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Das Münchner Start-up Proxima Fusion will mit Stellaratoren die Kernfusion meistern – und hat dafür gerade 130 Mio. € eingesammelt. CEO Francesco Sciortino erklärt, wie Proxima die Kernfusion zur Realität machen möchte.
Das Versprechen ist gewaltig: Sollte es jemand schaffen, Energie aus Kernfusion herzustellen, würde diese Energie ohne Treibhausgase oder andere schädliche Nebenprodukte erzeugt werden. Das Wandmaterial des Reaktors müsste nach einiger Zeit ausgetauscht und als leicht radioaktives Material gelagert werden, anders als bei der Kernspaltung besteht aber keine Gefahr eines GAUs. Dazu kommt, dass die Ausgangsstoffe – schwerer und überschwerer Wasserstoff (Deuterium und Tritium) – quasi unerschöpflich sind.
Francesco Sciortino ist angetreten, dieses Versprechen einzulösen. Der 32-jährige Physiker aus Italien leitet Proxima Fusion, ein Start-up mit mittlerweile 90 Mitarbeitern und Standorten in München, am Paul Scherrer Institut in der Schweiz und im Culham Fusion Centre in Großbritannien. Das Ziel des Start-ups, das sich aus dem Max-Planck-Institut (MPI) für Plasmaphysik ausgegründet hat, ist es, Europas erstes kommerzielles Fusionskraftwerk zu bauen. Kürzlich hat das Unternehmen in einer Series-A-Runde 130 Mio. € aufgenommen – die größte private Finanzierungsrunde für Fusionsenergie in Europa. Angeführt wurde sie von Cherry Ventures und Balderton Capital, auch Lightspeed Venture Partners ist neu dabei.
Bis 2031 will Proxima einen „Demonstrator“, also eine Art Prototyp, namens „Alpha“ bauen, der erstmals kontinuierlich mehr Energie erzeugt, als er verbraucht. Solche Versprechen sind nicht neu – seit dem Zweiten Weltkrieg forscht man an Fusionsreaktoren, bisher vergeblich. Warum sollte es diesmal anders sein?
Sciortino beschreibt sich als Physiker „aus dem Tokamak-Lager“. Tokamaks sind die konventionellere Variante von Fusionsreaktoren, donutförmige Magnetkäfige für Plasma, das auf über 100 Millionen Grad erhitzt wird. Sciortino absolvierte seinen PhD am MIT, bevor er 2022 nach Europa zurückkehrte. Am Institut für Plasmaphysik der Max Planck Gesellschaft wurde er einer der Koordinatoren für Tokamak-Forschung in Europa. Im selben Jahr zeigte der Stellarator Wendelstein 7-X, dass es theoretisch möglich ist, mit Stellaratoren Kernfusion zu betreiben und Energie zu gewinnen. Anders als Tokamaks können Stellaratoren – sie sehen aus wie „verzwirbelte Donuts“ – kontinuierlich laufen. „Tokamaks sind immer gepulst und fundamental instabil. Sie ermöglichen gute Experimente, aber keine Kraftwerke“, so Sciortino. Bei Stellaratoren soll das anders sein.
Sciortinos Mitgründer Jorrit Lion arbeitete im Rahmen seiner Doktorarbeit am MPI an genau solchen Stellarator-Designs. Lion und Sciortino kannten sich aus der Forschung. Der Italiener holte zudem seinen Jugendfreund Martin Kubie mit an Bord – der Maschinenbauingenieur hatte in der Formel 1 gearbeitet, war dann zu Google und Google X gewechselt und leitete später das Simulationsteam beim Drohnen-Start-up Wing. „Wir brauchten jemanden, der uns hilft, ein Team und eine Simulationsinfrastruktur aufzubauen“, erinnert sich Sciortino. Mit den Physikern Lucio Milanese, der Sciortino schon seit dem Studium am Imperial College begleitet hatte, und Jonathan Schilling war das Gründungsteam komplett.

Der Platzhirsch der Kernfusion ist Commonwealth Fusion Systems (CFS), ein Spin-off des MIT, das bereits über zwei Mrd. US-$ an Finanzierung eingesammelt hat. „CFS ist der Frontrunner, keine Frage“, gibt Sciortino zu – „aber sie setzen auf Tokamaks.“ Als CFS 2018 gegründet wurde, waren Stellaratoren noch nicht ausgereift, doch das US-Start-up bewies, dass sich mit Hochtemperatur-Supraleitern (HTS) extrem starke Magnetfelder erzeugen lassen, die es braucht, um das Plasma zu „steuern“. „Die nutzen wir auch“, so Sciortino, „aber während CFS flache Magnete baut, müssen wir verdrehte herstellen. Das ist eine ganze Dimension komplexer.“
Die 130 Mio. € aus der neuesten Finanzierungsrunde sollen für zwei Meilensteine reichen: einen Stellarator-Modellmagneten bis 2027 und das Design des Demonstrators Alpha. Der Demonstrator selbst koste etwa eine Milliarde, sagt Sciortino. Er soll bis 2031 gebaut werden und zeigen, dass die Technologie funktioniert, bevor Proxima kommerzielle Kraftwerke angeht. Neben Deeptech-Investoren und VC-Fonds ist Proxima mit Energieunternehmen im Gespräch – direkte Investitionen von solchen gab es aber bisher bewusst keine, sagt der Gründer, weil Proxima unabhängig von ihnen forschen möchte.
„Wir möchten Kraftwerke bauen, aber vor allem möchten wir das geistige Eigentum für den brennenden Kern des Kraftwerks entwickeln“, erklärt Sciortino den ganz großen Meilenstein, der in den 2030ern erreicht werden soll. Neben der Entwicklung der Magnete und der Skalierung auf eine Größe, in der die Technologie auch kommerziell nutzbar ist, ist das größte Problem die Herstellung von Tritium. Davon gibt es in der Natur weltweit nur 40 bis 50 Kilogramm. Im fertigen Reaktor solle dieses „gebrütet“ werden, sagt Sciortino. „Wir brauchen etwas Tritium für den Start und wir haben genug Tritium für den Start. Aber dann produziert der Reaktor sein eigenes Tritium, plus einen kleinen Überschuss. Mit diesem Überschuss kann man das nächste Kraftwerk einschalten. Das ist schwierig, aber kein Showstopper.“ Genau diese Tritium-Produktion ist aber einer der größten Knackpunkte der kommerziellen Kernfusion. Proxima hat gezeigt, dass es theoretisch möglich ist; bis es auch in der Praxis umgesetzt werden kann, braucht es wohl noch einige Jahre.
In der Branche witzelt man, der finale Durchbruch sei immer 30 Jahre entfernt. Sciortino widerspricht: „Die Entwicklung ist exponentiell. KI, neue Materialien, digitale Zwillinge – neue Technologien beschleunigen die Entwicklung.“ Als CFS startete, konnte der größte HTS-Produzent 100 Meter Supraleiter herstellen, erzählt der Italiener. Für einen Reaktor brauche man 10.000 Kilometer. „Heute können wir schon auf langjährige, öffentliche Investitionen in die Fusion Supply Chain hier in Europa aufbauen“, so der Physiker.
Sciortinos Auftreten ist selbstbewusst, obwohl noch große Fragezeichen zwischen Proxima und einem kommerziellen Fusionsreaktor stehen. Er glaubt an die Mission seines Start-ups, sie ist sein persönlicher Antrieb. „Ich mache das, was ich tue, nicht nur, weil es mir Spaß macht. Ich mache es wegen der Mission“, sagt er. Und er glaubt wohl auch an den Geschäftsfall: „Wenn wir 2031 Nettoenergie demonstrieren – intrinsisch stabil –, sind wir eines der wertvollsten Unternehmen auf dem Planeten.“ Das zumindest ist das Versprechen.
Francesco Sciortino (32) studierte Physik am Imperial College London und promovierte am MIT. Nach Forschung in Boston und San Diego kehrte er 2022 nach Europa zurück und gründete mit vier Kollegen Proxima Fusion.
Fotos: Fabian Vogl