Das Gute, das Böse, der Gig

Die Gig-Economy ist auf dem Vormarsch. Gesamtwirtschaftlich ist sie noch eine kleine Nummer, aber Konzerne werden sich mit dieser Form des Arbeitens auseinandersetzen.

Als Bastian Unterberg 2008 am Ende seines Design-Studiums mit zwei Studienkollegen die Plattform Jovoto ins Leben rief, war von der Gig-Economy noch gar keine Rede. Der Begriff wurde erst Anfang 2009, am Höhepunkt der Finanzkrise, geprägt: kleine Aufträge, die kurzfristig an eine Vielzahl von Freiberuflern vergeben werden. Der Gig selbst findet dabei auf einer Plattform statt, die als Mittler zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer dient – man kommt für einen Auftrag zusammen und geht dann in der Regel auch wieder auseinander. Die Plattform bekommt Provisionen und legt die Spielregeln fest.

Das Phänomen der Gig-Economy war also zunächst durch den Jobverlust vieler geprägt. Viele kleine, zusammengestoppelte Jobs sollten das Überleben sichern. Kommt das Gespräch auf die Gig-Economy, macht sich bei vielen vielleicht auch deshalb kein besonderes Wohlgefühl breit. Nicht immer ist das aber zu Recht der Fall. Der tendenziell schlechte Ruf der Gig-Economy ist nicht nur ihren gesamtgesellschaftlich schwierigen Ausgangsbedingungen oder dem oft zweifelhaften Treiben zahlreicher Player dieser Plattformökonomie geschuldet. Sie ist auch Zwischenergebnis einer bisweilen zu kurz gegriffenen – aber deshalb nicht unberechtigten – Debatte um etwa Lohn- oder Preisdumping. Die Plattformökonomie muss wie viele andere Unternehmen analoger Natur globale Lösungen finden und wird dabei, obwohl sie noch so jung ist, bereits als Bedrohung für bestehende Arbeitsplätze und Organisationsformen gesehen.

Dabei ist die Gig-Economy gesamtwirtschaftlich betrachtet eine kleine Nummer. Die Bedeutung der Diskussion über die Gig-Economy ist weitaus größer als ihr empirischer Nachweis: Experten gehen davon aus, dass selbst in den USA die Gig-Economy nur 0,5 Prozent der Jobs ausmacht.

Bastian Unterberg kennt diese Debatte aus eigener Erfahrung. Seine Plattform, auf der sich heute tagtäglich 100.000 Teilnehmer aus Design, Text und anderen kreativen Bereichen tummeln, entstand tatsächlich aus einer Art Alternativlosigkeit, sprich der schmalen Auswahl an potenziellen Arbeitsumfeldern zwischen Kommunikationsagentur und Beratungsunternehmen. „Wir waren nicht die einzigen, die fanden, dass die Arbeitsumgebungen nicht zu uns passten. Schon während des Studiums lernten wir viele Top-Talente in Europa kennen, die ähnliche Herausforderungen sahen“, so Unterberg. Der Fit zwischen den Bedürfnissen der Talente und dem Angebot an Arbeitsplätzen und -weisen ist für viele Junge – und zunehmend auch Ältere – kein guter, sagt er. „Wir haben eine Plattform gebaut, um dort unsere Utopie von Arbeit zu realisieren: Ich lerne, während ich arbeite, ich bekomme Feedback; was dort entsteht, ist ein Kollektivgut und ich bekomme Sichtbarkeit bei Projekten für große Marken.“

Dafür waren sie in der etablierten Kreativwirtschaft dann auch sofort verschrien, sagt er heute. „Weil“, so Unterberg weiter, „einfach alles in einen Sack gesteckt wird“, von 99Designs über Uber und Twago bis hin zu Clickworker. Die Qualität verschiedener Plattformen weist in der Tat große Unterschiede auf. Weshalb sich die Diskussion darüber, ob eine Plattform nun „nur“ ein Vermittler sei oder eine Art Arbeitgeber, immer wieder entspinnt.

Unterberg: „Aus rein kapitalistischer Sicht betrachtet ist Talent Commodity. Austauschware. Das war und ist aber nicht unsere Motivation. Wir wollen die besten Köpfe zu einer Aufgabe bringen, interdisziplinär und gemeinsam daran arbeiten. Wir hatten immer schon die Perspektive, die Innovationskraft zu steigern, anstatt die Arbeitskraft zu ersetzen. Diese Werte haben wir schon früh definiert.“

Die ersten 500 Talente, die Jovoto selbst angeworben hatte, kannten diese Werte also schon. Zum Geschäft trug das allerdings nicht viel bei. 2008 war die digitale Transformation nämlich noch kein Thema für die Massen. „Bis 2014 hatten wir auf Marktseite keine Kunden. Wir haben uns den Mund fusselig geredet. Aber wir waren immer fest davon überzeugt, dass sich die Marken öffnen werden.“ Ohne andere Projekte zur Zeitüberbrückung und ohne Angel Investor hätten sie es, so Unterberg, nicht geschafft. Heute, fast zehn Jahre später, klopfen die großen DAX-Unternehmen und Fortune 500 Companies an. „Wenn ich heute mit den HR-Vorständen unserer Kunden spreche und wenn man sich ansieht, wohin die großen Investitionen hingehen, nämlich
in Richtung Künstliche Intelligenz, dann werden Plattformen wie unsere ganz eindeutig
als Brückenlösungen gesehen.“ Kurz: Neue Technologien, und hier vor allem Künstliche Intelligenz, werden den Arbeitsmarkt nachhaltig verändern. Was dabei naheliegt, ist, dass die Gig-Economy mit all ihren Protagonisten zurzeit vor allem für Konzerne wie ein unerschöpflicher Talentepool für Projektarbeiten aller Art wirkt, ohne dabei die eigenen Headcounts zu belasten. Dabei treibt sie gleichzeitig Innovationen im Unternehmen voran. So lange, bis die organisationalen Strukturumbauten sich den technologischen Innovationen angepasst haben.

Ein Blick in die Studie „Global Human Capital Trends 2016“ von Deloitte, für die 7.000 Führungskräfte in 130 Ländern weltweit befragt wurden, macht deutlich, wie ernst es den Konzernen damit ist. 42 Prozent der Befragten planen in den nächsten drei bis fünf Jahren, mehr mit freien Mitarbeitern zu arbeiten, 43 Prozent bereiten sich auf einen vermehrten Einsatz von Robotics und kognitiven Technologien vor. Und 76 Prozent der Befragten erwarten darüber hinaus auch die Notwendigkeit für neue Skills – und zwar schon in den nächsten drei Jahren. HR-Chefs müssen also ihr Arbeitskräfte-Management umgestalten. Zum einen spielt, laut Deloitte-Studie, der Kostenfaktor Freelancer eine entscheidende Rolle, und die Verfügbarkeit dieser Talente eine weitere. Das Augenmerk liegt hier auf Datenspezialisten, deren Dienstleistungen – zeitlich beschränkt und projektweise – zugekauft werden können. Was Schwarzseher dabei vor den Kopf stoßen könnte, ist, dass die Angst vieler, von Maschinen ersetzt zu werden, unberechtigt ist. 20 Prozent der von Deloitte befragten Entscheider gehen sogar vom Gegenteil aus: Sie erwarten, dass sie mehr Menschen einstellen werden müssen, während 38 Prozent immerhin von keinen Veränderungen im Mitarbeiterstand ausgehen. Im Moment aber – und hier kommt die Workforce Gig-Economy als Übergangslösung ins Spiel – fühlen sich die Entscheider laut Studie für diesen Transformationsprozess nicht gut genug gerüstet (34 Prozent). In Zukunft werden große Organisationen eine große Mischung an allen möglichen Arbeitsformen zu managen haben.

Einen Vorstoß in Sachen projektbezogener Einbindung von Freelancern in Unternehmensprojekte wagte das Beratungsunternehmen PwC im März des vergangenen Jahres – mit der Talenteplattform „Talent Exchange“. Freiberufler können dort ihre Lebensläufe hochladen und sich für einzelne Kundenprojekte bewerben. Das Spektrum reicht von IT-Implementierung bis hin zu Geldwäscheverfolgung. Bob Moritz, Chef von PwC global, bezeichnet diese Plattform als gelungene Initiative, „das richtige Talent zur richtigen Zeit auf das richtige Projekt“ zu setzen. Damit liege das Beratungshaus voll im Trend, wonach die Nachfrage nach zeitlich befristeter Projektarbeit steige.

Für die Auftragslage der gut Ausgebildeten in der Plattformökonomie oder für auf zum Beispiel IT und Daten spezialisierte Selbständige sind das gute Neuigkeiten. Für andere wird es zunehmend schwieriger, sich über Wasser zu halten, sagen Experten voraus. Das Angebot einfacher Dienstleistungen wird weiter steigen, so wie der Fall der Preise dafür. Bastian Unterberg sieht die Probleme, möchte das Thema „Mensch-Maschine“ anders 
diskutiert wissen, mehr in
die Zukunft gerichtet. „Man 
kann zurzeit noch gar nicht
sagen, ob die
 Gig-Economy zu Recht oder zu Unrecht diese negative Konnotation hat, dazu ist sie noch zu jung. Wir sehen auch nicht, dass die Arbeit durch sie zerstört wird oder dass sie Auswirkungen auf das BIP hat.“

Es gebe aber technologische Entwicklungen, wie jene der Künstlichen Intelligenz, um die niemand herumkomme. „Man kann auch anders damit umgehen und die Frage stellen: Wenn in zehn Jahren die Taxis tatsächlich ohne Fahrer fahren, ist Uber da nicht ein Facilitator? Das Gleiche sehe ich beim plattformbasierten Arbeiten: Heute haben wir den Klickworker, morgen haben wir die AI. Wäre es da nicht viel besser, über eine Maschinensteuer zu diskutieren? Über ein Grundeinkommen, gekoppelt mit Freiwilligenarbeit, über die auch das Grundeinkommen steigt?“

Die Berichte über Gig-Worker, die Stunden auf der Suche nach einem schlecht bezahlten Job vor dem Bildschirm verbringen oder ohne Grund schlechte Bewertungen bekommen, kennt Unterberg gut. Nicht, dass er selbst über ähnliche Erfahrungsberichte bezüglich Jovoto gesprochen hätte, aber er kündigt an, das Wettbewerbsmodell auf seiner Plattform zu kippen. In den kommenden Wochen wird Jovoto eine gesicherte Vergütung von mindestens 40 € pro Stunde einführen, aber nur für zehn Prozent der insgesamt 100.000 Menschen zählenden Plattform. „Damit sind wir die erste Plattform weltweit, die das macht“, sagt er stolz.

Im Rahmen eines Prozesses, der voraussichtlich im ersten Quartal 2018 abgeschlossen sein wird, wird 
die Plattform in zwei Bereiche aufgeteilt, holt Unterberg zur Erklärung aus. In einen öffentlichen Bereich, hier ist das Sinn-Stiften im Vordergrund, das wegen der guten Sache nicht
 gut vergütet werden muss. Als Beispiel nennt der Gründer immer wiederkehrende Projekte für die Umweltschutzorganisation Greenpeace oder die Arbeit an einer Limited Edition vom Schweizer Messer, wo Austausch, Applied Learning und Anerkennung mehr wert sind 
als Geld.

Neben diesem öffentlichen Bereich wird es einen geschlossenen geben, in den man nur durch den Nachweis seiner Skills kommen kann – und der wird aus den vielen Daten, über die Jovoto verfügt, ausgelesen. Denn nur 10.000 von den über 100.000 auf Jovoto sehen die Plattform als Ort der Arbeit. „Wir schauen, wer ein besonders guter Teamplayer ist, wer Teams auf- und ausbaut, ob man Feedback gibt oder ein guter Kollaborateur ist. Unser Ziel ist, die besten zehn Prozent in diesen geschlossenen Bereich einzuladen“, so Unterberg weiter. Auch aus diesem Pool könnte man dann agile Teams und die digitalen Arbeitsräume für seine Unternehmenskunden zusammenstellen – „in der Cloud 24/7. Das ist, wo wir hingehen, aber auch, wo wir herkommen. Für uns ist wichtig, dass wir nicht nur first mover sind, wir wollen thought leaders sein. Wenn Geld garantiert ist, kann man Innovation mehr in den Fokus nehmen – und wenn man dann noch komplexe Themen löst, schafft man mehr Wert und kann auch mehr umverteilen.“

Zum Schluss spricht Bastian Unterberg ein Thema an, das ihn besonders stark zu beschäftigen scheint: Selbstbestimmung. „Wir stellen uns immer wieder die Frage: Wie können wir die Menschen befähigen, mündig eine Entscheidung zu treffen, ob sie bei Projekten auf der Plattform mitmachen oder nicht? Bei uns gibt es zum Beispiel kein Kleingedrucktes“, so Unterberg weiter, „es gibt keine Überraschungen. Alle Rechte verbleiben beim Urheber, es gibt Transparenz, sogar eine Ombudsstelle und einen Code of Conduct. Alles Themen, auf die man achten kann, aber Selbstbestimmung – das ist schon eine andere Sache...“

Dieser Artikel ist in unserer Dezember-Ausgabe 2017 „Next“ erschienen.

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