DAS ANTI-AMAZON

Etsy-Gründer Josh Silverman nutzt Technologie, um sein Unternehmen von einem Hippie-Flohmarkt zum „Anti-Amazon“ zu machen – ohne dabei seine Seele zu verlieren.

Am 2. April 2020, ganz zu Beginn der Covid-Pandemie, war das Aufwachen für Josh Silverman mit einer Überraschung verbunden. Alle vier Stunden erhielt der auf Daten fokussierte Chef von Etsy ein Update über die Mengen an personalisierten Kissen, handgenähten Stofftieren, alten viktorianischen Medaillons und die Millionen anderer Einzelstücke, die über seinen digitalen Marktplatz verkauft wurden. Silverman hatte die Marketingausgaben von Etsy früh reduziert, um sich auf den durch Covid verursachten Einbruch vorzubereiten. Doch der jüngste Bericht zeigte einen Anstieg der Verkaufszahlen.

Der Grund: Gesichtsmasken. In der Presse war zu lesen, dass die CDC (Centers for Disease Control) bald einen Gesichtsschutz für alle Amerikaner vorschreiben würden. Da die Masken sogar für Ersthelfer kaum zu bekommen waren, suchten Zivilisten ihr Glück in der bunt zusammengewürfelten Bastler­gemeinschaft von Etsy. „Wenn man zuvor bei Etsy nach dem Begriff Maske suchte, erhielt man Halloween-Kostüme oder Gesichtscreme als Treffer“, sagt Silverman, der im Schneidersitz auf einem hand­gefertigten Ohrensessel in der Etsy-Zentrale in Brooklyn sitzt. „Wir hatten eine Krisensitzung, um zu entscheiden, ob wir uns auf Gesichtsmasken konzentrieren sollten.“

Das Team war uneinig. Einige hielten den Markt für Gesichts­masken für eine Modeerscheinung, andere sahen darin eine Chance, die Stärke und Flexibilität der fast drei Millionen Verkäufer innerhalb der Etsy-Community zu demonstrieren. „Die weltweiten Lieferketten waren blockiert“, erzählt Silverman. „Man konnte keine Gesichtsmasken bekommen. Doch die Lieferkette von Etsy war viel unmittelbarer.“

Etsy rief seine Verkäufer zu­sammen und schickte ihnen per E-Mail Informationen zu Maskenmaterialien und -designs. Programmierer richteten die Website auf den Verkauf von persönlicher Schutzausrüstung aus, das Marketingteam bewarb die Aktion im Internet und in den sozialen Medien. Innerhalb eines Tages boten 10.000 unabhängige Kunsthandwerker Masken auf Etsy an, innerhalb von zwei Wochen waren es schon 100.000 Verkäufer – Ende 2020 hatte Etsy Masken im Wert von mehr als 740 Millionen US-$ verkauft, was 7 % seines Bruttoumsatzes von 10,3 Milliarden US-$ entspricht (der Wert aller auf der Website verkauften Artikel; Etsy erhält einen Anteil an jedem Verkauf). Es stellte sich heraus, dass Etsy für die Pandemie perfekt aufgestellt war: Die Verkäufer hatten mehr Zeit für die Herstellung von Möbeln, Kunst und Spielzeug und die Kunden wollten all das inmitten der Quarantäne kaufen. Der Jahresumsatz von Etsy stieg um 111 % auf 1,7 Milliarden US-$, der Nettogewinn des Unternehmens wuchs um 264 %.

Etsy verzeichnete während der Pandemie von 2019 bis 2020 einen etwa zweifachen Umsatzanstieg, was vor allem auf die erfolgreiche Bewältigung der gestiegenen Nachfrage nach Gesichtsmasken zurückzuführen ist.

„Das Zuhause wurde gleich­zeitig zum Büro, zum Spielplatz und zur Kindertagesstätte“, sagt Jefferies-Analyst John Colantuoni. „Das hat die Nachfrage nach einzigartigen und handgefertigten Produkten angekurbelt.“

Während Amazon, Walmart und Target darum kämpfen, Massenware so billig und schnell wie möglich zu liefern, hat Etsy seine vielseitige (und vorrangig weibliche) Community von Kunsthandwerkern mit denselben hochmodernen KI-, Data-Science- und Marketingtools ausgestattet, die auch Einzel­handelsriesen nutzen. Auf diese Weise hat Etsy, das auf der Forbes-Liste „Just 100“ der besten Un­ternehmen steht, Millionen von nebenerwerblichen Mitarbeitern in einer Zeit von Entlassungen, Schließungen und Standort­verlagerungen ein zusätzliches Einkommen – und einen Sinn in ihrem Leben – gegeben. Silverman: „Unsere Aufgabe ist es, den Handel menschlich zu machen.“

Das vom Brooklyner Kunsthandwerker Rob Kalin gegründete Unternehmen verbrauchte mehrere CEOs, bevor es 2015 als B-Corporation, die sich zu strengen Umwelt- und Gemeinschaftsstandards verpflichtet hat, an die Börse ging. Die Wall Street hasste Etsys welt­verbesserische Haltung und die roten Zahlen – im Jahr 2016 wuchsen die Nettoverluste des Unternehmens auf 54 Millionen US-$ an. Im darauffolgenden Jahr kauften die Investoren Black-and-White Capital, TPG und Dragoneer Aktien auf – in der Hoffnung, Etsy zum Verkauf zu zwingen. Doch Etsy schlug zurück: Der Vorstand suchte nach einem CEO, der ein Gleichgewicht zwischen den Mitarbeitern und den Investoren herstellt. Silverman, der dem Vorstand im Jahr 2016 beigetreten war, schien eine gute Wahl zu sein.

Aufgewachsen in Ann Arbor, Michigan, erwarb der 52-Jährige 1991 einen Bachelor-Abschluss in Public Policy an der Brown University, arbeitete für Bill Bradley, den progressiven Senator von New Jersey, und erwarb später einen MBA in Stanford. 1998 war Silverman Mitgründer von Evite, einem Online-Einladungsmanager, bevor er fünf Jahre lang bei Ebay Marktplätze im Ausland leitete. Im Jahr 2008 rettete er das damals kriselnde Unternehmen Skype und leitete später von 2011 bis 2015 das Kreditkartengeschäft von American Ex­press.

Silverman fokussierte sich darauf, den Bruttoumsatz von Etsy zu steigern, reduzierte Personal, zog sich aus den meisten Regionen zurück und strich Projekte, die nicht mindestens zehn Millionen US-$ Bruttoumsatz einbringen. Dazu gehörte auch Etsy Studios, eine Website für Handwerksbedarf, die von 150 Mitarbeitern – etwa 15 % der gesamten Etsy-Belegschaft – in 18 Monaten aufgebaut worden war. „Es war so schmerzhaft, wie es klingt, ein echter Schlag in die Magengrube“, sagt Silverman. „Wir ermutigten all jene, die motiviert waren, zu bleiben, und jene, die skeptisch waren, zu gehen.“

Josh Silverman
...ist in Ann Arbor, Michigan, aufgewachsen. Er erwarb im Jahr 1991 einen Bachelor-Abschluss in Public Policy an der Brown University und später einen MBA in Stanford.

Der neue CEO optimierte die Suchfunktionen von Etsy, tauschte interne Server gegen die Cloud aus und investierte in den Kunden­service. Bis 2019 stieg Etsys Markt­kapitalisierung um 300 %, auf fünf Milliarden US-$. Seit Silverman das Ruder übernommen hat, sind die Aktien um insgesamt rund 1.800 % gestiegen. „Vor der Pandemie hat Josh Silverman gute Arbeit geleis­tet, indem er sich auf jene Dinge konzentrierte, die den Bruttoumsatz steigerten“, sagt Citigroup-Analyst Nicholas Jones. „Er hat Etsy damit so positioniert, dass es von dem Nachfrageschub (durch die Coronakrise, Anm.) profitieren konnte.“

Eine Herausforderung war, die Möglichkeit für Kunden zu schaffen, ein einzigartiges Produkt auf Etsy genauso einfach zu finden wie ein Massenprodukt auf Amazon. Um die Suche und die Produktempfehlungen zu verbessern, entwickelt Etsy KI-gestützte Computer-Vision-Tools zur Identifizierung, Kennzeichnung und Erstellung strukturierter Daten für seine Millionen einzigartiger Artikel.

Einst für seine langen Lieferzeiten bekannt, hat Etsy auch seine Erwartungen an Verkäufer erhöht. Die Kunsthandwerker auf der Plattform werden dazu angehalten, transparente Fristen zu setzen und die Kommunikation mit ihren Kunden zu verbessern. Ein neues Dashboard zeigt den Verkäufern, wie sie in Sachen Kundenservice und Zufriedenheit abschneiden. Überdurchschnittlich gute Verkäufer erhalten eine höhere Sichtbarkeit auf der Website. „Wir müssen das tun, was unsere Verkäufer brauchen, nicht das, was sie wollen“, sagt Silverman. „Um den Verkäufern zu dienen, muss man sich um die Käufer kümmern.“

Text: Steven Bertoni / Forbes US
Foto: Gabby Jones

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 9–21 zum Thema „Handel“.

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