DEN MOMENT ERFASSEN

2004 kaufte sich Andreas Kaufmann seine erste Kamera von Leica. Das Produkt schien ihm zu gefallen, denn nur zwei Jahre später kaufte er sich das Unternehmen dahinter. Seitdem arbeitet der Chef von Leica Camera daran, eine der bekanntesten Marken der Welt wiederaufleben zu lassen. Denn trotz Smartphones und globaler Pandemie ist Leica laut Kaufmann voll von Wachstum, Kooperation und Diversifizierung.

Im Jahr 2004 stand es nicht gut um Leica. Die digitale Fotorevolution war bereits in vollem Gange, der renommierte Kamerahersteller am Rande des Bankrotts. Der Umsatz für das Geschäftsjahr 2004 war um mehr als 17 % eingebrochen, Leica Cameras damaliger Großaktionär Hermès versuchte, das deutsche Unternehmen zu retten. Dessen Technologie hatte sich weit von den Kernprodukten des französischen Luxus­konzerns entfernt. Kurzum: Einer der letzten verbliebenen Kamerahersteller Europas – im 20. Jahrhundert ein Pionier der modernen Fotografie – brauchte dringend eine Wiederbelebung. Doch auch der deutschen Wirtschaft insgesamt ging es damals nicht gut. Das Land war 2004 gerade wieder in eine Rezession gerutscht, die Arbeitslosenquote lag bei fast 10 %. „Deutschland wurde damals als der ‚Kranke Mann Europas‘ angesehen“, erinnert sich Andreas Kaufmann. Der deutsche Geschäftsmann, der 2002 das Investmentvehikel ACM ­Projektentwicklung GmbH gegründet hatte, war auf der Suche nach Unternehmen mit Potenzial. „Was die Wirtschaft angeht, war Deutschland psycho­logisch nicht in einem guten Zustand. Die Preise waren im Keller“, sagt er, „Das ist normalerweise eine Situation, in der man zukauft.“ Ein ge­­dämpftes Klima, ein angeschlagenes Unter­nehmen, eine berühmte Marke: Das waren die Zutaten, die Kaufmann sammelte, um sich 2004 27,4 % an Leica zu sichern.

Innerhalb von nur fünf Jahren restruk­turierte Kaufmann das gesamte Unternehmen, brachte im Zuge dessen das erste digitale Modell der berühmten Kamera Leica M auf den Markt und drehte das Unternehmen auf Profitabilität. Viele sehen in Kaufmann – der heute noch 55 % der Anteile hält, während die Blackstone Group die restlichen 45 % besitzt – Leicas Retter. Doch er schüttelt den Kopf: „Das ist ein Begriff, den man im Christentum verwenden sollte“, sagt er. Der 67-jährige Deutsche, der in Salzburg wohnt, steht nicht gerne im Rampenlicht – obwohl er kürzlich für seine Verdienste um Wirtschaft und Kultur mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. „Man hat es nie allein in der Hand, an einem solchen Erfolg sind viele Menschen beteiligt“, sagt Kaufmann.

Heute erwirtschaftet Leica mit 1.800 Mit­arbeitern rund 400 Mil­lionen € Jahres­umsatz. Schätzungen von Forbes DACH ergeben, dass Leica eine Bewertung von rund 650 Millionen € hat. Kaufmann führt den Turnaround auf die Rekapitalisierung, das Onboarding neuer Ma­nager und einen Strategiewechsel zurück: „Das Entscheidende war, dass wir uns ent­schieden haben, auf die Distribution und den stationären Handel zu setzen“, erklärt er. „Das ist der große Unterschied zu anderen Tech-Unternehmen.“ Heute zählt das Unternehmen 85 Leica-Stores und 150 weitere Boutiquen und Concession Stores, wobei die stärksten Märkte die USA, China, Deutschland, Japan und Korea sind. Eine neue Niederlassung in Dubai wurde im Mai eröffnet – und Leicas Fußabdruck soll noch weiter ausgedehnt werden: „Im Lateinischen würde man es Terra incognita nennen, un­bekanntes Territorium“, sagt Kaufmann.

Mitten im Lahntal im deutschen Hessen liegt die Industriestadt Wetzlar. Die 50.000 Einwohner zählende Stadt ist als ehemalige Reichsstadt und als Inspiration für Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ bekannt. Hier entstand die erste Leica, eine Kleinbild-Filmkamera, die 1914 von Oskar Barnack für die Optikfirma Ernst Leitz konstruiert wurde. Seitdem haben Leicas (ein Portmanteau aus Leitz und Camera) einige große Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts festgehalten: Vom historischen Bild des „Napalm Girl“ aus dem Vietnamkrieg (1972) bis zum Schnappschuss des marxistischen Revolutionärs Che Guevara von Alberto Korda, das heute zu den am meisten reproduzierten Bildern aller Zeiten zählt. Beide hängen an der Wand in Kaufmanns Büro, signiert von den jeweiligen Fotografen. Leica begründete eine neue Ära, eine des Fotojournalismus und der Straßenfotografie. Und der kleine rote Punkt – das Erkennungsmerkmal der Marke – hat es sogar bis nach Hollywood ge­schafft: Scarlett Johansson trug eine Leica im Film „Vicky Cristina Barcelona“, sowie auch Julia Roberts in „Closer“.

„Wir bieten Fotografen – wir unterscheiden nicht, ob sie Amateure oder Profis sind – etwas, das einzigartig ist und das Licht auf eine ganz gewisse Art einfängt,“ sagt Kaufmann. Und weiter: „Fotograf zu sein, bedeutet, zu versuchen, die Zeit in einem bestimmten Moment anzuhalten. Das ist eine wirklich komplexe Kunst, und dazu braucht man gute Werkzeuge.“ Der Leica-Werkzeugkasten umfasst das ikonische – und hochprofitable – M-System (das M stand ursprünglich für „Mess­sucher“). Weitere Produkte sind die Kompakt­kamera Q2 mit festem Objektiv, die „Superzoom“-Kamera V-Lux 5 für Sport- und Reisefotografie und Leicas Version der Sofortbildkamera, „Sofort“, um nur einige Beispiele zu nennen. Doch für Kaufmann ist die Mittelformat-S-Serie, die sich an professionelle Fotografen richtet, der größte Meilenstein. Insgesamt erwirtschaftet Leica über 90 % seines Umsatzes mit Foto­ausrüstung – der Rest kommt aus der Sportoptik (Ferngläser oder Zielfernrohre) und dem Lizenzgeschäft.

Man hat es nie allein in der Hand – an einem solchen Erfolg sind viele Menschen beteiligt.

Die gehobene Nischenmarke hat ihren Preis, einige Modelle kosten über 18.000 €. Das macht Leica zu einer Anomalie im Digitalkameramarkt, der laut dem Datenanbieter Statista zu mehr als 80 % von japanischen Herstellern wie Canon, Sony und Nikon dominiert wird. Doch Leica vermeidet das Wort „Konkurrenz“. „Wir haben eine gewisse Positionierung am Markt, weil wir technologisch immer etwas anders gemacht haben“, sagt Kaufmann. (Er verweist auf die Leica-M-Monochrom-Kamera, die nur in Schwarz-Weiß fotografiert.) Konkurrenz hin oder her – die gesamte Branche hatte im vergangenen Jahrzehnt mit Gegenwind zu kämpfen. Laut der Camera & Imaging Products Association (Cipa), die sich aus den größten japanischen Herstellern zusammensetzt, ist der Absatz von Digital­kameras von einem Höchststand von 121 Mil­lionen Stück im Jahr 2010 auf weniger als neun Millionen im Jahr 2020 gesunken. Die Entwicklung von und bei Smartphones (einige haben inzwischen einen hundertfachen Zoom und Sensoren mit 108 Megapixel) hat dazu geführt, dass Giganten wie Kodak Konkurs anmelden mussten (2012) und Olympus aus dem Kamera­geschäft ausstieg (2020).

Um an der Spitze zu bleiben, folgt Leica dem Motto „If you can’t beat ’em, join ’em“. „Wir sind kein Telefonhersteller, aber wir verstehen viel von einem der Hauptmerkmale des Smartphones: Video und Fotografie.“ Das Marktforschungs­unternehmen Infotrends schätzt, dass 85 % der 1,2 Billionen Fotos mit einem Smartphone geschossen werden. 2016 ging Leica eine Partnerschaft mit dem chinesischen Smartphonehersteller Huawei ein – die Zusammenarbeit endete 2021 angesichts des rückläufigen Wachstums von Huawei. Leica hat sich nun mit Sharp zusammengetan, um die Optik und Kamera im Smartphone Aquos R6 für den japanischen Markt zu entwickeln.

Andreas Kaufmann
...wurde in Mannheim geboren und promovierte in Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Im Jahr 2004 investierte er in Leica Camera und erwarb 2006 die Mehrheit der Anteile. Seit 2009 ist er Aufsichtsratsvorsitzender.

Als wir Kaufmann über Zoom ­inter­viewen, ist er von allerlei Schnickschnack umgeben: einem Steiff-Teddybären mit Leica-Kamera und Covid-Maske, einer Collagetafel mit einem „I love Leica“-Schild sowie von zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos, die an der Wand hängen. Doch die Fotografie war nicht immer Teil seines Lebens. Kaufmann wuchs in Mannheim auf und verbrachte einen Großteil seiner Kindheit zwischen Deutschland und Österreich. Er füllte die Zeit mit Geschichte, Politik und Literatur – und promovierte in Literaturwissenschaft an der Uni­versität Stuttgart. Später war er 15 Jahre lang Lehrer an einer Waldorfschule in Göppingen. Auch in unserem Gespräch blitzt diese Seite auf: Er zitiert Latein und spricht über seine Sammlung an Renaissance-Kunstwerken.

Doch die Wirtschaft war nie weit entfernt. Sein Vater war leitender Angestellter bei der Naturkosmetikfirma Weleda. „Zu Hause haben wir oft beim Frühstück über Dinge diskutiert, etwa ein Heilmittel für Krebs“, erzählt Kaufmann. Seine Familie – bestehend aus den Kaufmanns und Hartmanns – besaß zudem ein erfolgreiches Papier- und Zellstoffunternehmen namens Frantschach (das Unternehmen gehört heute zum in London notierten Papierkonzern Mondi). Das machte sie zu einer der reichsten Familien Österreichs. Dennoch war davon wenig zu spüren. Kaufmann: „Ich bin sehr sparsam aufgewachsen. Meine erste Wohnung als Student war zehn Quadratmeter groß.“ Mit 13 Jahren bekam er seinen ersten Fotoapparat, ein Billig­gerät aus der DDR. Das Doppelleben – ein Fuß im Familienvermögen, einer in seinem Beruf als Lehrer – war anstrengend. „Manchmal musste ich zwischen einem Meeting in den USA und der Vorbereitung des nächsten Tests für meine Schüler hin- und herschalten“, lacht Kaufmann.

1991 wurden Kaufmann und seine beiden Brüder Christian und Michael von ihrer Tante adoptiert, nachdem deren Sohn verstorben war. Das bedeutete, dass sie nach und nach ein auf 1,5 Milliarden € geschätztes Vermögen erbten. „Reichtum ist eine schwierige Sache“, beginnt Kaufmann. „Geld wurde in unserer Familie immer als Werkzeug gesehen. Doch dann muss man es verantwortungsvoll einsetzen.“ (Nach Schätzungen von Forbes DACH ist alleine Kaufmanns Anteil an Leica 357 Millionen € wert.) Seine Bescheidenheit ist auch heute noch zu spüren. Auf seinem Instagram-Account („heavyleicauser“) sagt Kaufmann, weder eine öffent­liche Person noch ein Influencer zu sein.

Fotograf zu sein bedeutet zu versuchen, die Zeit in einem bestimmten Moment anzuhalten.

Der Schock der Coronapandemie ver­anlasste Kaufmann und die Leica-Führung, ihre Bargeldreserven zu prüfen. Alle Leica-Filialen weltweit, einschließlich der 26 Galerien, wurden geschlossen. Der Onlineverkauf erwirtschaftete nur 8 % des Umsatzes des Unternehmens. „Wir sagten: ‚Hoppla – 90 % des Umsatzes sind weg!‘“ Bei diesem Tempo rechnete Leica, nur noch zwölf Monate zu überleben. Die Produktion wurde gestoppt und in den beiden Fabriken in Deutschland und Vila Nova de Famalicão in Portugal wurde Kurzarbeit eingeführt. Es gab jedoch etwas Positives an der Krise: „Die Leute posten plötzlich Reisebilder aus 2017. Einige sind sogar zur analogen Fotografie zurückgekehrt, weil sie plötzlich die Zeit dazu hatten“, so Kaufmann. Die Rückkehr zur Oldschool-Fotografie löste einen Anstieg um 150 % bei Leicas Analogkameras aus, die Wartezeiten stiegen auf bis zu sechs Monate. Alles in allem schaffte es Leica, sich über Wasser zu halten. Der Umsatz von April 2020 bis März 2021 – das Unternehmen hat ein schiefes Ge­schäftsjahr – sank von 408 Millionen € auf 372 Millionen €; weit entfernt von der ursprünglichen Prognose. Doch Kaufmann ist optimistisch, dass das Unternehmen wieder auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehrt und im nächsten Geschäftsjahr die 400-Millionen-€-Marke überschreiten wird.

Wenn Kaufmann über die Zukunft spricht, ist klar, dass er nicht vorhat, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Leica hat einen Drei­jahresplan – die Diversifizierung ist nur eine Möglichkeit, Erfolg zu haben. Leica ist bereits in den Heimkinomarkt eingestiegen und ent­wickelt Projektoren mit der chinesischen Elektronikfirma JMGO. Eine neue Kollektion von High-End-Kamera-Accessoires wurde gemeinsam mit der italienischen Luxusmarke Ermenegildo Zegna entwickelt und steht seit Dezember in den Regalen. Und: Die ersten Leica-Uhren sollen noch in diesem Jahr ausgeliefert werden. In der Leica-Zentrale wird der Besucher von einer 15 Meter langen Zeitleiste begrüßt, die sich über die Wand im Eingangs­bereich erstreckt. Die Grafik der Firmen­geschichte ist noch unvollendet und bietet genug Platz, um die nächsten 100 Jahre Leica-Geschichte zu füllen. Kaufmanns Wunsch? Der ist einfach: „Das Einzige, was ich mir wünsche, sind Werkzeuge, die uns helfen, Fotokunst zu erschaffen. Wie dieses Werkzeug in zehn Jahren aussehen wird? Das werden wir sehen.“­­

Text: Olivia Chang
Fotos: Dirk Bruniecki

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 5–21 zum Thema „Travel & Tourism“.

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