Augenzeugin der Weltgeschichte

Die legendäre TV-Reporterin Antonia Rados berichtete 40 Jahre lang aus Kriegsgebieten. Im Gespräch mit der deutschen Aufsichtsrätin Janina Kugel und Forbes DA spricht die Österreicherin über feministische Außenpolitik, faszinierende Macho-Diktatoren und darüber, warum sie sich nun aus der Medienwelt verabschiedet.

Forbes (F): Frau Rados, in der Lounge hier im Hotel Bristol lesen Sie am Wochenende gerne Zeitung. Welche Schlagzeile hat Sie zuletzt am meisten berührt?
Antonia Rados: Schlagzeilen ver­ursachen bei mir selten Emotionen. Brennend interessiert hat mich allerdings ein Interview mit Elon Musk in der Financial Times. Musk hatte der Ukraine nach dem russischen Angriff dank seiner Starlink-Satelliten Internetzugang verschafft. Das zeigt, wie wichtig und umfassend die Digitalisierung ist, auch in Kriegsgebieten. Doch inzwischen sagen die Ukrainer, dass der Dienst vor allem an der Front oft nicht mehr funktioniert.

F: Musk ist ein Mann, der pola­risiert. Was halten Sie von ihm?
Ich habe keine feste Meinung zu Musk, wobei ich manche seiner politischen Äußerungen wirr finde, er leidet offenbar an Größenwahn. Als Journalistin fühlte ich mich bei jedem Ereignis, jeder Person, als Beobachterin; umso mehr, weil es eine inflationäre Meinungsbildung gibt. Die beruht oft auf wenig Wissen und, nicht nur bei Musk, auf Wichtigtuerei. Aber ich würde gerne an Musks Raumfahrtprogramm teilnehmen – nur müsste ich dafür wohl 30 Jahre jünger sein.

Janina Kugel (JK): Das Stichwort Größenwahn finde ich spannend. Man trifft diese Menschen ja in allen Branchen: Leute, die in der Öffentlichkeit das eine sagen, um sich dann kurze Zeit später selbst zu widersprechen – ohne dass es ihnen peinlich wäre. Erinnert Sie ein Musk allein vom Typus her an manch einen Autokraten, dem Sie als Reporterin begegnet sind?
Da gibt es sehr deutliche Parallelen. In der Öffentlichkeit hat man ohne­hin dieses Bild etwa des türkischen Präsidenten Erdogan, des ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad oder eines Diktators, wie es Gaddafi war; doch sitzt man ihnen gegenüber, erkennt man die Grautöne, die jede Persönlichkeit ausmachen. Ich bin manchen dieser Männer mit einer Mischung aus anfänglichem Misstrauen und aufkommender Neugierde begegnet. Potz, Teufel, dachte ich mit Schaudern, der ist hochintelligent! Das übt zugleich eben Faszination aus – und bei Musk ist es wohl ähnlich.

JK: Wie haben Sie sich auf diese Gespräche vorbereitet?
Nicht besonders. Ich sprach mit Menschen im Umfeld dieser Leute. Manchmal versteht man Politik und zudem Diktatoren nur über Um­wege. Einmal lernte ich Gaddafis Schönheitschirurgen kennen – einen Österreicher, der ständig nach Libyen fuhr, um den Diktator zu operieren. Gaddafi habe ihm gesagt, meinte der Arzt, er müsse jünger aussehen, weil er ein junges Volk habe. Ein Herrscher, der verzweifelt versucht, sich zu verjüngen, um seinem Volk zu ähneln – darin erkannte ich eine politische Botschaft. Gaddafi glaubte, wie andere Herrscher, Macht mache ihn un­sterblich. Dabei war es offensichtlich, als ich ihn 2011 interviewte, kurz vor seinem Sturz: Er war ein alter, schlecht operierter Greis.

F: Was dachten Sie, als das Foto von seinem Leichnam um die Welt ging?
Eine Spur Erbarmen war da. Ein Mensch war gewalttätig gestorben. Doch es hielt sich in Grenzen. Zum Zeitpunkt seines Todes war ich gerade in Libyen, um eine Re­cherche über libysche Frauen zu realisieren, die er belästigt und oft vergewaltigt hatte. Leute wie ihn hätten diese Frauen und andere gerne vor einem Gericht gesehen. Dies wurde dem libyschen Volk und der Welt durch seinen Tod verwehrt.

JK: Sie haben 40 Jahre lang aus Krisengebieten berichtet, neben Libyen vor allem aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Finden Sie, dass im Beruf mit dem Alter manches besser oder einfacher geworden ist – einerseits, was die Erfahrung angeht, aber auch, wie man von Kollegen und in der Öffentlichkeit wahr­genommen wird?
Leider wird nichts einfacher. Und das ist andererseits gut so, denn so wird man immer gefordert und lernt dazu. Ich habe und wollte mich nie auf alte Erfahrungen verlassen; das geht ohnehin nicht, weil sich die Welt und ihre Krisen ständig verändern.

JK: Ich finde es spannend, was Sie von Ihren Interviews mit diesen Machtmenschen erzählen. Da fallen mir Parallelen zu den Verhandlungen in der Wirtschaft ein. Instinktiv überlegt man stets: Womit bekomme ich die Gegenseite? Wie fühlt sich die andere Seite gebauchpinselt? Was muss ich tun, um von ihm oder ihr zu bekommen, was ich wirklich will?
Es gibt einen englischen Journa­listenspruch: Seduce and betray. Verführe zuerst, und dann kannst du die richtig harten Fragen stellen. Aber als Journalist sollte man beim Verführen oder Bauchpinseln aufpassen. Man sollte seine Macht nicht aufgeben und sich nicht unterwerfen, denn das bringt nichts, egal wo. Selbst bei Islamisten, die westliche Frauen nicht mögen, habe ich versucht, mich zu behaupten. „Wissen Sie“, sagte ich denen, „ich bin eine westliche Frau, meine Welt sieht anders aus. Jetzt erzählt mir eure Vorstellungen.“ So etwas geht nicht immer, aber sich klar zu bekennen erleichtert es, auf Augen­höhe zu reden.

JK: Darum hat die CNN-Journalistin Christiane Amanpour ein Interview mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi am Rande der UN-Hauptversammlung in New York abgesagt, weil sie nicht bereit war, ein Kopftuch zu tragen. Richtige Entscheidung?
Vollkommen richtig, das Interview unter diesen Bedingungen nicht zu machen. Kopftuch ist im Iran für alle Frauen Pflicht, bei der UN gelten aber andere Regeln.

JK: Ich glaube, diese Freiheit und das Selbstbewusstsein, Nein zu sagen, das hat nichts mit dem Beruf zu tun, sondern mit der Person. War schon die 20-jährige Antonia Rados frei im Kopf?
In Momenten der Erschöpfung nicht immer. Aber Freiheiten sind kein Dauerzustand, dafür muss man kämpfen. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht – und andere Frauen erleben das im Job sicher genauso –, dass ich manchmal zu viel gekämpft habe. Dies ändert sich mit den Jahren; man merkt, welche Kämpfe sich nicht lohnen. Trotzdem nochmals: Man lernt nie aus, zumindest nicht als Frau.

F: Wer aus Krisengebieten berichtet, den beschäftigt mitunter auch die Frage: Werde ich diesem riesigen Thema und der Wucht an Ereignissen mit meiner Arbeit gerecht? Kennen Sie das?
Sicherlich, gewisse Selbstzweifel waren immer da, gerade wenn es, wie in Konflikten üblich, um ständige Propaganda von allen Seiten geht. Heute nennt man das vornehm „psychologische Kriegs­führung“ – aber egal, unter welchem Namen das läuft, das Ziel ist, uns ­Reporter vor Ort zu beeinflussen, und sei es mit Szenen, denen man sich einfach emotional nicht entziehen kann. Nur ein Beispiel: 2003, am Höhepunkt des Irakkriegs, über den ich in Bagdad berichtete, brachte mich mein damaliger Übersetzer zu einem schwer verletzten Mädchen ins Krankenhaus. Sie hatte Verbrennungen. Es hieß, sie sei Opfer eines amerikanischen Bombardements geworden. Die Geschichte kam mir etwas seltsam vor – ihre Mutter war unverletzt. Ich hätte meinen Instinkten folgen sollen, denn nach der eigentlichen Invasion der USA gab mein Übersetzer zu, das Kind sei durch heißes Öl in der Küche verletzt worden. Es war kein Opfer, wie er gesagt hatte, eines amerikanischen Bombenangriffs. Damals und bei anderen Gelegenheiten hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich bin jedoch realistisch: Die perfekte Reporterin muss noch geboren werden.

Lounge und Lektüre: Antonia Rados im Hotel Bristol, wo sie am Wochenende gerne Zeitung liest.

JK: Klassische Medien stehen inzwischen in Konkurrenz zu sozialen Medien. Im Zeitalter der visuellen Kommunikation entscheidet auch die Timeline, anhand welcher Bilder wir unsere Wirklichkeit erleben. Es sind oft Bilder, die Wut und Mitleid provozieren – deren Authentizität aber nicht garantiert ist.
So ist es. Es gab noch nie so viele Bilder, die nicht von Journalisten kamen. Das war im Zweiten Weltkrieg, in den Afghanistankriegen und den Irakkriegen anders. Daran sind Journalisten und Medien heute nicht ganz unschuldig – weil sie sich genauso an den sozialen Medien und ihrem fast endlosen Material bedienen. Videos aus diesem und jenem Ort sind ohnehin genug da – warum sein Leben riskieren und an die gefährliche Front gehen? Die Versuchung im Journalismus ist sehr groß, sich von der Reportage vor Ort zu verabschieden. Ich verstehe das andererseits, aber gute Informationen waren immer Schwerstarbeit. Was so leicht daherkommt wie Twitter und Co, sind weder News noch sonst etwas, vielmehr leere Hülsen und Propaganda – nur werden sie selten so beschrieben.

JK: Was würden Sie jungen Menschen raten, die nur diese Informationsquellen nutzen?
Ich kann nicht viel raten, außer dass die Geschichte immer Gegenbewegungen kannte, sonst würden wir alle längst für immer in Diktaturen oder Großreichen leben. Selbst Twitter hat, glaube ich, ein Ablaufdatum. Und Elon Musk genauso.

JK: Henry Kissinger erklärte ja neulich in Davos, es müsse einen Ausweg für Putin geben. Man kennt das ja auch in vergleichs­weise banalen Verhandlungen in der Wirtschaft: Auch da ist die Frage: Wie kann ich sicherstellen, dass jemand nicht das Gesicht verliert, dass eine Seite nicht zu weit in die Enge getrieben ist und dann noch härter zuschlägt? Manche scheinen das zu vergessen, egal um welche Art von Verhandlung es geht …
Das sind die Regeln von Verhandlungen nach Kriegen. Beide Seiten müssen etwas davon haben, sich an den Tisch zu setzen. Die Phase der Euphorie – und der Glauben, der Krieg wird schnell enden – ist überall bald vorbei. Dann sprechen nur die Waffen. Wobei ich noch nie eine Armee erlebt habe, die nicht darüber redete, sie könne jeden Krieg gewinnen. Militärs reden immer so. Keiner von denen gibt eine Niederlage zu, auch wenn sie längst verloren haben. Es gilt der Spruch eines amerikanischen Senators aus den 60er-Jahren: Declare victory and leave! Erkläre dich zum Sieger und ziehe ab – danach die Sintflut! Oder die Taliban, wie in Afghanistan heute. Aber zwischenzeitlich werden Militärs zweitrangig. Sie entscheiden zum Glück nicht alleine; die Politiker müssen ran. In der Ukraine sind wir in einer Phase, wo das eine das andere nicht ausschließt. Der Westen muss die Ukraine bewaffnen, damit sie später aus einer Position der Stärke verhandeln kann. Um auf ihre Frage zurückzukommen. Ja, Wladimir Putin darf nicht ganz das Gesicht verlieren, aber dies gilt genauso für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der darf nicht – und damit der ganze Westen – erniedrigt werden und am Ende der ärmliche Bittsteller Putins sein, der die Ukraine ja überfallen hat.

F: Was denken Sie, wie könnte eine Lösung in der Ukraine aussehen?
Es gibt nie eine rein militärische Lösung allein, denn sonst würden, wie schon gesagt, bis an die Zähne bewaffnete Weltreiche allein und für immer regieren. Aber Zukunfts­aussagen über die Ukraine treffen? Im Nahen Osten gibt es das Sprichwort: Erfahrene Propheten warten die Ereignisse ab.

JK: Sie erwähnen den Nahen Osten. Wie wichtig ist es, auf Augenhöhe zu verhandeln? Ich habe das Gefühl, dass sich der Westen gerade in dieser Region als etwas Besseres aufspielt und dabei über Tausende Jahre gewachsene Kulturen und His­torien ausblendet. Da gibt es manchmal keine Bereitschaft, gleichberechtigt zu diskutieren. Wie sehen Sie das?
Nehmen wir als Beispiel den Iran, wo ich seit dem Jahr 1981 Reportagen um­setze; das ist ein hochinte­ressantes und kompliziertes Land. In diesem Staat gibt es viel auszu­setzen, da hapert es an den Menschenrechten, wie wir jetzt bei den Protesten merken. Will aber die Mehrheit der Iraner und Iranerinnen so leben wie wir im Westen? Ich bezweifle das nach meinen langen Erfahrungen. Es ist eine eigenständige Kultur. Sie ist fest im Land ver­ankert, aber das heißt nicht, dass
die ­Iraner und Iranerinnen nicht Menschen sind, die sich nach Freiheit sehnen. Insofern sind sie nicht anders als wir. Also sind sie gleichberechtigt. Darüber hinaus hat der Westen, nicht nur im Iran, lange seine eigenen Interessen vertreten und die Menschenrechte – im Iran etwa in der Schah-Zeit oder im Jahr 1953 beim Sturz des Minister­präsidenten Mossadegh, organisiert von den Briten und Amerikanern – gravierend miss­achtet. Ich berichte nicht aus Ländern wie dem Iran, um den Westen anzuklagen oder zu verteidigen. Es geht stets um die Grautöne. Das ist ein anderes Wort für die Komplexität der Wirklichkeit. Daher kann dem ein Medium wie Twitter mit seinen maximal 280 Zeichen nicht gerecht werden.

JK: Sollten wir mehr femi­nistische Außenpolitik haben? Dieser Begriff tauchte ja schon im Jahr 2014 in Schweden auf,
die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verwendet ihn jetzt wieder.
Es ist gut, Frauen in Indien, in Af­ghanistan oder im Iran mehr ein­zu­beziehen, weil sie bislang sprachlos waren – und übrigens genauso bei uns. Völlig klar, dass man sie stärken muss. Um das zu wollen, muss man keine Feministin sein. Aber was ist feministische Außenpolitik? Im Zweifelsfall muss es doch eine Art Friedenspolitik sein, oder? „Frau allein zu sein“ genügt nicht, wenn wir uns die News ansehen; man denke an Giorgia Meloni in Italien oder an die inzwischen zurückgetretene Liz Truss in Großbritannien. Das sind Frauen, aber vom Einbeziehen anderer ist keine Rede, sondern von geschlechtlicher Apartheid; oder genauer, von einem Frauenbild aus dem vergangenen Jahrhundert. Und von Friedens­politik sind viele heute weit entfernt.

JK: Ich denke, man muss den Begriff weiter fassen, es geht um eine erweiterte Perspektive. Lange hatte man bei Friedens­verhandlungen keine Frauen mit am Tisch sitzen, erst spät wurden Verbrechen wie Vergewaltigungen oder Gewalt gegen Frauen als strategische Kriegswaffen anerkannt. Natürlich sind Frauen nicht die besseren Menschen, aber sie stellen die Hälfte der Bevölkerung. Und sie leisten immer noch den Löwen­anteil bei der Betreuung von Kindern oder älteren Menschen. Dass man versucht, deren Sicht mitzudenken, darum geht es bei diesem Begriff …
Das wäre dann eine „inklusive Außenpolitik“. Das könnte ich voll unterschreiben. Ich betreibe im Moment eine Art „inklusive Initia­tive“ für Frauen in Afghanistan – aber mit anderen Vorzeichen: Ande­re und ich unter­stützen dort nicht nur junge Frauen, denen wir online eine Ausbildung ermöglichen wol­len, sondern beinahe notgedrungen deren Familien, inklusive der Väter und Brüder. Es gehen dabei je nach Frau etwa 30 Euro an die Familie, nicht mehr. Ich will keinen Konflikt schüren, sondern das Umfeld und damit die Frauen gegen die Taliban stärken. Das Prinzip muss eben sein: Die Afghanen und Afghaninnen sind nicht unsere Feinde, sondern die radikalen Taliban.

JK: Männer sichern ja auch ihre Macht, solange Frauen außen vor sind.
Natürlich. Das ist in jeder Firma und in jedem Medienunternehmen so. Früher bekam die Korrespondenz in Paris oder New York eher ein Mann, mit der einfachen Begründung: Der muss eine Familie ernähren, des­wegen muss er den Job kriegen. Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich muss mir auch hier immer alle Seiten anhören – die Grautöne zu suchen ist bei mir inzwischen bei­nahe zwanghaft.

JK: Tun Sie das eigentlich auch bei Konflikten im Privaten?
Natürlich nicht! (lacht)

F: Sie haben für Ihren Job immer Ihr Leben riskiert. Wie oft hatten Sie Todesangst?
Todesangst nie, viel Angst sehr oft, Leid und Dramen ständig. Ich kann nicht behaupten, in der Gefahr selbst stets cool geblieben zu sein. Es war nicht so, war andererseits oft am Rande des Erträglichen, etwa während einer Reportage über die Piraten in Somalia: Ich hatte lange geglaubt, das kriegen wir hin. Das Chaos, die Seeräuber, die Bedrohungen, die Alltagsgewalt; auch den Hunger. Doch am Ende saß ich mit meinem Kameramann in einem Provinzhotel fest, bewacht von sogenannten Leibwächtern, die den Namen nicht verdienten, gejagt von islamischen Milizen, die zu unserer Entführung aufgerufen hatten; un­fähig, das Hotel nur zu verlassen. Die kleine Gruppe hielt zusammen, doch nachts in meinem Zimmer kam mir ein Gedanke, den ich sonst noch nie hatte: Da wünschte ich mir, eine Waffe zu haben. Falls die Tür aufginge und die Entführer kämen, wollte ich nicht wie ein Opferlamm abgeführt werden. Ich erschrak über mich selbst. Meine Erfahrungen waren übrigens nutzlos – zumindest aber legte ich die Hände nicht in den Schoß und organisierte ein Kleinflugzeug. Als es uns dann über die Grenze nach Kenia flog, war plötzlich alles wieder weit weg. Alle schliefen erschöpft ein. Übrigens sage ich oft, und nicht nur scherzhaft: In Krisen muss man durch­starten, nur nicht gelähmt sein.

JK: Es gibt eine Theorie in der Soziologie: Wenn es besonders schwierig wird, machen die etablierten Kräfte gern einen Rückzieher. Dann bekommen die Underdogs ihre Chance – oft auch Frauen.
Genauso war es am Anfang meiner Berufszeit. Das war im ORF. Ein Kollege sollte eigentlich nach Afghanistan fahren. Offenbar wollte er nicht so richtig, denn er sagte auf dem Gang zu mir: „Ich habe einen Zahnarzttermin. Kannst du nicht an meiner Stelle nach Afghanistan fahren?“ „Natürlich!“, erwiderte ich. Ich sah es als eine willkommene Chance, aus dem Trott des Büros ­herauszukommen – ohne zu wissen, was mir bevorstand. Daraus wurde ein langer Afghanistan-Einsatz. Und viele Einsätze anderswo. Und das wegen eines Zahnarzttermins!

F: Dieses Jahr haben Sie ­aufgehört. Vermissen Sie die Ein­sätze an der Front?
Die kurze Antwort lautet: keine einzige Sekunde. Die längere Antwort heißt: Ich wollte nie bis hundert arbeiten oder so lange, bis die Leute sagen: „Ist die immer noch da?“ Außerdem: Ich hadere nicht mit dem Bisherigen. Ich bin – so ungewöhnlich das jetzt klingen mag – über fast jede Reportage dankbar. Vielleicht ist das typisch Frau, dankbar zu sein für unglaublich viele Anstren­gungen. Augenzeugin der Welt­geschichte in vier Jahrzehnten zu sein, Augenzeugin von langen Krisen und Kriegen und zugleich Jugendrevolten und Rufen nach Freiheit war ein Privileg. In meine Zeit fiel zudem die Digitalisierung. Vieles davon, wie das Satellitentelefon, wurde ohnehin für den Krieg erfunden. Die schnelle Kommunikation, die Live-Berichterstattung, das alles zwingt einen regelrecht dazu, nahe zu sein. Ich versuchte das immer. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Ich bin eine Art Perfektionistin: Wenn ich etwas mache, dann mache ich es gut. Dass Perfektionismus in Kriegsgebieten tödlich enden kann, ist mir klar. Das gibt es nichts zu beschönigen.

F: Sie waren im Frühjahr noch einmal in der Ukraine – es war Ihr letzter Einsatz.
Ja, aber ich fand eine Lage für die Reporter vor, die es mir leichter machte, aufzuhören. Überall waren Sicherheitsberater für Reporter im Einsatz. Sie entscheiden, was zu tun ist, wohin man darf und wohin nicht. Risiko wurde so aus Ver­sicherungsgründen minimalisiert. Und die Bilderflut im Internet trug dazu bei, man musste nicht hinaus. Mein Sicherheitsberater war be­sessen von dem Thema. Sicherheit! Nicht an die ukrainisch-russische Grenze fahren, weil da gibt es, falls was geschieht, kein Krankenhaus in der Nähe! Als ich ihm bei seinen Erklärungen, was ich nicht tun darf, zuhörte, dachte ich: So funktioniert Journalismus nicht. Ich muss überall hin. Ich gebe zu, meine kaputten Bandscheiben spielten bei der Entscheidung, aufzuhören, ebenfalls eine Rolle. Wer mit einer kugelsicheren Weste nicht mehr rennen kann, soll daheimbleiben. Das mache ich jetzt.

JK: Gibt es einen Ort, an dem Sie am glücklichsten sind?
Das ist bei mir immer der Ort, an dem ich gerade bin.

Antonia Rados, 69, stammt aus Klagenfurt und berichtete für den ORF, den WDR und mehr als 25 Jahre für RTL aus Krisengebieten, darunter Irak, Syrien, Somalia, Iran und Afghanistan. Sie gilt als bekannteste Kriegs­berichterstatterin im deutschsprachigen Raum, ihre Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet.

F: Was ist Ihr Rat für die junge Generation der Journalistinnen?
Ich habe keinen. Ich finde nichts unerträglicher als Journalisten in der Pension, die sich so überaus wichtig nehmen, dass sie als wandelnde Ezzesgeber herum­laufen. Darum wird dieses Gespräch mein letztes großes Interview sein. Ich hoffe, ich habe mit meinen Reportagen alles gesagt.

Text: Reinhard Keck, Janina Kugel
Fotos: Peter Rigaud

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