AUGENÖFFNER

OrCam gilt mit seinen Sehhilfen für Blinde und Sehbehinderte als Pionier im Bereich des künstlichen Sehens. Doch das israelische Start-up will zu einer Entwicklungsplattform für künstliche Intelligenz wachsen.

Omer Elad hebt die „OrCam MyEye 2“ ein Stück in die Höhe, dreht das Gerät an, befestigt es am Bügel seiner Brille und hält ein beschriebenes Blatt Papier vor sein Gesicht. Kurz aktiviert Elad das Gerät am seitlichen Berührungsfeld, tippt mit dem Finger auf den Text, und schon beginnt es diesen über einen Minilautsprecher vorzulesen. An mancher Stelle gibt die OrCam MyEye 2 die englische Sprache zwar etwas unsauber wieder, dennoch verläuft die automatische Texterkennung mittels Kamera überraschend unkompliziert. Elad lächelt. „Es ist sehr leicht, mithilfe des digitalen Geräts Texte zu lesen und dabei zu lernen. Auch Gesichter können erkannt oder Barcodes von Produkten gelesen werden.“ Elad ist Europa-Chef von OrCam, einem israelischen Start-up, das Blinden und stark sehbeeinträchtigten Menschen das (künstliche) Sehen ermöglichen will. Diese können damit in Echtzeit Texte lesen, Gesichter erkennen oder Produkte, Rechnungen, Geldscheine identifizieren.

Mehr als nur eine Sehhilfe

OrCam Technologies bezeichnet sich selbst als Pionier im Bereich des künstlichen Sehens. Seit der Gründung 2010 hat das Jungunternehmen mit Sitz in Jerusalem Zehntausende OrCam-Nutzer in mittlerweile 40 Ländern gewonnen, rund 300 Mitarbeiter arbeiten weltweit an der Weiterentwicklung der auf künstlicher Intelligenz beruhenden Technologie. OrCam MyEye ist weltweit in 23 Sprachen verfügbar. Das Unternehmen sieht sich aber nicht nur als Hilfe für Menschen mit Sehschwäche, um ihnen mehr Autonomie zu ermöglichen, sondern als umfassende KI-Plattform.

„Es ist ein Start-up mit einer herausragenden Technologie, das einem besonderen Zweck dient. Wir entwickeln Produkte für einen sehr speziellen und einzigartigen Markt“, so Elad. Bisher sammelte das Team rund um die Gründer Amnon Shashua (CTO) und Ziv Aviram (CEO) 86,4 Millionen US-$ an Finanzierung ein, 15 Millionen US-$ davon kamen von Intel Capital, der Risikokapital-Sparte des Chipherstellers Intel. Anfang des vergangenen Jahres wurde das Unternehmen erstmals mit einer Milliarde US-$ bewertet, 2017 lagen die Umsätze laut einem Bericht von Reuters bei zehn Millionen US-$; im Jahr 2018 Schätzungen zufolge zwischen 20 und 30 Millionen US-$. Dieses Jahr will OrCam zudem profitabel werden.

Die Gründung des Start-ups war eigentlich so etwas wie Zufall. Denn Aviram und Shashua, Zweiterer als Professor für Informatik an der Hebrew University of Jerusalem, führten bereits ein Unternehmen: Mobileye, das die beiden 1999 gegründet hatten, ist eines der führenden Tech-Unternehmen im Bereich des autonomen Fahrens. 2017 wurde es für 15 Milliarden US-$ an Intel verkauft. Als Shashuas blinde Tante ihn jedoch im Rahmen eines Abendessens fragte, ob er die Technologie nicht auch nutzen könnte, um ihre visuelle Informationsbeschaffung zu verbessern, war der Unternehmergeist von Aviram und Shashua erneut geweckt. Sie gründeten 2010 OrCam und machten sich daran, ihre Erkenntnisse aus der Arbeit mit Mobileye für dieses Problem anzupassen.

Bei der Entwicklung für Blinde und Sehbeeinträchtigte gab es jedoch einige Herausforderungen. Bis 2015 benötigte das Team, um sein erstes Produkt, OrCam MyEye 1, auf den Markt zu bringen (in Israel, USA, Großbritannien, Kanada). Denn das Wearable sollte komplett ohne Internetverbindung funktionieren, damit keine Daten auf dem Gerät gespeichert werden und der Datenschutz gewährleistet ist. „Die Nutzer verwenden das Gerät überall und jeden Tag – und sie wollen nicht, dass ihre Daten irgendwo öffentlich zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus wollen sie nicht von einer 4G- oder WLAN-Verbindung abhängig sein, etwa im Flugzeug“, so Elad. OrCam arbeitet mittels hoch entwickelter OCR-Algorithmen (Optical Character Recognition), die eine automatisierte Text- oder Gesichtserkennung anhand von Bildern ermöglichen. „Die Software ist das Wichtigste. Das ist unser Erfolgsgeheimnis“, sagt Elad.

Zugänglichkeit und Anerkennung als Hürden

Doch OrCam ist längst nicht mehr alleine auf dem Markt. 2017 brachte Microsoft etwa die App „Seeing AI“ für blinde und sehbehinderte Menschen heraus. Damit können kurze Texte, Dokumente und Produkte erkannt und laut vorgelesen sowie Gesichter identifiziert werden. Doch die Lösung hat einige Nachteile: Sie existiert nur in englischer Sprache und exklusiv für iOS; bei der Gesichtserkennung muss das Gerät direkt vor das Gesicht gehalten werden, und einige Einstellungen funktionieren nur mit Internetverbindung. Bei den Nutzerzahlen hat die App aber dennoch die Nase vorne. Laut dem Magazin Fast Forward zählte die Microsoft-App vergangenen Herbst weltweit 150.000 Nutzer.

Somit bleibt OrCams größte Herausforderung, mehr Menschen zu erreichen. Denn die Zehntausenden Nutzer stellen bei dem riesigen Marktpotenzial noch eine geringe Größe dar. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es weltweit rund 1,3 Milliarden Menschen mit einer Art von Sehstörung, viele davon sind über 50 Jahre alt. Rund 80 Prozent aller Sehstörungen gelten zudem als vermeidbar. Die neueste Zielgruppe für OrCam MyEye 2 sind Menschen mit schwerer Legasthenie – laut OrCam drei bis fünf Prozent der Weltbevölkerung – sowie ältere Menschen, die an Lesemüdigkeit leiden.

Elad, der vor drei Jahren zu dem Start-up kam, war zuvor für das Amt des israelischen Premierministers, Benjamin Netanjahu, zuständig. Sein Auftrag bei OrCam: Marktstrukturen im deutschsprachigen Raum – als nächstem Markt nach Israel, den USA, Großbritannien und Kanada – aufbauen und das Produkt entsprechend positionieren. Seit 2016 ist OrCam in Deutschland vertreten. Elad skizziert die dreigliedrige Aufbauphase: Zunächst gilt es, ein gutes Distributionsnetzwerk zu schaffen, überwiegend im Bereich B2B. Die zweite Phase betrifft die Rückerstattung durch die Krankenkassen oder die Förderungen durch öffentliche Einrichtungen beim Kauf einer OrCam und die dritte, das Bewusstsein bei den Menschen zu schaffen. „Auf die dritte Phase konzentrieren wird uns derzeit in Deutschland“, so Elad.

Insbesondere die Anerkennung durch die gesetzlichen Krankenkassen ist für OrCam eine große Hürde. Sie wäre wichtig für den weiteren Ausbau des Kundenstamms, denn wenn potentielle Kunden wissen, dass das Geld (teilweise) rückerstattet wird, fällt eine Kaufentscheidung natürlich leichter. Die OrCam MyEye 2 kostet in der deutschsprachigen Region derzeit 4.500 €.

Foto: Omer Elad, Europa-Chef von OrCam, hält die "OrCam My Eye 2" in der Hand

Omer Elad
ist seit drei Jahren Central Europe Regional Director von OrCam. Das israelische Start-up entwickelt und vertreibt tragbare Sehhilfen für Blinde und stark Sehbeeinträchtigte, die mittels künstlicher Intelligenz funktionieren. OrCam hat weltweit 300 Mitarbeiter.

In den bereits bestehenden Märkten hat OrCam schon erste Erfolge erzielt: In Deutschland steht die OrCam My Eye 2 bereits auf der Liste der Hilfsmittel der Krankenkassen, in der Schweiz wird OrCam MyEye teilweise von der Sozialversicherung subventioniert. In Österreich hingegen decken die Krankenkassen – wenn überhaupt – nur einen Bruchteil für die OrCam MyEye ab. Die Fördersituation sei insgesamt sehr zersplittert, und etwa im Vergleich zu Deutschland erhalte ein OrCam-Nutzer hierzulande wesentlich schwieriger eine Förderung, heißt es vom Unternehmen. In Frankreich wiederum erhalten Menschen, die eine OrCam für ihren beruflichen Alltag benötigen, die volle Finanzierung. Doch da die meisten Blinden oder stark Sehbeeinträchtigten nicht im Berufsleben stehen, ist die Rückerstattung für den privaten Bereich weitaus wichtiger.

Mehr Produkte, mehr Wachstum?

Doch nicht nur das könnte das Wachstum des Start-ups gefährden. Vor allem die Weiterentwicklung der Technik wird essenziell für den weiteren Erfolg. Dabei hat OrCam laut Gründer Aviram sogar mehr Potenzial als sein erstes Start-up, Mobileye – immerhin der größte Exit Israels aller Zeiten. Auch Elad ist davon überzeugt: „Wir wollen ein weltweit führendes Unternehmen im Bereich von KI sein. Deshalb werden wir auch andere Produkte entwickeln, die alle Menschen im alltäglichen Leben unterstützen – mehr noch im sozialen und gesundheitlichen Bereich. Wir sehen uns als KI-Innnovationszentrum.“ Mit OrCam MyEye soll in naher Zukunft auch die unmittelbare Umgebung erkannt werden, etwa Türen, Fenster oder Stufen, sowie auch handschriftliche Texte. Die nächste Generation soll zudem mittels Spracheingabe auch Dokumente wie Rechnungen identifizieren und das Bezahlen derselben ermöglichen. Zudem wird eine Lösung für Menschen mit Hörproblemen entwickelt.

Seit Kurzem ist auch ein neues Produkt, die limitierte „OrCam MyMe“, um lediglich 199 US-$ erhältlich. Damit bewegt sich das Start-up in Richtung eines „Social Device“. „OrCam MyMe“ richtet sich nicht nur an Sehbeeinträchtigte. Das Gerät erkennt das Gesicht des Gegenübers in Echtzeit und informiert, um wen es sich handelt – und zwar, indem es eine Benachrichtigung an das verbundene Smartphone oder die Smartwatch sendet. Menschen können sodann Gruppen wie „Arbeit“, „Familie“ oder „Freunde“ zugewiesen werden. So sollen diese beim nächsten Treffen wiedererkannt werden – und Aufschluss darüber geben, wann, wo und wie lange man diese gesehen hat. Das Tool ist nur mittels Bluetooth-Verbindung mit der App nutzbar. Rückt OrCam damit nicht von seinem ursprünglichen Grundsatz ab, völlig offline agieren zu wollen? „Jemandem, der das Gerät benötigt – egal ob Geschäftsmann oder sozial engagierte Person –, ist es egal, ob das Gerät mit Internetverbindung funktioniert. Die gesammelten Daten sind persönliche Daten und verbleiben die eigenen. Sie werden nicht an OrCam gesendet“, so Elad. Bisher hat die Kickstarter-Kampagne 877 Unterstützer, die 185.000 US-$ investiert haben.

Der umfassende Ansatz von OrCam spiegelt sich auch in den Expansionsplänen wider. „OrCam MyEye 2“ soll Ende des Frühjahrs in China auf den Markt kommen. Die Entwicklung der Texterkennung in Mandarin und einem vereinfachten Chinesisch sei zunächst einmal sehr schwierig gewesen, so Elad. Und auch die Regularien bieten einige Hürden. „China hat seine eigenen Vorschriften. Wenn man ein CE-Zeichen in Europa oder ein FDA-Zeichen in den USA verwendet, so muss man in China immer noch andere, spezifische Vorgaben erfüllen. Zudem muss man dort auch ein eigenes Unternehmen haben“, sagt Elad. OrCam errichtet dazu aktuell einen Standort in Shanghai – den fünften nach Jerusalem, London, New York und Köln. Die Tech-Mitarbeiter sitzen alle in Jerusalem, an den anderen Standorten erfolgen Vertrieb und Marketing.

Mit diesem Ziel vor Augen wird OrCam auch weiterhin einiges an Kapital benötigen. Laut Medienberichten war für Ende 2018 ein Börsengang angedacht; vor einem Jahr sagte Aviram dann, dass man weitere 100 Millionen US-$ einsammeln wolle, bevor man an die Börse geht. Die Bewertung soll zu diesem Zeitpunkt zwischen 1,5 und zwei Milliarden US-$ betragen haben. Seitdem floss jedoch kein weiteres Geld mehr. „Ich weiß nicht, wann die Gründer dies (den Börsengang, Anm.) verlautbaren werden, schließlich verfügen wir auf absehbare Zeit über ausreichend Kapital. Vielmehr ist das Ziel nicht ein Börsengang, sondern eine einzigartige Technologie zu entwickeln“, sagt Elad.

Ob OrCam tatsächlich einmal größer wird als Mobileye, wird vor allem davon abhängen, womit das Start-up assoziiert wird: als nützliche Hilfe für sehbeeinträchtigte Menschen – oder doch als globales KI-Innovationszentrum.

Text: Niklas Hintermayer
Fotos: Gianmaria Gava

Dieser Artikel ist in unserer März-Ausgabe 2019 „KI“ erschienen.

,
Redakteur

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.