ABSTURZ UND AUFSTIEG

Von einem Tag auf den anderen stand Ingeborg Ankele auf der Straße. Drei Monate lang kämpfte sie um Sicherheit und Einkommen, bis sie ihre nunmehrige Arbeit beim Unternehmen Shades Tours fand. Heute wäre sie vorbereitet.

Wenn Ingeborg Ankele von ihrer Zeit als Obdachlose erzählt, tut sie das mit einer Sachlichkeit, die man von einer Betroffenen nicht erwarten würde. Ihre „Krise“ liegt eineinhalb Jahre zurück, dennoch wirkt sie ruhig. Als wir sie treffen, lehnt sie in grünem Trägershirt und dunkler Stoffhose an einem Brunnen in der Wiener Innenstadt.

Ankele ist Tourguide bei Shades Tours. Das Unternehmen bietet Führungen an, im Zuge derer Interessierten erklärt wird, was es heißt, obdach- und wohnungslos zu sein. An diesem Septembertag hat sich eine Gruppe von insgesamt 15 Leuten um sie versammelt. Ankele erzählt detailreich von Hintergründen, Gefahren, Alltagsgeschichten und dem österreichischen Sozialsystem. Dass sie jemals obdachlos sein würde, hätte sie selbst nie gedacht, sagt sie.

Bis Februar 2018 lebt Ankele mit ihrem damaligen Freund zusammen – zu diesem Zeitpunkt dauerte die Beziehung bereits zwölf Jahre an. Eines Sonntagabends ist sie dann aber plötzlich zu Ende: Nach einem Streit emotional aufgeladen zieht Ankele aus. Ersparnisse hat sie keine – und ihr Einkommen als Fußpflegerin hat sie in die Renovierung der gemeinsamen Wohnung investiert. „Als die Haustür ins Schloss fiel, ­wusste ich: Jetzt bin ich obdachlos“, erinnert sie sich. Zu Freunden oder der Familie will sie nicht, sie schämt sich zu sehr. Stattdessen macht sich Ankele zur Gruft auf, einer Betreuungseinrichtung für Obdach­lose der Wiener Caritas. Dort bekommt sie ein Bett für die Nacht und Beratung von Sozialarbeitern. Was ­passiert ist, realisiert sie jedoch erst am zweiten Tag. Die folgenden drei Monate verbringt sie in Notschlafstellen und Tageszentren für Hilfsbedürftige. Sie erlebt viele Tiefs und wenige Hochs. Trotz der schwierigen Situation versucht sie, sich zu engagieren, bringt sich bei der Verwaltung der Kleiderspenden in der Gruft sowie der dortigen Essensausgabe ein. Nach drei Monaten ohne Dach über dem Kopf bekommt Ankele ein Bett in einem der 21 Übergangswohnheime in Wien. Doch nun wartet die noch größere He­rausforderung auf sie: Sie muss eine eigene Wohnung finden. Nur mit Sozialhilfe und ohne Job sei das fast unmöglich, so Ingeborg Ankele.

Nach der Trennung von ihrem damaligen Freund zog Ingeborg Ankele (Mitte) aus der gemeinsamen Wohnung aus – mit bösen Konsequenzen. „Als die Haustür ins Schloss fiel, wusste ich: Jetzt bin ich obdachlos.“ Ähnlich wie Ingeborg erging es in Österreich weiteren rund 16.000 Obdachlosen.

Über ihren Bekanntenkreis erfährt sie vom Unternehmen Shades Tours, das Gründerin Perrine ­Schober 2015 ins Leben gerufen hat. Shades Tours bietet Stadtführungen zu den Themen „Armut & Obdachlosigkeit“, „Flucht & Integration“ sowie „Drogen & Sucht“. Das Ziel: Aufklärung anhand persönlicher Geschichten und Fakten. Nach etwas Training und mehreren Anläufen wird Ankele zum Tourguide. Seit einem Jahr führt sie nun monatlich Gruppen durch die Wiener Innenstadt und erklärt, was sie in ihrer Zeit als Obdachlose erlebt hat. Sie ist geringfügig angestellt, verdient knapp über 400 € pro Monat – zusätzlich bekommt sie ­Notstandshilfe. Seit zwei Monaten lebt sie in Wien-­Simmering.

Geldmangel, Unwissenheit

Die Art und Weise, wie Ingeborg Ankele obdachlos wurde, ist kein Einzelfall: Von den 16.000 Obdachlosen, die es laut Schätzungen von Shades Tours und des Fonds Soziales Wien (FSW) in Österreich gibt, sind laut einer repräsentativen Befragung des FSW 32 % auf eine plötzliche Trennung oder Scheidung zurückzuführen. Einzig Arbeitslosigkeit und Geldmangel sind mit 42 % noch weiter verbreitete Gründe für Obdachlosigkeit. 26 % sind zu leichtsinnig mit Geld umgegangen, und bei mehr als je einem Fünftel war die physische oder psychische Gesundheit mit ein Grund. Besonders gefährdet seien dabei Menschen über 50, die keinen neuen Job mehr finden, sowie junge Menschen unter 30, die Schwierigkeiten mit dem Elternhaus oder ihrer Ausbildung haben. Auffallend ist auch das Geschlechterverhältnis: Drei Viertel der Obdachlosen sind laut den Daten von Shades Tours Männer, nur ein Viertel sind Frauen. Dies sei laut ­Ankele darauf zurückzuführen, dass Frauen oft in sogenannter „versteckter Obdachlosigkeit“ leben und damit nicht erfasst würden. Versteckte Obdachlosigkeit heißt, dass die Person zwar nicht gemeldet ist, aber dennoch nicht auf der Straße lebt, sondern in einer Wohnung – nicht selten in Form einer Zweckbeziehung. ­Ankele sei während ihrer Obdachlosigkeit selbst mehrmals von unbekannten Männern angesprochen worden, ob sie für ein Bett in einer Wohnung nicht putzen und kochen würde, erzählt sie.

Dass solche Tatsachen kaum kommuniziert werden, stört Perrine Schober, Gründerin von Shades Tours. „In der Schule waren Armut und Obdachlosigkeit nie ein Thema“, meint sie. „Und dann ist man als erwachsener Mensch plötzlich damit konfrontiert.“ Daher gründete sie im Jahr 2015 ­Shades Tours – das Prinzip der Obdachlosentour kannte sie dabei bereits aus anderen europäischen Städten wie Barcelona oder London. Trotz des klaren Bildungs­auftrags und der sozialen Komponente ist Shades Tours ein ganz normales Unternehmen, dessen Mitarbeiter und Tourguides eine Dienstleistung erbringen. Die Tätigkeit bei Shades Tours soll in erster Linie dabei helfen, zusätzliches Geld anzusparen, um wieder unter ein Dach zu finden. Zu den elf Guides kommen noch drei Büroangestellte in der Administration, einer davon war einst selbst Tourguide.

Fluch und Segen

Vor der Gründung von Shades Tours war Schober bei der Französischen Zentrale für Tourismus in Wien angestellt – und obwohl sie wusste, dass der Schritt in die Selbstständigkeit kein einfacher sein würde, war der Umstieg hart. Schober drehte jeden Cent zweimal um, was so weit ging, dass sie vor jedem Arztbesuch überlegte, ob er nun wirklich notwendig war, denn schließlich kostet er Zeit und Geld (Selbstbehalt).

„Im ersten Jahr stand wirklich nur das Unternehmen im Vordergrund, mich selbst habe ich dabei oft vernachlässigt“, meint sie. Am Ende habe es sich aber ausgezahlt. „Wir schreiben heuer voraussichtlich schwarze Zahlen, und mittlerweile nehme ich mir auch wieder regelmäßig Urlaub.“ Wenn die Nachfrage nach den Touren gleich bleibt, wird Shades Tours dieses Jahr zwischen 100.000 und 150.000 € Umsatz machen – das sei zwar nicht viel, decke aber die Kosten, so Schober. Seit der Gründung vor dreieinhalb Jahren nahmen 30.500 Personen an Shades-Tours-Führungen teil. Ihren Guides bietet Shades Tours vor allem eines: eine Perspektive. Genau daran mangelt es vielen Obdachlosen laut Schober nämlich. Und das bringt sie in eine Abwärtsspirale, aus der sie nur schwer wieder ausbrechen können. „Man muss wirklich sagen: Es gibt Hoffnung, es zahlt sich aus“, so Schober. Damit es gar nicht erst zu einer prekären Situation kommt, sei auch der soziale Rückhalt wichtig: „Ein guter Kontakt zu Familie und Freunden kann viel verhindern. Und am allerwichtigsten ist, mit Sozialarbeitern zu reden.“

Die Erfahrung, dass es ohne ­Hilfe von außen nicht geht, hat auch Ingeborg Ankele gemacht. Nur dank der ­Hilfe von Sozialarbeitern bekam sie ihren Platz im Übergangswohnheim. Und der gab ihr wiederum ein Ziel: eine eigene Wohnung. Ohne eine gewisse Sicherheit sei Sparen in der Obdachlosigkeit unmöglich, meint Ankele. Heute legt sie regelmäßig etwas Geld beiseite; auf eine unerwartete Trennung wäre sie vorbereitet. In Zukunft möchte sie neue Tätigkeiten übernehmen und nicht mehr nur Tourguide sein. Was sie aus den vergangenen zwei Jahren gelernt hat? „Man muss auf das Unerwartete vorbereitet sein.“ Und: „Man darf sich niemals selbst aufgeben – ganz egal, wie schlimm die Situation erscheint.“

Text: David Hanny
Fotos: David Visnjic

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