Blutzucker kennt kein Norm-modell

Der weibliche Körper tickt anders – bei Ernährung, ­Bewegung und Stress. Blutzuckerwerte machen diese ­Unterschiede messbar. Das Start-up Hello Inside setzt auf Echtzeitdaten, um Frauen zu befähigen, ihren Körper zu verstehen.

Den eigenen Körper zu kennen liegt im Trend – Fit­ness­tracker erfassen die Geschwindigkeit beim Joggen, während Smartwatches die nächtliche Schlafqualität bewerten. Längst etabliert ist auch der Schrittzähler, der im Idealfall die Zahl 10.000 anzeigt. Diese ist zwar nur das Überbleibsel einer Marketingkampagne des japanischen Unternehmens Yamasa in den 60er-Jahren; ihre ungebrochene Popularität zeigt aber, wie groß das Interesse ist, die eigene Gesundheit selbst zu vermessen.

Ein Unternehmen, das diese Entwicklung mit­gestaltet, ist Hello Inside. Das 2021 gegründete Femtech-Start-up mit Wiener Hauptsitz stellt seinen Kunden Glukosemessgeräte und eine App zur Ver­fügung, um ihnen evidenzbasierte Einblicke in ihre Stoffwechselgesundheit zu ermöglichen. Ende 2023 hat das Unternehmen eine Finanzierungsrunde von 1,65 Mio. € abgeschlossen, die nächste Runde ist in Vorbereitung. „So ist das im Start-up-Leben: Man schwankt ständig zwischen Nahtoderlebnis und Hype!“, lacht Dr. Anne Latz, Mitgründerin und Chief Medical Officer (CMO).

Die Idee: Der Continuous Glucose Monitor (CGM), wie das Glukosemessgerät im Fachjargon heißt, misst durch einen an der Haut angebrachten Sensor kontinuierlich den Blutzuckerspiegel. Die Werte werden in einer Handy-App ausgewiesen und interpretiert, um Nutzer dazu zu befähigen, ihre Lebensgewohnheiten besser an ihren Stoffwechsel anzupassen. „Wir kennen diese Sensoren in der Medizin aus dem Kontext Diabetes“, erzählt Latz. „Dann sind sie im Performance-­Bereich genutzt worden – vor allem von Männern“, so die Mitgründerin. Hello Inside möchte dieses Feld für Frauen erschließen.

Dass CGMs für Nichtdiabetiker überhaupt zu­gänglich sind, ist eine relativ junge Ent­wicklung: In den USA ist das erste rezeptfreie System seit März 2024 zuge­lassen, Europa zieht nach. Zur aktuell noch überschaubaren Anzahl an Anbietern zählen die US-amerikanischen Unternehmen Dexcom und Abbott. Letzteres liefert Hello Inside die Sensoren-Chips, das einzige Hardware-Element. Es ist der größte Risikofaktor, verrät Latz: „Im Vergleich zu Software-Produkten erfordern Sensoren Logistik und sind in der Regel etwas fehleranfälliger.“

Blutzucker wird für uns eine Alltagsvokabel werden.

Anne Latz

Latz’ Großmutter war die größte Inspiration für ihren Lebensweg als Unternehmerin: Diese besaß als erste Frau der Familie einen Führerschein, legte großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder und war selbst unternehmerisch tätig. „Ich habe erst rückblickend verstanden, wie sehr mich das geprägt hat“, sagt Latz heute. Die Hello-Inside-Mitgründerin hat Betriebswirtschaftslehre studiert, später kam das Medizinstudium hinzu. Nach einem Jahr an der Universitätsklinik kündigte Latz ihren Job, um in New York für das Medtech-Start-up Amboss zu arbeiten, das eine E-Learning-Plattform für Medizinstudenten und Ärzte bereitstellt. Es folgten weitere berufliche Stationen im Bereich Gesundheit und Prävention – bis Latz ihre drei österreichischen Mitgründer nach Ausbruch der Pandemie auf den Plattformen Clubhouse und Linkedin kennenlernte: Mario Aichlseder ist CEO von Hello Inside, Jürgen Furian und Vinzenz Weber fungieren als COO und CTO. Als CMO kann Latz ihre Interdisziplinarität ausspielen: Nach innen gerichtet schafft sie eine Datengrundlage für das Produkt, nach außen hin macht sie auf das Thema Stoffwechselgesundheit aufmerksam. „Rückblickend ergibt das immer eine schöne Geschichte“, sagt sie, „aber geplant habe ich meine Karriere nur bedingt.“

Ungeplant war auch, dass Hello Inside ein Produkt für Frauen entwickelt. Zuerst hat sich das vierköpfige Gründerteam mit dem Thema Blutzucker für Gesunde allgemein befasst, erzählt Latz – doch schnell ist aus dem Bedarf heraus der Fokus auf Frauen entstanden. „Die ersten Daten und Nutzerzahlen haben gezeigt: Frauen nutzen unsere App nicht nur intensiver, ihre Werte unterscheiden sich auch deutlich von jenen der Männer“, sagt sie.

Etwa 80 % der Erstnutzer von Hello Inside sind weiblich. „Die Daten haben deutlich gezeigt, warum geschlechtsspezifische Aspekte im Mittelpunkt unseres Produktansatzes stehen müssen“, so Latz: Wer eine Portion Nudeln isst, reagiert unter Umständen mit einer ganz anderen Blutzuckerkurve als zum Beispiel der Partner. Um die individuellen Blutzuckerwerte abzubilden, sammelt die App des Start-ups über einen Zeitraum von 60 Tagen rund 6.400 Datenpunkte pro Person, die unternehmensinterne KI wertet insgesamt mehr als 27 Millionen Datenpunkte aus. Integriert werden die Daten mithilfe von Sportelektronik- und ­Gesundheitsanbietern wie Garmin, Oura und Apple Health. Dabei ist Hello Inside als geschlechts- und geschlechterbewusste digitale Präventionslösung im Gesundheitsbereich registriert.

Der Markt für Blutzuckermessung bietet ­großes Potenzial: Das Marktforschungsinstitut Fortune Busi­ness Insights schätzt, dass der globale Umsatz mit CGMs von 14,8 Mrd. € im Jahr 2024 bis 2032 auf 23,8 Mrd. € ansteigen wird. Der Markt für nicht diabetische Kunden macht bisher nur einen Bruchteil des Gesamt­markts aus, wächst laut dem US-amerikanischen Institut ­Dimension Market Research aber schneller. Das erkennen auch Investoren: Amorelie-Gründerin Lea-Sophie Cramer, der Impact-orientierte Verge Healthtech Fund und die Online-Apotheke Docmorris zählen zu den Geldgebern von Hello Inside. Die jüngste Finanzierungsrunde habe das Unternehmen vor allem für die KI-Entwicklung und die anstehende Expansion genutzt, erzählt Latz.

Am 28. Oktober dieses Jahres startet Hello Inside den Soft-Launch in den USA. Dort sei der Diskurs rund um Gesundheitsdaten zu Stoffwechsel, Menopause und Co stärker in der Gesellschaft angekommen als in Europa, so die Mitgründerin. Das Start-up hat dieses Jahr bereits eine Studie in Kooperation mit dem US-ameri­kanischen Unternehmen Flo Living durchgeführt, das mit der Zyklus-App „Myflo“ eines der ersten Femtech-­Produkte überhaupt vermarktet hat. ­Partnerschaften mit bekannten Anbietern von Gesundheits- und Wellnessprodukten für Frauen sollen Hello Inside dabei helfen, in den USA einen ähnlich vielver­sprechenden Auftakt zu schaffen wie im Heimatmarkt: Im Lauf des Gründungsjahrs 2021 gewann die Hello-Inside-App 4.500 aktive Nutzer, die monatlich 50.000 € wieder­kehrende Einnahmen einbrachten. Coachings und Rezept-Datenbanken ergänzen das Basisangebot. Doch die Bereitschaft, für Gesundheitsdienste zu zahlen, ist in der DACH-Region vergleichsweise gering – anders als in den USA. „Deshalb haben wir schon früh Pilot­programme mit österreichischen Versicherungen durchgeführt, um auch im B2B tätig zu sein“, so Latz.

Und noch ein weiteres Gesundheitsthema spricht dafür, dass die Zukunft von Hello Inside in den USA liegen könnte: der Kampf gegen Übergewicht. Im September 2024 ­machten Abnehmmedikamente rund um das Darm­hormon GLP-1, wie etwa das Medikament „Ozempic“, in den USA 5,4 % aller Verschreibungen für Erwachsene aus. Während die Behandlung mit GLP-1-Medi­kamenten je nach Dosis umgerechnet schnell ­mehrere Hundert Euro pro Monat verschlingt, kostet ein Drei-­Monate-Programm mit dem Glukose­sensor von Hello Inside 250 €. Beides unterstützt dabei, Gewicht zu verlieren.

Hello Inside setzt auf Eigenverantwortung, ­indem Nutzer ihren Stoffwechsel besser verstehen ­lernen und etwa Heißhungerattacken verhindern ­können. Was heute noch als Innovation gilt, könnte schon bald Routine sein: ein Sensor, der Gesundheit sichtbar macht. „Blutzucker wird für uns eine Alltagsvokabel werden, weil wir alle ein gutes Verständnis davon haben werden“, sagt Hello-Inside-CMO Latz. In den nächsten drei Jahren dürfte es so weit sein, schätzt sie – dann gehört der Blick aufs Blutzucker-Dashboard vielleicht genauso zum Frühstück wie der erste Kaffee.

Fotos: Hello Inside

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