Aus dem Staub

Vor Jahrzehnten galt es als das Statussymbol schlechthin: das Auto. Heute setzen Großstädte weltweit auf Alternativen, um den Autoverkehr zu..

Vor Jahrzehnten galt es als das Statussymbol schlechthin: das Auto. Heute setzen Großstädte weltweit auf Alternativen, um den Autoverkehr zu reduzieren. Eine gänzlich autofreie Stadt scheint zwar nach wie vor Utopie zu sein – einzelne Pläne dafür gibt es aber bereits.

Braune Holzgondeln ­ziehen die Kanäle am Wasser entlang, vorbei an bunten Hausfassaden, immer leicht hin und her wippend. Dazwischen schummeln sich vereinzelt Motorboote, auf den Plätzen suchen Fußgänger ihren Weg von A nach B. Hektisches städtisches Treiben mitsamt auftosenden Motorengeräuschen und sich verdichtenden Abgasen? Fehlanzeige. Klingt aufs Erste utopisch – in der Lagune Venedigs ist das Szenario jedoch bereits seit Jahrhunderten Realität. ­Autofans haben hier keine Chance, der Stadtteil rund um die Inselgruppen ist völlig autofrei. Wer es dennoch nicht lassen kann, muss sein Fahrzeug am Festland in Mestre parken oder spätestens im Parkhaus an der westlichen Piazzale Roma abstellen. Von dort muss man zu Fuß oder mit dem Boot weiter. Selbst das Auto als Anbindungsform gibt es erst weniger als 100 Jahre. „Die Autobrücke Ponte della Libertà („Brücke der Freiheit“, Anm.) in das historische Zentrum Venedigs wurde 1933 eingeweiht.

Sie wurde vom italienischen ­Architekten Eugenio Miozzi entworfen. Davor konnte man nur mit dem Schiff anreisen – oder ab 1846 mit dem Zug (Inselbahnhof Santa Lucia, Anm.)“, erklärt der italienische Architekt und Stadtplaner Clemens Kusch, der in Venedig tätig ist. Der klare Vorteil der Autofreiheit sei eine geringere Luftverschmutzung. Die flexiblen Transportwege übers Wasser von Rettung, Feuerwehr, Polizei und Müllabfuhr seien historisch gewachsen.

Wir hatten 10.000 Jahre Erfahrung mit autofreien Städten. Durch Autos gehen Städte zugrunde.

Das Auto steht in Venedig am Abstellgleis, was natürlich vor allem an den Gegebenheiten liegt: Von den 414 km2 Gesamtfläche sind mit 257,7 km2 fast zwei Drittel der Stadt Wasserfläche. Damit steht Venedig nicht alleine da: Auf der ­Hochseeinsel Helgoland (Schleswig-Holstein) sowie einem Großteil der deutschen ostfriesischen Inseln sind ­Privatautos verboten – auf Letzteren ­regieren Fahrräder, Elektrowagen und Pferdefuhrwerke.

Am Festland gehört das Auto weltweit nach wie vor zum gewohnten Stadtbild. Komplett autofreie Städte gibt es so gut wie keine. Die wohl größte solche Region ist Fès al Bali, der älteste Teil der Stadt Fès im Norden Marokkos: Nach Reiseberichten kommen die rund 156.000 Einwohner fast gänzlich ohne Autos und Lastwagen aus, die engen Straßen machen selbst das Radfahren schwer. Funktionieren soll es trotzdem. In Europa wurde das Konzept bisher nur in vereinzelten Siedlungen umgesetzt – sie setzen auf Grünflächen und verkehrsberuhigte Zonen. Im Quartier Vauban (südlich von Freiburg im Breisgau) müssen die Bewohner einen Parkplatz am Stadtrand kaufen, falls sie ihr Auto nutzen wollen. In der Nordmannsiedlung in ­Wien-Floridsdorf teilt man sich unter den 250 Wohnungen nur ein Car-Sharing-­Auto, ansonsten existieren nur Fahrräder.

Es ist ein globaler Trend weg vom klassischen Autoverkehr zu beobachten. Der motorisierte Individualverkehr als Ursache von umweltschädlicher Schadstoffbelastung, Lärmbelästigung und Zerstückelung des Lebensraumes hat längst Einzug ins politische und gesellschaftliche Bewusstsein gehalten. In ­Großstädten wird die Mobilität der Zukunft in alternativen Kraftstoffen – vor allem E-Mobilität –, Car-Sharing-Systemen und dem Ausbau des Fahrrad- und öffentlichen Verkehrsnetzes ­gesehen. Gleichzeitig gibt es Instrumente, das Abstellen auf Parkplätzen zu verringern – etwa durch Gebühren oder eine Änderung der Bauordnung –, um das Autofahren unattraktiv zu machen.

Ein Überblick dazu: In London herrscht seit 2003 eine Citymaut („Congestion Charge“) für Kernzonen in der Innenstadt, Oslo will das Stadtzentrum bis 2019 für Privat­autos gänzlich sperren. Paris, Madrid und Mexiko-Stadt arbeiten an einem Verbot für Dieselautos. In Kopenhagen sind die Fahrradfahrer die Könige der Straße, genauso wie in Amsterdam, wo hohe Parkgebühren für das Abstellen von Autos im Zentrum anfallen. „In Paris hat man die Seine-Uferstraßen zu Fußgängerzonen gemacht. An den Wochenenden begrenzt man teilweise den Lieferverkehr. Aber man könnte noch mehr machen“, erzählt Architekt Kusch. Nachsatz: „Für die Städte wird es in Zukunft unverzichtbar sein, noch mehr auf Alternativen zu setzen: Fahrräder, E-Autos, Ausbau des öffentlichen Netzes.“ Auch in China will man dem Chaos verstopfter Verkehrs­adern und Staus entgegenwirken.

Nahe der Megastadt Chengdu soll eine eigene Ökostadt entstehen – mit niedrigem Energiebedarf und geringen CO2-Emissionen. 80.000 Einwohner sollen auf 1,3 km2 in „Great City“ Platz finden, motorisierter Individualverkehr überflüssig werden. Denn das Stadtzentrum soll von überall aus in zehn Minuten erreichbar sein. ­Ambitionierte Pläne, die das Architekturbüro Adrian Smith + Gordon Gill Architecture aus Chicago da ­vorlegen. Bitter nötig hätte es die Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole Chengdu allemal: Rund zwei Millionen Autos soll es laut „China Observer“ dort geben. Insgesamt lautet die Parole – vor allem unter den Jungen – also: Auto gut und schön, doch nicht um jeden Preis. Statussymbol sind andere Dinge.

Entwicklungen, die eigentlich einen Zirkelschluss bedeuten, möchte man meinen. Das, da laut Statista der weltweite Bestand an regis­trierten Kraftfahrzeugen von 2010 bis 2014 um fast 200 Millionen auf 1,236 Milliarden anstieg. In Europa führt Russland die Liste mit mehr als 50 Millionen Autos vor Deutschland (47,6 Millionen) an. Doch das verkehrstechnische und infrastrukturelle Bewusstsein ändert sich: „Früher hat man gedacht, dass das Privatauto die Mobilität steigert. Als etwa Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg komplett zerstört war, hat man eine mehrspurige Straße in der Stadt gebaut. Bis Ende der 1980er-Jahre ging es darum, den Autoverkehr zu ­fördern, also Straßen und Autoparkplätze zu bauen. Diese Tendenz ist vorbei“, erklärt Architekt ­Kusch. Eine Tendenz zwar – die aber sicherlich noch Zeit braucht. Allein in Österreich etwa ist laut dem Umweltbundesamt das Autobahn- und Schnellstraßennetz zwischen 1990 und 2005 um rund 15 Prozent gewachsen. 60 Prozent der Verkehrsleistung entfallen auf Fahrten mit dem Pkw.

Für Hermann Knoflacher eindeutig zu viel. Der emeritierte TU Wien-Professor vom Institut für Verkehrswissenschaften hat der Kfz-Nutzung in der Stadt den Kampf angesagt. Seine Vision: eine gänzlich autofreie Stadt. Knoflachers Konzepte wurden bereits in New York, der Schweiz, Deutschland und in Österreich diskutiert. Die Reaktionen fallen gemischt aus, denn sie machen tiefe Einschnitte in die bestehenden Systeme: „Wir ­hatten 10.000 Jahre Erfahrung mit auto­freien Städten. Es ist die einzige Form, die ökologisch und nachhaltig ist“, so Knoflacher. Die bestehenden Strukturen würden den Menschen zum Autofahren zwingen: „Dadurch gehen Städte zugrunde.“ Effiziente Mobilität sieht seiner Meinung nach anders aus.

Die entsprechende Umsetzung ­erklärt der emeritierte Professor das gefühlte 1.000. Mal in seiner ­Karriere. „Keine Abstellplätze innerhalb der Stadt. Private Autofahrer dürfen zwar in die Stadt hineinfahren, abstellen müssen sie ihr Auto aber am Stadtrand – in mehrgeschossigen Hochgaragen aus Fertigteilen, das kommt billiger. Gleichzeitig geht es um eine Ausweitung des öffentlichen Verkehrsnetzes wie Elektrobusse und Straßenbahnen.“ Das gelte genauso für den Transport­verkehr, der dadurch aber besser funktionieren würde.

Städte bis zu einer Million Menschen brauchen, wenn sie ver- und entsorgt werden können, keine Autos.

Für sein Konzept bräuchte es etwa in Österreich eine Änderung der Bauordnung: Das geltende Recht si­eht vor, dass bei jedem Wohnungsbau ein Autostellplatz errichtet wird. Knof­lacher will einen Stopp dieses automatischen Garagenbaus. In Berlin oder Hamburg sei dies schon geändert worden. „Das ist eine Maßnahme, die relativ wenig kostet.“ In die andere Richtung hingegen erwartet sich Knoflacher finan­zielle Einnahmen: So sollten all jene, die derzeit ihr Auto in der Nähe abstellen, zur Kassa gebeten werden. Diese „Verkehrs­­erregerabgabe“ – die Höhe richte sich nach dem Marktwert – könnte für den entsprechenden Parkplatzumbau (privat wie öffentlich) und den Ausbau des Öffi-Netzes verwendet werden. Knoflachers Pläne mögen aufs Erste hochgesteckt klingen, realitätsfremder Visionär ist er aber keiner. Insgesamt basiere die moderne Verkehrsplanung auf falschen Kernthesen: Erstens werde die Mobilität durch ­zunehmende Motorisierung keineswegs erhöht. Global steige nur die Anzahl der Autofahrten, aber nicht die Summe der getätigten Wege von Personen. Denn die Fahrten mit den Öffis sowie Fußwege würden zeitgleich weniger. Zweitens erspare man sich durch höhere Geschwindigkeiten keine Zeit. Die Wegzeit bliebe gleich, nur die zurückgelegten Entfernungen würden steigen. „Städte bis zu einer Million Menschen brauchen, wenn sie ver- und entsorgt werden können, keine Autos. Das mache ich an der historischen Entwicklung fest. Das ist ein Radius einer Stadt, die von Fußgängern erhalten werden kann. In Peking bin ich vor 30 Jahren zwölf Kilometer in die Innenstadt in einer Stunde geradelt. Heute braucht man mit dem Auto viel ­länger, mit dem Fahrrad kommt man gar nicht hinein“, so Knoflacher. Auf der Habenseite einer autofreien Stadt stünden weniger Abgase, steigende Beschäftigtenzahlen im Verkauf, bessere Lebensbedingungen: „Man gibt der Gesellschaft wieder den öffentlichen Raum zurück. Auf dem frei werdenden Raum könnten Grünflächen, Begegnungszonen, Parks geschaffen werden.“

Knoflacher erzählt weiter von ­einem Projekt in Südkorea. In ­einem Stadtviertel von Suwon, südlich von Seoul, verzichteten 2013 mehr als 4.000 Einwohner auf ihr Auto – einen ganzen Monat lang. „Das ­EcoMobility-Festival war eine Folge der Maßnahmen, die Bürgermeister Lee Myung-bak zwischen 2002 und 2005 in Seoul umgesetzt hat. Eine zentrale war die Beseitigung der Autobahn mit 225.000 Fahrzeugen pro Tag und die Freilegung des Flusses.“ Sprich: 1.500 private Wagen wurden während des Festivals außerhalb des Viertels geparkt, ein Elektrobus brachte die Menschen von dort ins Zentrum, weiters wurden Scooter, Elektroroller und Fahrräder von der Stadt gesponsert. Anfängliche Skepsis wich Begeisterung. Die Bilder von auf der Straße herumziehenden Menschen gingen um die Welt. Das Experiment zeigt nachhaltige Wirkungen: So wurden Gehsteige verbreitert, das Tempolimit auf 30 km/h heruntergeschraubt, einen autofreien Tag im ­Monat gibt es heute noch.

ICLEI e.V (c)

Posted by EcoMobility Festival on Montag, 30. September 2013

Bleibt die Frage: Kann es in Zukunft wirklich eine gänzlich autofreie Stadt geben? „Man könnte es in zehn bis 15 Jahren umsetzen. Technisch weiß man, wie es funktioniert. Aber es fehlt oftmals am politischen Willen. Es braucht eine Mischung aus Politik, Verwaltung und Experten, die das ­umsetzen“, so Knoflacher.

Text: Niklas Hintermayer

Fotos: Pexels, Flickr, Smith Gill, Depositphotos, Wikipedia

Illustration: Valentin Berger

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