DAS RAD NEU ERFINDEN

Welche Rolle spielen Autoreifen in der Mobilität von morgen? Genau diese Frage stellt sich der weltweit größte Reifenhersteller Michelin. Anish Taneja, CEO der Region Nordeuropa, ist überzeugt, dass das Unternehmen in Zukunft in der Mobilität allgemein führend sein wird – doch dazu muss es sich nachhaltig transformieren.

Im Juni 2019 sah die Welt noch ganz anders aus. Beim französischen Reifenhersteller ­Michelin standen die Zeichen auf Neustart. Der ­heutige CEO Florent Menegaux war gerade frisch im Amt, in Frankfurt wurde als neue Nordeuropa-­Zentrale ein hochmodernes Büro in der New Work City feierlich eröffnet. Der weltweit führende Reifenhersteller hatte die Zeichen der Zeit erkannt: Nicht nur das Geschäftsmodell sollte transformiert werden, sondern auch die Art und Weise, wie (Zusammen-)Arbeit im Konzern gedacht wird. Kurz gesagt: Der „Spirit“ sollte sich verändern. Mittendrin in diesem Prozess war auch Anish Taneja, CEO für die Region Nord­europa (die neben Skandinavien und Großbritannien auch Deutschland, Österreich und die Schweiz umfasst), der sich nach einem Jahr gerade ­richtig in seiner Rolle eingefunden hatte. Es lief alles nach Plan – bevor acht Monate später alle ­Pläne über den Haufen geworfen werden mussten. Denn die Coronavirus-Pandemie ließ keinen Stein auf dem anderen, und auch Michelin musste seinen Transformations­prozess transformieren.

„Wo uns gerade noch Themen rund um ­Co-Construction und New Work beschäftigten, waren wir plötzlich mit der Frage konfrontiert, wie wir überhaupt eine Verbindung zwischen der physischen Arbeitswelt und dem Homeoffice schaffen. Das hatten wir als Thema zwar im Hinterkopf, dachten aber, dass es eher in vier oder fünf Jahren schlagend wird“, erinnert sich Taneja im Forbes-Interview, das wir mit ihm über Zoom führen. Während Softwareunternehmen teils schon seit Jahren remote arbeiten, verdient Michelin den Großteil seines Geldes mit einem physischen Produkt, nämlich dem Verkauf von Reifen. Die Herausforderungen seien da schon noch mal andere, so Taneja: „Wir haben genügend Führungskräfte, die sich wohler fühlen, wenn sie ihre Mitarbeiter vor Ort haben. Da ist also auch ein Umdenken im Führungsstil notwendig.“

Die Veränderungsgeschwindigkeit war ­massiv erhöht – dass man jedoch etwas tun muss, wurde dem Konzern schon deutlich früher klar. Dabei lief es eigentlich gut bei ­Michelin: 2019 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 24,13 Milliarden €, fast 10 % mehr als 2018; der Gewinn stieg von 1,8 auf 1,87 Milliarden €. Doch über 90 % des Umsatzes entstammen dem Geschäft mit dem Kernprodukt Reifen – die Mobilität wird durch Megatrends wie autonomes Fahren und Sharingmodelle jedoch gerade grundlegend auf den Kopf gestellt. Auch die aktuell stattfindende ­vermehrte Homeoffice-Nutzung dürfte die Mobilitätsbedürfnisse verändern. „Wir stellen uns gerade die Frage“, so Taneja, „welche Rolle der Reifen in ­Zukunft überhaupt spielen wird.“ Die Wichtig­keit dürfte laut ihm aber auch in Zukunft nicht abnehmen: „Nehmen wir das Thema autonomes Fahren: Eine Reifenpanne wäre hier ein Desaster.“

Anish Taneja
...studierte BWL in Stuttgart und Kopenhagen und absolvierte eine Ausbildung bei der Lufthansa. Über Stationen u. a. bei Europcar und Sixt landete er 2013 beim französischen Reifenhersteller Michelin – seit 2018 ist Taneja dort President & CEO Europe North.

1889 als kautschukverarbeitende Produktionsstätte im Zentrum Frankreichs von den Brüdern André und Édouard Michelin ­gegründet, entwickelt das Unternehmen heute hochquali­tative Reifen, 2020 wurde sogar der Konkurrent Bridgestone vom Thron als größter Produzent weltweit gestoßen. Michelin bewies jedoch immer schon ein Händchen für ungewöhnliche ­Erweiterungen des Geschäfts: Als die Gründerbrüder 1910 Frankreich kartografieren wollten, fingen sie mit dem Geschäftsbereich Straßen­karten und Navigation an – daraus entstand ein bis heute relevanter Umsatztreiber. Die skurrilste Geschichte ist jedoch, wie der Guide Michelin und seine Sterne ihren Anfang nahmen. Oft gar nicht mit dem Reifenhersteller assoziiert, entscheiden die Michelin-Sterne – bis zu drei können pro Betrieb vergeben werden – heute quasi im Alleingang, welche die besten Restaurants und Hotels weltweit sind. All das fing im Jahr 1900 als Wegweiser bezüglich der Frage, wo man die besten Werkstätten für sein Auto finden kann, an. Erst rund 20 ­Jahre später begann der Guide Michelin auch, Hotels und Restaurants zu empfehlen. Wiederum 100 Jahre später ist daraus der Geschäftsbereich geworden, der Michelin den weltweit größten Wiedererkennungswert verschafft.

Genau diese Fähigkeit zum Erkennen und Nutzen von Nischen will Michelin auch jetzt anwenden. Denn laut Taneja ist klar, dass ­rasantes Wachstum trotz der anhaltenden Bedeutung des Reifens in diesem Segment in Zukunft nicht zu erwarten ist. „Wir gehen im Kernprodukt von ­stabilen Märkten aus. Das große Wachstum aber wird nicht hier passieren, egal, wie sehr wir das Produkt auch verbessern“, so der Manager. Verbessern will man sich aber ­dennoch: So entstand kürzlich der luftlose, 3D-gedruckte Reifen Uptis, der 2019 beim Award „Goldenes Lenkrad“ den Preis für die beste Innovation erhielt.

Unabhängig davon diversifiziert ­Michelin aber sein Portfolio. Bereits 2015 startete man mit dem Maschinenbaukonzern Fives im Bereich 3D-Druck ein Joint Venture namens Add Up. Auch mit dem Technologieunternehmen Faurecia startete man ein gemeinsames Unternehmen namens Symbio, das sich dem Wasserstoffauto verschrieben hat. Und beim Thema Kreislaufwirtschaft wurde ein 20-%-Anteil am schwedischen Unternehmen Enviro gekauft, das die Materialien alter Reifen für die Neuproduktion nutzbar ­machen soll. All diese Aktivitäten werden neu in einer eigenen Businessunit gebündelt: Business Development New Ventures. „Die Welt verändert sich“, so Taneja, „und wenn wir die Innovationen in unserer Branche nicht bringen, dann macht es eben jemand anderer. Das wollen wir verhindern.“

Wer wie ich einen internationalen Hintergrund hat und ständig Flugzeuge sieht, will irgendwann die Welt entdecken.

Anish Taneja interessierte sich schon in frühen Jahren für Mobilität. Taneja wuchs als Sohn einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters auf; sein Vater war als Städteplaner bei der United States Air Force für die Gestaltung der Air Base zuständig. Die Familie wohnte in Luisen­burg, in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens. „Wer wie ich einen internatio­nalen Hintergrund hat und den ganzen Tag nur Flugzeuge sieht, will dann auch irgendwann die Welt entdecken“, erzählt Taneja. Es war also wenig verwunderlich, dass er in seiner Jugend Pilot werden wollte. Er fing mit der Ausbildung an – doch es war kein Fit, wie man heute neudeutsch sagen würde: „Ich bin beim Abarbeiten von Standardprozessen nicht so gut.“ Taneja war dennoch noch fünf Jahre bei der Lufthansa tätig, bevor er über Rent-a-Car und Europcar beim Autovermieter Sixt landete. 2013 wechselte Taneja schließlich zu Michelin, 2018 ­wurde er in seine aktuelle Position als CEO der ­Region Nordeuropa berufen. Taneja ist extrovertiert, kommuniziert viel, geht gerne auf Menschen zu – und dennoch bezeichnet er die interne Kommunikation als seine aktuell größte Herausforderung: „Alle Mitarbeiter wirklich mitzunehmen ist das Schwierigste in dem ganzen Prozess. Da hilft nur brutale, völlig ehrliche Kommunikation.“

Was das tatsächlich bedeutet, erlebte ­Taneja am eigenen Leib. 2019 verkündete ­Michelin, dass das Reifenwerk in Bamberg nach 50 Jahren geschlossen wird – nicht mehr wirtschaftlich tragbar, hieß es. Ende 2020 sollte der letzte Reifen vom Band gehen, 858 Mitarbeiter waren betroffen. Doch Michelin wollte keine verbrannte Erde hinterlassen. „Wenn wir uns auf die Fahnen schreiben, dass alles, was wir tun, nachhaltig sein muss, dann müssen auch unsere Werksschließungen nachhaltig sein“, so Taneja. Doch was heißt das konkret? „Das heißt, dass die Mitarbeiter einen neuen Job finden und die Region in den nächsten Jahrzehnten von dem, was dort entsteht, weiter profitieren kann.“

 

MICHELIN IN ZAHLEN (2019)
(Quelle: Michelin)

In Kooperation mit der bayerischen Landespolitik, die 42 Millionen € in Bamberg und einem ähnlichen Projekt in Nürnberg investiert, sowie lokalen Unternehmen wurde der Bamberg Clean­tech Park begründet. Das Michelin-Areal soll revitalisiert werden: Neue Mobilitätskonzepte, Antriebssysteme und grüne Spitzentechnologien stehen laut offiziellen Angaben im Fokus. Was genau das heißt und was der Park letztendlich liefert, bleibt jedoch auch auf Nachfrage offen. Taneja spricht von einer „Konzeptionsphase“. „Ich sehe eine große Chance für alle interessierten Unternehmer und Forscher, sich mit ihren Themen- und Technologiefeldern rund um die Mobilität von morgen einzubringen, Prototypen zu bauen und diese zur Marktreife zu entwickeln.“

Das klingt wie die Ansage eines ewig optimistischen Start-up-Gründers. Nicht umsonst antwortet Taneja auf die Frage, wie er Michelin 2021 beschreiben würde, wie folgt: „Michelin ist weltweit führend in der Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Hochleistungsreifen. ­Gleichzeitig sind wir aber auch eines der inte­ressantesten Start-ups für innovative Mobilitäts­konzepte, die es weltweit gibt.“

Text: Klaus Fiala
Foto: Michelin

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 1/2–21 zum Thema „Innovation & Forschung“.

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