den Alltag zum Abenteuer. Pip ­Stewart wurde bei Mönchengladbach in Deutschland geboren. Ihr Vater diente bei der britischen Royal Air Force und war viele Jahre in Nordrhein-Westfalen stationiert. Schon früh zeigte die kleine Pip einen unersättlichen Entdeckergeist. Das lag wohl in der Familie: Manchmal packte Pips Mutter ihre beiden Töchter ins Auto und ging mit den Kindern auf einen spontanen Roadtrip durch Europa.

Ein Satz, den Stewart als Kind in einer Zeitung gelesen hatte, wurde zu ihrem Lebensmotto: Wann, wenn nicht jetzt? „Wir sind alle nur winzige Punkte auf diesem Planeten und unsere Zeit ist begrenzt“, sagt Stewart – „darum will ich das meiste aus meiner Zeit machen.“ Für die Entdeckerin heißt das: auch im Alltag im Geist der Abenteurerin leben, die Sinne schärfen und mit offenen Augen durch die Welt gehen – um inten­siver zu (er)leben. „Wenn wir im Alltag die uns umgebende Schönheit wertschätzen lernen, verwandelt sich auch Alltägliches in ein Abenteuer“, sagt Stewart; eine Erkenntnis, die ihr auch die Dschungelexpedition im Amazonas brachte. Trotz der gewaltigen Reize in der fremden Welt wurden Farben, Texturen, Aromen und Gerüche umso lebendiger, je mehr sie ihr Bewusstsein darauf fokussierte. So ergaben sich poetische Momente – etwa wenn im Dschungel der Regen durch die Sonnenstrahlen fiel und mit seinem Trommeln die Landschaft zum Leben erweckte. Jeder Ast, jedes Blatt, jedes Tröpfchen, das in den Fluss eintauchte, tanzte in seinem eigenen Rhythmus.

„In diesen Momenten schien ein sanftes Leuchten tief aus dem Herzen des Dschungels zu kommen“, erinnert sich Stewart. Nach dem Erlebnis fragte sie sich wehmütig: Wie oft hätte ich dieses Leuchten auch auf einer öden Busfahrt zu Hause in England gesehen, wenn ich nur mein Empfinden besser auf die Wunder des Gewöhn­lichen ausgerichtet hätte?

Wenn du ein Problem nicht lösen kannst, ändere deine Einstellung dazu. Schon die ersten Tage der Amazonas-Expedition wurden zur brutalen Plackerei – Ausrüstung und Kajaks mussten zur Quelle des Essequibo in die Berge geschleppt werden. Die Frauen und ihre Helfer von der indigenen Wai-Wai-Bevölkerung litten unter der Hitze und konnten sich oft nur wenige Kilometer pro Tag durch das Dickicht schlagen.

Gleich zu Beginn hatte Stewart ein schockierendes Erlebnis: Sie blieb mit dem Fuß zwischen Baumwurzeln hängen, als plötzlich eine Lanzenotter hinter ihr auftauchte. Ein Biss der hochgiftigen Schlange wäre der sichere Tod gewesen. Kein Rettungsteam hätte es rechtzeitig in die Tiefen des Dschungels geschafft. Stewarts Guide Jackson Marawanaru schlug die Schlange mit der Machete tot – und kommentierte lapidar: „Entweder sie stirbt oder du.“

In den folgenden Nächten quälten Stewart schlimme Albträume. Was mache ich nur hier, warum tue ich mir das an? Diesen Gedanken wurde sie nicht los. Sie musste einsehen: Sie kann den Horror, die Einsamkeit und die negativen Gedanken nicht wegwünschen. Sie muss lernen, damit zu leben.

Was verbindet die Angst vor Schlangen, Spinnen und Skorpionen mit den Sorgen um Gesundheit, Geld oder Familie? Wie der Dschungel sei auch das Leben nicht vollständig kon­trollierbar, sagt Stewart. Statt zu versuchen, die Probleme zu vergraben (was sie dann womöglich erst Jahre später in der Therapie wieder auftauchen lässt), könnten diese aber neu eingeordnet werden. „Wenn es etwas gibt, mit dem du im Leben zu kämpfen hast, sei es privat oder beruflich, öffne dich jemandem und suche Hilfe. Das ist das Mutigste, was du tun kannst“, sagt Stewart.

Ihre Kameradinnen spendeten Trost – und irgendwann akzeptierte Stewart, dass sie mit ihren Ängsten leben muss und es auch kann. Sogar als in einer Nacht ein hungriger Leopard durch das Lager schlich.

Auch die Dunkelheit unter dem Blätterdach des Dschungels scheint manchmal alles zu verschlucken. Doch wer genau hinschaut, kann dahinter Sonne und Licht erkennen. Man muss nur den Kopf heben. Auch das hat Stewart im Amazonas gelernt.

Mach aus deinen Schwächen eine neue Stärke. „Wenn ich auf Expeditionen gehe, bin ich meistens die Langsamste oder die Schwächste“, sagt Stewart. Als sie neulich mit einem Trupp Royal Marines ein Überlebenstraining in der Wildnis in Norwegen absolvierte, war sie trotz ihrer mentalen Stärke den Soldaten körperlich unterlegen. Das Problem: Die Kameraden hatten keine Zeit zu warten, sie wollten nach einer Mountainbike-Tour unbedingt rechtzeitig ins Camp zurück, um ein Fußballspiel zu sehen. Und sie durften dafür keinesfalls die letzte Fähre verpassen. „Am Ende haben sie mich den Berg hinaufgeschoben, damit wir es noch rechtzeitig schaffen“, sagt Stewart und lacht.

Im Amazonas war sie mit zwei erfahrenen und abgehärteten Abenteurerinnen unterwegs: Ness Knight, die als erster Mensch die gesamte Themse durchschwommen hatte, und Laura Bingham, die 7.000 Kilometer quer durch Südamerika geradelt war, ohne Geld. Stewart war eingeschüchtert – und tatsächlich schien sie während der Expedition weniger geeignet für die körperlich harten Jobs, etwa Brennholzschlagen oder Fischefangen. Stattdessen erledigte sie gerne den Abwasch. Dafür schämte sie sich.

Auch fühlte sie sich oft fehl am Platz; wenn sie etwa tollpatschig stolperte und den anderen dabei Schlamm ins Essen kickte, oder versehentlich Wasser verschüttete und damit das Lager­feuer löschte. Einmal stürzte sie einen Abhang ­hinunter, weil sie die Schnürsenkel ihrer Schuhe versehentlich miteinander verknotet hatte – was für eine Peinlichkeit!

1.014 Kilometer legten Stewart, Bingham und Knight im Kajak zurück.
Pip Stewart und ihren Mitstreiterinnen gelang es als ersten Menschen, den südamerikanischen Fluss Essequibo im Amazonas-Regenwald in seiner vollen Länge zu erkunden.

Ich finde es bizarr, dass einem eingeredet wird, das Glück sei das Einzige, wonach es sich zu streben lohnt.

Pip Stewart

„Wenn man in einem Team mehr zu ­kämpfen hat als die anderen, fühlt man sich als Versager oder Parasit – und landet in einer Minderwertigkeitsspirale“, sagt Stewart. Was also tun? „Schwächen mit Humor sehen!“, rät sie. Nachdem sie wieder einmal eine Böschung hinabgestürzt war, beendete sie die Performance mit einer Verbeugung und einem Lächeln.

Stewart wurde klar: Sie kann auch in Extremsituation andere zum Lachen bringen. Sie kann gut zuhören und das Erreichte für die Nachwelt festhalten. „Auf eine seltsame Weise lässt meine Langsamkeit zu, dass sich andere stärker fühlen“, sagt Stewart. Und so stellten sich vermeintliche Schwächen als Stärken heraus. „Auch im Berufsleben kann in einem Team jeder etwas Einzigartiges beitragen – doch man muss sich die Zeit geben, diese Qualitäten zu erkennen“, sagt die Abenteurerin.

Wer immer nur nach Glück strebt, macht sich unglücklich. Im Dschungel bekommt der Waldboden nur zwei Prozent des Sonnenlichts, der Rest ist Schatten. Doch im Dunkeln kommt es zur Zersetzung und aus dem Abgestorbenen kann Neues entstehen. Es gilt: ohne Schatten kein Regenwald, kein Leben.

Als Stewart nach der Expedition nach England zurückkehrte, fühlte sie sich fit und gesund wie noch nie. „Ich hatte sogar einen Sixpack“, erzählt sie und schmunzelt. Doch das Glück hielt nicht lange an.

Aus einem Stich am Nacken entwickelte sich ein Geschwür, wie „ein Knutschfleck eines überambitionierten Vampirs“. Die Diagnose war niederschmetternd: Stewart litt an Leishmaniose, einem von Sandmücken übertragenen fleisch­fressenden Parasiten, der mit der Zeit womöglich auch ihr Gesicht befallen und entstellt hätte. Eine Chemotherapie, die in den 1940er-Jahren ent­wickelt wurde, war die einzige Heilung.

Die Schmerzen waren schlimm, Stewart konnte sich kaum bewegen. Immerhin hatte sie medizinische Versorgung. Im Amazonasgebiet gießen die Menschen kochendes Kuhfett über die Wunde; oft ist das die einzige Therapie, die für die Leute erschwinglich und zugänglich ist.

Leishmaniose ist nach Malaria die weltweit tödlichste durch einen Parasiten ausgelöste Tropenkrankheit, doch kaum jemand weiß davon. Weil das Leiden vor allem Menschen in armen Ländern betrifft, hat die Pharma­industrie keinen Anreiz, Therapien zu ent­wickeln. „Diese Ungerechtigkeit in der globalen Gesellschaft bei der Gesundheitsversorgung ist schlimmer als alles, was man im Dschungel aushalten muss“, sagt Stewart. Doch wegen des Klimawandels verbreiten sich die Sandmücke und der Parasit längst auch in Europa.

Wie schnell auf den Erfolg der Rückschlag folgte, war ein Schock – auch, weil Stewart fürchtete, sie könne als Folge der Chemotherapie keine Kinder bekommen. Rückblickend hat sie durch die erfolgreiche dreiwöchige Behandlung gelernt, den Glücksbegriff neu zu bewerten: „Ich finde es bizarr, dass einem eingeredet wird, das Glück sei das Einzige, wonach es sich zu streben lohnt“, sagt die Entdeckerin. „Diese Kluft zwischen Erwartung und Realität macht uns
nur unglücklich.“

Wenn alles nur erfreulich wäre, dann könnte die Lebensreise nicht so reich, charakterbildend und unvergesslich sein, meint Stewart. Und so wurde die Narbe an ihrem Hals zu einer Er­innerung an die wichtigste Lektion, die sie im Dschungel und in Norwegens Wildnis, auf dem Fahrradsattel in Asien und im Krankenbett in London lernte: Das Leben ist schön und zerbrechlich – nimm es an.

Text: Reinhard Keck
Fotos: Greg Funnell, Laura Bingham, Jon Williams, Pip Stewart

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