DAS BESTE AUS ZWEI WELTEN

Augmented Reality überlagert die reale Welt mit digitalen Informationen. Dass beide Welten zunehmend verschwimmen könnten, glaubt Petra Ehmann nicht – bei Google beschäftigt sie sich mit der Technologie.

Sie haben ursprünglich ­Maschi­nen­bau an der ETH Zürich und Management Science and Engineering in Stanford studiert. Waren Sie schon immer an technischen Themen interessiert?

Mein Vater war Physiker und hatte eine besondere Gabe, uns Kinder für Technologie zu begeistern. Als wir in Bolivien lebten und in den Ferien im Jeep durch Südamerika fuhren – von den Anden über den Salar bis an den Pazifik –, erklärte er uns, wie ein Motor funktioniert, was eine Fata Morgana ist oder wie man sich mit Karte und Kompass jenseits der Zivilisation orientiert. Die ­Neugierde und Faszination für Naturwissenschaften – Physik und Mathematik waren meine Lieblingsfächer beim Abitur – brachten mich zusammen mit meinem analytischen Denken schlussendlich dazu, Maschinenbau an der ETH Zürich zu studieren.

Heute arbeiten Sie für eines der größten Unternehmen der Welt. Wie sind Sie bei Google ­gelandet?

Durch mein Masterstudium an der Stanford University im Herzen des Silicon Valley habe ich viel Nähe zur Technologieindustrie aufgebaut. Für eine Projektarbeit trafen wir zum Beispiel den CEO von ­Mozilla, ein anderes Mal sprach Bill Gates auf dem Campus, und regelmäßig kamen Gründer renommierter Start-ups in Vorlesungen. Mich haben die Umsetzungsgeschwindig­keit und -einfachheit, mit ­wenigen Zeilen Code so viele Nutzer erreichen zu können, und die ­großen ­Visionen der Start-ups fasziniert. Bei einem Tech-Start-up in São ­Paulo (­Kekanto, Anm.) war ich zum ­ersten Mal als Head of Business Intelligence selbst am Steuer in der Techbranche. Die Expertise, die ich mir in dem Start-up aneignete, war schlussendlich relevant für meinen ersten Job bei Google. Rückblickend war das Start-up in Brasilien mein Sprungbrett zu Google.

Wie hat Ihre Zeit im Silicon Valley Ihren Blick genau geprägt?

Ich habe gelernt, wie wichtig Visionen, Flexibilität und Partnerschaften sind. Klare und kühne ­Visionen zu haben hilft Unternehmen, die besten Talente anzuziehen, um die Herausforderungen, vor denen die Welt steht, anzupacken und zu lösen. Auf dem Weg zu diesem Ziel sind eine hohe Flexibilität und Agilität erforderlich: Die eigene Arbeit sowie Produkte und Geschäfts­modelle sind konstant an sich schnell verändernde Markt­bedingungen anzupassen und neu auszurichten, denn „Erfolg heute“ impliziert in der digitalen Ära nicht notwendigerweise „Erfolg morgen“. Schließlich erfordert die Bewältigung globaler Herausforderungen nicht nur ein globales Denken, sondern auch einen globalen Verbund partnerschaftlicher Beziehungen.

Petra Ehmann
... studierte Maschinenbau an der ETH Zürich und absolvierte ihr Masterstudium in Stanford. Ihre berufliche Karriere startete sie bei Bosch in Mexico und Hilti in China, danach war sie beim Beratungshaus A. T. Kearney tätig, bevor sie in São Paulo Head of Business Intelligence beim Start-up Kekanto wurde. Seit 2013 ist sie bei Google tätig, mittlerweile als Global Lead Business Development Augmented Reality. Ehmann ist zudem Vorstandsmitglied von We Shape Tech.

Was genau fasziniert Sie an ­Augmented Reality?

Die Fähigkeit, unserer menschlichen Wahrnehmung näher zu kommen. Unsere digitalen ­Erlebnisse sind bislang an Bildschirmgrößen ­geknüpft, und AR hilft, diese Erlebnisse umfassender und intuitiver zu gestalten: AR kann uns beispielsweise ­visuelle dreidimensionale ­Inhalte ­anzeigen – und zwar genau dort, wo wir sie brauchen. Mit AR können wir Inhalte über die reale Welt legen, um viel intuitiver damit interagieren zu können. Wie viel natürlicher wäre es, wenn wir Navigation in der realen Welt erhalten würden statt auf ­einer zweidimensionalen Karte? Mit LiveView lässt sich das bereits ­heute auf Google Maps ausprobieren. AR eröffnet uns also neue Chancen und Schnittstellen, um mit der digitalen Welt zu interagieren.

Google hat zahlreiche Anwendungsfälle für AR, etwa ­Google Expeditions oder AR-Integrationen in Google Search oder ­Google Maps. Welche Rolle spielen Sie und Ihre Abteilung in der Entwicklung solcher Anwendungen?

In der globalen Geschäftsentwicklung ist meine Rolle diejenige der „Potenzialentfalterin“ – zwischen ­Ingenieuren, Produktmanagern und externen Partnern, um Visionen zu kreieren, weltweite Partnerschaften aufzubauen und neuartige AR-Anwendungen zu realisieren. Dabei kommt mir mein Engineering-Hintergrund zugute, mit dem ich technische Themen schnell verstehen und gleichzeitig mit C-Levels auf der Business- sowie Technologie­seite Projekte vorantreiben kann.

Das Google Pixel 4 soll über Gesten – ohne Hände – kontrolliert werden können, was Realität und digitale Welt verbindet und überbrückt. Wie sehr sollten wir solche Verbindungen suchen?

Wir leben bereits in einer Welt, in der wir digitale Informationen rund um die Uhr fast überall auf der Welt zum Greifen nahe haben. Sogar in Bolivien, wo wir uns früher mit Karte und Kompass zurechtgefunden haben, kann man sich heute auf einer digitalen Karte orten und zum Ziel navigieren lassen. Während die digitalen Informationen bereits existieren, ändert sich mit AR die Art und Weise, wie sie dargestellt werden. Ich glaube, dass AR genau durch ­seine Nutzerfreundlichkeit und intuitive Bedienung punkten wird.

Petra Ehmann, Augmented Reality, Google, Forbes DACH

Birgt das nicht auch Gefahren?

Digitale Informationen werden ­immer digitale Informationen, die reale Welt wird immer die reale Welt bleiben. In AR überlagern wir nun beide Welten. Wie bei jedem Medium kommt es auf die Balance des Konsums an. Wie ­lange und wann brauchen Nutzer AR? Basierend auf unseren Studien hat unser User-Experience-­Team her­ausgefunden, dass AR Momente, nicht aber AR Modi zurzeit als hilfreicher von unseren Nutzern wahrgenommen werden. Wenn man also LiveView eine gewisse Zeit in Betrieb hat, verdunkelt sich ab einer bestimmten Zeit der Bildschirm, und der Nutzer wird aufgefordert, den AR-Modus zu verlassen. Wir wollen dem Nutzer helfen, das Beste aus der digitalen und realen Welt zu erfahren.

Mit We Shape Tech haben Sie sich auch höherer Diversität in der Techbranche verschrieben. Was ist Ihre Motivation dahinter?

Wir stehen heute vor großen Her­ausforderungen: etwa Migration, Klimapolitik oder das Zusammenspiel verschiedener Länder auf globaler Ebene. Um all das erfolgreich meistern zu können, brauchen wir die besten Leute an der Spitze. Und um ­diese finden zu können, brauchen wir die besten Frauen und Männer. Als Maschinenbauingenieurin sehe ich es als meine Verantwortung, meinen Beitrag zu leisten, Tech-Talente zu fördern. Ich erhoffe mir mehr Frauen in technischen Disziplinen, denn das Talent ist da – aber das Selbstverständnis fehlt.

Text: David Hanny
Fotos: Google Switzerland GmbH

Der Artikel ist in unserer September-Ausgabe 2019 „Women“ erschienen.

Petra Ehmann trat als Speakerin beim Forbes Women's Summit in Zürich am 17. September 2019 auf.

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