DAWN OF THE NEOBANKS

Jeder kann mit dem nötigen Kleingeld und einer Internetverbindung eine Bank gründen. Viele Digitalbanken haben ihre Pforten bereits geöffnet – und Investoren wetten Milliarden, dass sie die klassische Bankfiliale ersetzen werden.

„Die Welt ist grenzenlos“, sagt Moneylion-Gründer und -CEO Dee Choubey, während er durch den Madison Square Park in Manhattan spaziert. Der 38-Jährige gönnt sich eine Mittagspause an der frischen Luft, denn das Büro von Money­lion, wo 65 Mitarbeiter an der Bank der Zukunft werken, ist eng besetzt. Choubey erzählt von jenen, zu denen er aufsieht: Unternehmen, die die Art und Weise, wie wir mit Geld umgehen, grundlegend verändert haben: Paypal und Square. Die beiden kommen zusammen auf eine Bewertung
von 150 Milliarden US-$.

„Unser Versprechen: Wir wollen der Vermögensverwalter und die Privatbank für die Mittelschicht sein“, sagt Choubey. Money­lion zählt aktuell rund 5,7 Millionen Nutzer (fast eine Verdoppelung gegenüber den drei Millionen Kunden, die der Dienst vor einem Jahr hatte) – eine Million davon sind zahlende Kunden. Viele davon kommen aus Texas und Ohio und legen monatlich rund 20 US-$ auf die Seite, um ein Girokonto bei Moneylion zu führen, ihre Bonität zu überwachen oder einen günstig verzinsten Kredit zu bekommen. Insgesamt bietet Moneylion sieben verschiedene Produkte an, darunter auch Vorschüsse auf das eigene Gehalt oder bald auch Dienst­leistungen eines Aktienbrokers. Choubey erwartet dieses Jahr einen Umsatz von 90 Millionen US-$, was einer Verdreifachung der Erlöse von 2018 (30 Mio. US-$) entspricht.

In der letzten Finanzierungsrunde, in der Moneylion 100 Millionen US-$ einsammelte, wurde das Unternehmen mit fast 700 Millionen US-$ bewertet. Bis Mitte 2020, so Choubeys Prognose, werde das Unternehmen profitabel sein. Um Kunden zu binden, so der Gründer, „müssen wir eine Produktfabrik sein“. So soll etwa bald ein Spar­konto lanciert werden.

Wie die meisten Start-up-Gründer glaubt auch Choubey, dass das Potenzial seines Unternehmens nahezu unbegrenzt ist. Doch der ehemalige Investmentbanker weiß auch, wie weit der Horizont in der Finanzbranche realistischerweise reichen sollte. Zudem ist er bei Weitem nicht der Einzige, der die Möglichkeiten in der Branche erkannt hat: Sogenannte Neobanken könnten drauf und dran sein, die nächsten Finanzgiganten zu wer­den. „Ich habe gehört, dass Chime eine neue Finanzierungsrunde mit einer Bewertung von fast fünf Milliarden US-$ plant“, so Choubey.

Rund um die Welt lösen Digitalbanken Kundenprobleme. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass es weltweit rund 5.000 Start-ups gibt, die Finanzdienstleistungen aller Art anbieten – vor drei Jahren lag dieser Wert erst bei 2.000 Jung­unternehmen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2019 investierten Risikokapitalgeber 2,9 Milliarden US-$ in Neobanken, 2018 waren es laut dem Datenanbieter CB Insights im Gesamtjahr „nur“ 2,3 Milliarden US-$ gewesen.

Tim Spence von Fifth Third: „Worum ich die Start-ups, mit denen wir konkurrieren, wirklich beneide, sind die Talente, die sie anziehen.“

Diesem Boom liegt eine neue Infrastruktur zugrunde, die den Start von neuen Banken günstig und einfach macht. Zudem gibt es eine neue Generation, die ihre Bank­geschäfte – wie alles andere auch – lieber am Smartphone abwickelt. Während die Gründung einer „echten“ Bank Jahre und Millionen an Beratungskosten benötigt, er­mög­lichen es Plug-and-Play-Anwendungen, Start-up-Banken mit nur rund 500.000 US-$ zu starten.

Mithilfe von Intermediär­plattformen können Digitalbanken die Produkte der „Großen“ anbieten: Sparkonten, Girokonten mit Debitkarten, Kreditkarten, Währungswechsel. Das gibt den Fintechs die Freiheit, sich auf eine Nische zu konzentrieren – egal,
wie klein diese auch sein mag.

Ein Beispiel dafür ist „Dave“. Diese Plattform soll Menschen von den Problemen permanenter Überziehungsgebühren erlösen. Dave (ja, das ist sein richtiger Name) ist eine App, die mithelfen soll, dass besagte Kosten der Vergangenheit angehören. Sie wurde von dem 34-jährigen Serienunternehmer Jason Wilk entwickelt, der damals keinerlei Erfahrung mit Finanzdienstleistungen hatte. Dave verlangt von seinen Nutzern monatlich einen Dollar und zahlt, wenn sie überziehen, sofort bis zu 75 US-$ als Vorschuss ein. Ein nettes kleines Geschäft – aber nichts, was die Finanzriesen nervös machen würde.

Doch dann beschloss Wilk, Dave in eine Neobank umzuwandeln. Im Juni 2019 führte er mithilfe von Synapse – einem in San Francisco ansässigen Unternehmen, das Produkte anbietet, die es Start-ups ermöglichen, Bankprodukte zu offerieren – ein eigenes Girokonto inklusive Debitkarte ein. Nun verdient Dave Geld mit den Wechselgebühren – jenen 1 bis 2 %, die bei der Zahlung mit Debitkarte von Einzelhändlern abgegeben werden. Diese Gebühren werden zwischen Banken und Kartenausstellern (wie Dave) aufgeteilt. Wilk prognostiziert optimistisch, dass Dave in diesem Jahr mit seinen 4,5 Millionen Nutzern 100 Millionen US-$ umsetzen wird – gegenüber 19 Millionen US-$ im Jahr 2018, dem Jahr, bevor Dave sich in eine Neobank verwandelte. Das Unternehmen wurde kürzlich mit einer Milliarde US-$ bewertet.

Etablierte Fintechs, die nicht im Bankwesen begonnen haben, steigen ebenfalls ins Spiel ein. Die in New York ansässige Firma Betterment, die Aktien- und Anleihen­investitionen ihrer Kunden in der Höhe von 18 Milliarden US-$ verwaltet, richtete kürzlich ein Sparkonto mit hohen Zinsen ein. Es hat innerhalb von zwei Wochen eine Milliarde US-$ an Einlagen erhalten. „Das war beispiellos. Wir sind noch nie so schnell gewachsen“, staunt Jon Stein, CEO und Mitgründer von Betterment. Jetzt will er weitere Produkte lancieren.

Neobanken entwickeln sich schnell zu einer großen Bedrohung für traditionelle Banken. McKinsey schätzt, dass 2025 bis zu 40 % ihrer Einnahmen durch die neue digitale Konkurrenz gefährdet sein könnten. „Ich glaube nicht, dass es einen Net­flix-Moment geben wird, an dem Fintechs die Banken aus dem Markt drängen“, sagt Nigel Morris, Partner beim Venture-Capital-Unternehmen QED Investors. „Sie (traditionelle Banken, Anm.) sind komplizierte Unternehmen, die komplexe regulatorische Fragen lösen und relativ träge Kunden bedienen müssen.“ Aber er sagt auch: „Wenn sie (gemeint sind Neobanken, Anm.) die Menschen dazu bringen, ihre in Anspruch genommenen Dienstleistungen auf einer Plattform zu bündeln, können sie einen großen Anteil bekommen. Das wäre ein echter Gamechanger.“

Jon Stein, CEO von Betterment, baute sein Unternehmen rund um den Robo-Advisor-Dienst auf. Nun will Stein sein Glück als Banker versuchen.

Diwakar (Dee) Choubey wollte Ingenieur werden, nicht Investmentbanker. Er wurde in Indien geboren und kam mit vier Jahren in die USA, als sein Vater ein Ingenieurstudium an der Syracuse University abschloss. Die Familie landete in New Jersey. Choubeys Mutter unterrichtete autistische Kinder, sein Vater arbeitete als Ingenieur bei Cisco – und plante die Zukunft seines Sohnes.

Als Choubey 1999 an der University of Chicago studierte, schrieb er sich für eine Reihe von Informatikkursen ein, die sein Vater ausgesucht hatte. Er gab aber schnell auf und studierte Wirtschaftswissenschaften. Nach seinem Abschluss mit Auszeichnung ging er ins Investment­banking, wo er das nächste Jahrzehnt bleiben sollte.

Er sah, dass die traditionellen Banken langsam auf ihre Kunden reagierten und die Möglichkeiten von Smartphones nicht ausnutzten. Das – und zahlreiche Skandale – überzeugten Choubey, dass es einen digitalen Privatbankier brauchte. Er kündigte, verzichtete damit auf sein fast siebenstelliges Gehalt und gründete Moneylion.

Choubey sammelte eine Million US-$ Startkapital und bot zunächst kostenlose Kreditprüfungen und Mikrokredite an. Doch er hatte Mühe, mehr Geld aufzutreiben – 40 Risikokapitalgeber lehnten ab. Während Choubey erfolglos an VC-Türen klopfte, hielt sich Moneylion mit geringen Einnahmen aus Kreditzinsen über Wasser, sammelte aber eine Menge Daten über das Verbraucherverhalten. Schließlich überredete Choubey 2016 Edison Partners, eine Investition von 23 Millionen US-$ anzuführen. Dies ermöglichte es Moneylion, einen Robo-Advisor hinzuzufügen, der es den Nutzern ermöglicht, mit nur 50 US-$ in Aktien und Anleihen zu investieren. 2018 fügte er ein kostenloses Girokonto und eine Debitkarte hinzu, die von der in Iowa ansässigen Lincoln Savings Bank ausgegeben wurden.

Die Verwaltung des schnellen Wachstums bei gleichzeitigem Bemühen, die Kosten niedrig zu halten, erwies sich als schwierig. Moneylion wurde im vergangenen Frühjahr und Sommer von einer Flut von Beschwerden heimgesucht. Einige Kunden mussten lange Verzögerungen bei der Überweisung ihres Geldes auf oder von ihren Moneylion-Konten hinnehmen und erhielten, als sie sich um Hilfe bemühten, nur standardisierte Antworten. Choubey sagt, die Softwarepannen seien behoben worden; er erhöhte die Zahl der Kundenbetreuer von 140 auf 230.

Auch andere Neobanken hatten Wachstumsschwierigkeiten. Im Oktober hatte das in San Francisco ansässige Unternehmen Chime bei fünf Millionen Konten technische Probleme, die sich über drei Tage erstreckten. Die Kunden konnten ihren Kontostand nicht einsehen, einige waren zeitweise nicht in der Lage, ihre Debitkarten zu benutzen. Chime machte einen Partner – Galileo Financial Tech­nologies, eine Plattform, die von vielen Fintech-Start-ups zur Abwicklung von Transaktionen ­genutzt wird – für den Ausfall verantwortlich.

In seinem karierten Sport­jackett ohne Krawatte sieht Tim Spence nicht wie ein klassischer Banker aus, und das ist er auch nicht. Der heute 40-Jährige verbrachte die ersten sieben Jahre seiner Karriere bei Start-ups für digitale Werbung. Er wechselte zu Oliver Wyman in die Beratung, wo er Banken bei der digitalen Transformation beriet. 2015 lockte ihn das Fintech Fifth Third mit der Position des Chief Strategy Officers. Mittlerweile ist Spence auch für das Verbrauchergeschäft und den Zahlungs­verkehr zuständig – womit er eine Verantwortung für drei der insgesamt 6,9 Milliarden US-$ Umsatz hat. 2018 erhielt er eine Vergütung in der Höhe von drei Millionen US-$ und damit das vierthöchste Gehalt im Unternehmen.

 

Die Anführer der Neobanken

Fifth Third hat 1.143 Filialen, doch Spence konzentriert sich auf Dobot, eine mobile Anwendung, die die Bank 2018 erworben und dieses Jahr neu lanciert hat. Dobot hilft Nutzern, sich persönliche Sparziele zu setzen, und verschiebt dann Geld automatisch vom Girokonto auf ein Sparkonto. „Wir haben innerhalb von sechs Monaten 80.000 Downloads erreicht, ohne dass wir viel für Marketing ausgeben mussten“, sagt Spence.

Das Aufspüren neuer Pro­dukte ist Teil einer dreigleisigen „Buy – Part­ner – Build“-Strategie, die Spence zur Bekämpfung der Herausforderungen entwickelt hat. Partnering bedeutet sowohl Inves­titionen in Fintechs als auch die Bereitstellung von Krediten für diese Neuankömmlinge. Fifth Third hat eine umfassende Vereinbarung mit dem Fonds QED, der Fifth Third die Möglichkeit gibt, selbst in die von der VC-Firma unterstützten Start-ups zu investieren.

Die besten Partnerschaf­ten bieten Fifth Third Zugang zu jüngeren Kreditnehmern, insbesondere jenen mit hohem Einkommen. 2018 leitete Fifth Third eine 50-Millionen-US-$-Finanzierungsrunde für Common Bond, ein Start-up, das Hochschulabsolventen die Refinanzierung ihrer Studentendarlehen zu günstigen Zinssätzen ermöglicht. In ähnlicher Weise hat Fifth Third in zwei Start-ups in San Francisco investiert: Lendeavor, eine Onlineplattform, die junge Zahnärzte, die neue Privatpraxen eröffnen, mit Krediten unterstützt, und Apple Pie Capital, das Geld an Fast-Food-­Franchisenehmer verleiht.

„Worum ich die Start-ups, mit denen wir konkurrieren, am meisten beneide, ist die Qualität der Mit­arbeiter, die sie anziehen. Das ist wirklich bemerkenswert“, sagt Spence. Doch obwohl Spence sie manchmal beneidet, ist er nicht davon überzeugt, dass die Neobanken in das Gebiet der traditionellen Banken eindringen: „Keine von ihnen hat gezeigt, dass sie das primäre Bankgeschäft wirklich übernehmen können“, so Spence.

Er argumentiert auch, dass es für den Aufbau langfristiger Kundenbeziehungen immer noch wichtig sei, physische Filialen zu haben. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage von Javelin unter 11.500 Verbrauchern bewerteten ebenso viele die Onlinefähigkeiten wie auch die Bequemlichkeit der Filialen als die wichtigsten Faktoren bei der Entscheidung, ob sie bei einer Bank bleiben. Fifth Third hat die Gesamtzahl seiner Filialen um durchschnittlich 3 % pro Jahr reduziert, eröffnet aber neue, die auf das digitale Zeitalter abgestimmt sind. Die neuen Filialen sind kleiner, statt Schlangen an Kassaschaltern gibt es Servicebars und Besprechungsbereiche mit Sofas. Mit Tablets ausgestattete Banker begrüßen die Kunden an der Tür – ähnlich einem Apple-Store.

Das wirft die Frage auf, ob eine der Jungbanken so erfolgreich sein wird, dass sie physische Filialen eröffnet – so, wie es die Internethändler Warby Parker, Casper und natürlich Amazon getan haben. Immerhin ist das schon einmal passiert: Capital One war Anfang der 1990er-Jahre Pionier bei der Verwendung großer Datenmengen für den Verkauf von Kreditkarten und damit eines der ersten erfolg­reichen Fintechs der Geschichte. Doch im Jahr 2005 begann das ­Unternehmen mit der Übernahme traditioneller Banken – heute ist Capital One die zehntgrößte Bank der USA mit einem Vermögen von 379 Milliarden US-$ und 480 Filialen.

Text: Jeff Kauflin / Forbes US
Foto: Michael Prince / Forbes US

Der Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2020 „Radical Change“ erschienen.

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