Der Hoffnungsträger

Tim Woolmer, 41, ist der Gründer von Yasa, einem britischen Start-up, das einen revolutionären Elektromotor herstellt. Nun hat Mercedes-Benz die Firma gekauft. Die Innovation aus Oxford soll die Zukunft der AMG-Sportautos sichern – und ist ein Angriff auf den mächtigen Konkurrenten Tesla.

Manchmal kann es Tim Woolmer selbst kaum glauben. Die vergangenen Jahre fühlten sich wie eine aufregende Fahrt in einem Supersportwagen von Mercedes, Ferrari oder Lotus an – mit Vollgas ging es voran, rasant und schnell, den Horizont stets im Blick. „Wir haben eine erstaunliche Entwicklung hingelegt, am Anfang hätte ich das nicht für möglich gehalten“, so Woolmer. Der 41-jährige Brite aus Oxfordshire in England gerät selbst ins Staunen, wenn er vom Aufstieg seiner Firma erzählt. Woolmer ist Elektroingenieur und Gründer von Yasa, einem Start-up, das an der Mobilität von morgen tüftelt – und das seit Sommer 2022 zum Mercedes-Benz-Konzern gehört.

Der schwäbische Autobauer will seine Flotte bis 2030 komplett elektrifizieren. Und Woolmer – ein eloquenter Mann, der Neugierde und Begeisterung ausstrahlt – könnte bei dieser ehrgeizigen Strategie eine Schlüsselrolle zukommen. Seine Hochleistungs-Axialmotoren sollen die legendären AMG-Sportwagen beschleunigen – und auch symbolisch den in Zukunftsfragen lange behäbig agierenden Autobauer zügig in die Ära der E-Mobilität führen.

Vielleicht kann dank Woolmers Wundermaschinen sogar Tesla überholt werden – auch darauf dürfte man in Stuttgart hoffen. „Wir sind wie ein Schnellboot, das neben dem großen Tanker Mercedes flitzt“, beschreibt Woolmer die Beziehung seiner Firma zum Autogiganten aus Untertürkheim.

Doch verschwindet sein Speedboot im Fahrwasser des Tankers? Oder weist es diesem den Weg? Woolmer ist ein begnadeter und begeisterter Techniker und Innovator. Das Tüfteln an revolutionären Motoren liegt in der Familie: Sein Held und Vorbild ist sein Großvater Sir Bob Feilden. Der Ingenieur ging in die Geschichte ein, indem er zusammen mit dem Luftfahrtpionier Frank Whittle im Zweiten Weltkrieg das erste Stahltriebwerk für Düsenjets erfand.

Woolmer schraubte schon als Kind gerne an Spielzeugautos und programmierte am Computer. Als Student an der Universität Oxford, lange bevor E-Mobilität ein Thema war, forschte er zu Ladebatterien. Seine Idee war, Ladestationen direkt unter den Asphalt zu bauen, damit die Autos der Zukunft während der Fahrt die Batterien laden können – wie auf der Car­rera-Bahn. Viel­versprechender (und besser um­setzbar) war seine Forschung an Axialflussmotoren. Diese Technologie ermöglicht bei Motoren eine unübertroffene Leistungsdichte, Gewichts­reduktion und Beschleunigung.

Für seine Doktorarbeit entwickelte Woolmer 2008 einen Axialflussmotor mit einem Gewicht von 20 Kilogramm. Zum Vergleich: Ein Tesla-Motor wiegt mehr als 40 Kilo, der Antrieb des VW ID.3 sogar rund 90 Kilo. Zwar ist die Axialfluss-Technologie schon länger bekannt, doch Woolmers Verdienst war es, das Konzept weiterzuentwickeln und neu zu beleben, indem er etwa besonders leichte Materialien verbaute und eine Lösung für die Regelung der im Betrieb entstehenden Hitze fand.

Ein Jahr später gründete Woolmer sein Start-up Yasa. „Am Anfang hatte ich nicht viel mehr
als meinen Prototyp und eine Powerpoint-Präsentation“, erzählt der Brite. Viele Investoren belächelten die Idee eines bahnbrechenden Motors für das Zeitalter der Elek­tromobilität. Mögliche Geldgeber warnten: Im Automobilsektor gebe es keinen Markt, und selbst wenn es einen gäbe, dann würden Nischentechnologien keinen Profit bringen.

Woolmer ließ sich nicht entmutigen. Geld kam durch ein Gründerprogramm der Regierung, und der britische Traditions­autobauer Morgan beauftragte den Ingenieur mit kleineren Projekten. Woolmer optimierte derweil seine Motortechnologie. Der schwedische Supersportwagen-Hersteller Koenigsegg verbaute erstmals Yasa-Technologie in seinem Regera Hybrid-Hypercar (ein Monstrum mit 1.500 PS und einem Preiszettel von 1,5 Mio. €). Es folgte Ferrari, das Yasa-Technologie für seinen Luxus-Hybridwagen SF90 Stradale nutzt.

„Die Autoindustrie erinnert an eine Herde Schafe: Wenn eines in eine Richtung rennt, folgt bald die ganze Herde“, schmunzelt Woolmer. Und so ging es plötzlich auch bei Yasa, das heute 250 Mitarbeiter beschäftigt, rasend schnell: Die großen Autobauer der Welt rissen sich plötzlich um die Super­technologie; bis Mercedes-Benz im Sommer – offenbar auf Wunsch von Ola Källenius, der die Mercedes-Mutter Daimler als CEO führt – Woolmers Unternehmen und deren Innovation komplett übernahm und sich so die Zukunftstechnologie vor der Konkurrenz sicherte.

„Mit der Übernahme bekommen wir Zugang zu den bisherigen Entwicklungen und können gemeinsam Zukunftskonzepte entwickeln und industrialisieren“, heißt es bei Mercedes-Benz. Wie viel für den Deal bezahlt wurde, welchen Umsatz oder Profit Yasa erzielt, wird nicht kommuniziert. Auch Woolmer verspricht sich einen gewaltigen Schub: „Mercedes hat die Kapazitäten, unsere Technologien in großen Mengen herzustellen.“ Ab 2025 soll die Mercedes-AMG-Reihe mit Yasa-Technologie ausgestattet sein. Im neuen Mercedes-Vorzeigewerk in Berlin sollen dann Millionen Yasa-Motor­komponenten vom Band laufen.

Mercedes-AMG war lange auf der Suche nach zukunftssicheren Alternativen zu den vielzylindrigen Benzinmotoren, die zum Gründungsmythos von Daimler gehören. Ist Motorpionier Woolmer Hoffnungsträger einer verunsicherten Legende? Ein Erbe Gottlieb Daimlers? Die schwäbisch-britische Antwort auf Elon Musk?

„Weder noch“, sagt Woolmer, „aber ich mag disruptive Technologien, die Branchen durcheinanderwirbeln.“ Yasa hat bereits mehr als 130 Patente im Portfolio. „So viele faszinierende Technologien sind derzeit am Entstehen; niemals zuvor hat man so vielfältige Technik in Autos gesehen“, sagt Woolmer. Welche Technologien sich mittelfristig durchsetzen – das sei noch offen.

Die Fixierung vieler deutscher Automanager auf Tesla hält er für übertrieben. „Man sollte Tesla nicht fürchten. Sie haben einen guten Job gemacht, indem sie die Elektrifizierung der Branche befeuerten – aber Mercedes ist eine ganz andere Marke“, sagt Woolmer. Tesla habe eher konventionelle Technik unter der Motorhaube, Daimler hingegen habe ein enorm reiches technologisches Erbe; die Marke werde geliebt, weil sie für höchste Qualität stehe. Und ihre E-Autos würden ganz anders aussehen als Teslas. Woolmer meint: „Die Herausforderung ist, besonders schnell Innovationen zu schaffen.“ Denn wer Konkur­renten kopiere, sei immer mehrere Jahre im Hintertreffen – und kopiere auch deren Fehler mit.

Zwar gehören neben Mercedes auch weiterhin Supercar-Produzenten zu den Abnehmern von Yasa, doch Woolmer ist kein PS-Protz. Seine Vision ist demokratisch, nicht elitär – er will Technologie fürs Volk herstellen. „Die Arbeit für Sport­autohersteller war immer ein Teil des Weges, aber nicht das Ziel“, sagt der Ingenieur, der mit seiner freundlichen Bescheidenheit wie der Gegenentwurf zu manchem großspurigen und um Aufmerksamkeit heischenden Technologiepionier der Gegenwart wirkt.

Statt eines Sportwagens fährt der Vater zweier Töchter seit Jahren einen Nissan Leaf, eine vergleichsweise biedere Elektro-Familien­kutsche. Zwar würde ihm Mercedes ein Elektroauto zur Verfügung stellen, doch wegen der hohen Nachfrage und Lieferschwierig­keiten kommt derzeit nicht mal Woolmer an ein Modell.

Seine Innovationen be­schleunigen jedenfalls nicht nur die Mobilität auf den Straßen. Im vergangenen September stellte Yasa in einem Gemeinschaftsprojekt mit Rolls-Royce und dem Start-up Electro­flight einen Weltrekord auf: Die „Spirit of Innovation“, das erste vollelektrische Kleinflugzeug, brachte es erstmals auf eine Geschwindigkeit von 623 Kilometern pro Stunde – dank eines 400-Kilowatt-Elektrotriebwerks, das in Woolmers Fabrik entwickelt wurde.

Damit hat der Ingenieur ge­meinsam mit anderen Innovatoren auch noch einen Meilenstein auf dem Weg zur Elektrifizierung der Luftfahrt geschaffen – quasi im Vorbeigehen, oder eher: im Vorbeirasen. „Ich bin extrem stolz darauf“, sagt Woolmer – auch weil er damit an die epochale Leistung seines Großvaters Bob Feilden, des Düsen­jet-­Pioniers, anknüpfen konnte.

„Wir werden in den kommenden Jahren große Veränderungen sehen“, sagt Woolmer. Autonom fahrende Autos, elektrische Busse und Laster werden die Städte dominieren. Schon jetzt sei die Luft in London besser und der Verkehr leiser geworden, stellt Woolmer fest. Von dort aus fliegt er jeden Monat mindestens einmal nach Stuttgart, in die Mercedes-Benz-Zentrale.

Dort soll aus seinem Wundermotor nun ein Massenprodukt werden – eine kompakte, effektive und leistungsstarke Technologie, die Millionen Menschen mobilisiert, auf der Straße und vielleicht auch in der Luft. Das ist die Vision, die mit einer Doktorarbeit vor 15 Jahren begann, zu einem Multi-Millionen-Business führte und nun einem Milliardenkonzern neue Chancen eröffnet.

Woolmer weiß: Es sind revolutionäre und entscheidende Zeiten, die Mobilitätsbranche erfindet sich neu. Und auch für den Tüftler aus Oxfordshire gilt weiterhin: Er muss im Vollgas-Modus seine Innovationen optimieren und damit Neues schaffen. Angst macht ihm diese Aussicht nicht. Er sagt: „Seit 14 Jahren lebe ich mit diesem gewissen Unbehagen.“ Und das äußerst erfolgreich.

Fotos: Rama Knight

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