Der Radikale

Der dänische Stararchitekt Bjarke Ingels stellt den Süden Manhattans auf den Kopf und baut Skipisten auf Kraftwerke. Wie setzt er seine radikalen Entwürfe um?

Was sind die ersten Schritte in einem Stadtentwicklungsprojekt?
Es ist ziemlich selten, dass man die Möglichkeit hat, eine Stadt von Grund auf neu zu gestalten. Die meisten Städte haben sich über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende entwickelt. Die verschiedenen Viertel sind Spuren bestimmter Zeiten, in denen bestimmte Aktivitäten stattfanden. Und dann ändert sich plötzlich die Technologie und die Weltwirtschaft, das wirkt sich auf den Charakter bestimmter Stadtbereiche aus. Einige unserer derzeit größten Projekte beschäftigten sich mit der Umwandlung ehemaliger Infrastruktur in Orte des gesellschaftlichen Lebens. Im Süden Manhattans planen wir derzeit die „Dryline“ zum Schutz der Stadt vor Überflutungen. Es ist aber nicht nur eine Sicherheitsmaßnahme, sondern eine tolle Chance, die Uferpromenade für die New Yorker zugänglicher und angenehmer zu gestalten. Ein anderes Projekt ist das „MoMa“, das bedeutet „More Manhattan“. Es geht im Grunde darum, den Süden der Stadt auszubauen. Dadurch entsteht ein gigantischer neuer Hafenpark, aber auch neuer Platz für Wohn- und Geschäftshäuser.

Der Bedarf an Wohnraum wächst in allen städtischen Gebieten. Gleichzeitig fordern die Menschen mehr individuellen Raum. Wie lassen sich diese beiden gegensätzlichen Bedürfnisse in einer Großstadt kombinieren?
Was das betrifft, befinden wir uns in einer Transformation. Bestimmte Aktivitäten in einer Stadt, die früher relevant waren, verlagern sich oder verschwinden ganz. Dadurch wird wieder Platz frei. Ein Beispiel: Der zweitgrößte Park in Manhattan ist die „High Line“, eine ehemalige Eisenbahnlinie, die zu einer öffentlichen Promenade umfunktioniert wurde. Im Wandel der Zeit können Sie bestehende Orte in einer Stadt anders nutzen.

Kompensieren neue Freiflächen denn das steigende Bedürfnis nach mehr Platz?
Ich weiß nicht, ob das tatsächlich ein Problem ist. Gestern (das Interview fand Mitte Juli statt, Anm.) haben wir den Grundstein für ein Projekt namens „The Spiral“ gelegt. Das ist eine Viertelmillion Qua­dratmeter groß im Hudson Park (in New York, Anm.), angelegt als Kaskadenspirale, sodass jede Etage ihre eigene Terrasse hat. Und jede Etage ist wiederum mit der oberen und unteren Etage verbunden. Die Kaskade führt vom Erdgeschoss bis zum Penthouse. Auch der Turm, den wir für das World Trade Center bauen, sieht aus wie sieben übereinanderstehende Gebäude. Das schafft Parks auf jeder Ebene des Gebäudes. Auf den Dächern der Nachbarschaft entstehen immer mehr Gärten. Es gibt also noch jede Menge Möglichkeiten, Platz in einer bestehenden Stadt zu schaffen, auch durch die Hilfe neuer Technologien. In Brooklyn etwa steht die „Brooklyn Grange“. Das ist eine große kommerzielle Farm auf dem Dach, die Gemüse und Obst für die Restaurants in der ganzen Umgebung anbaut. Die Grenzen zwischen Stadt und Land verschwimmen zunehmend.

Es scheint, als ginge es weniger darum, neue Gebäude zu schaffen, als den existierenden Raum umzugestalten. Verschiebt sich in Ihrem Bereich der Architektur die Aufgabenstellung?
Viele der Städte, in denen wir in 50 Jahren leben werden, existieren bereits. Kopenhagen ist mehr als tausend Jahre alt, New York etwa 300 Jahre. Natürlich ist die Neuinterpretation ein großer Teil der Herausforderung. Andererseits wirkt gerade Manhattan so, als wäre es schon vollständig verbaut. Dabei haben wir dort derzeit mehr Bauprojekte am Start als in jedem anderen Land der Welt.

Warum zieht es immer noch so viele Menschen in dicht besiedelte Städte?
Es ist die Folge einer sich stets verändernden Welt. Und wenn sich unsere Welt verändert, entstehen neue Aktivitäten, neue Berufe, neue Familienstrukturen – und dadurch verändert sich wiederum die Wirtschaft. Das führt alles zu neuen Möglichkeiten. Ein weiterer Game-Changer ist die Technologie: Früher mussten die Menschen möglichst weit weg von Industriegebieten leben; die Fabriken waren laut und schmutzig. Diesen Herbst eröffnen wir einen alpinen Skipark auf dem Dach eines Kraftwerks in Kopenhagen. Es wird das sauberste Kraftwerk der Welt sein. Und weil es so sauber und leise ist, konnten wir das Dach für Freizeitaktivitäten gestalten – komplett mit Skiliften und Wanderwegen, Biketrails und Joggingpfaden.

Amager Resource Center
Es wird das „super grüne“ Kraftwerk genannt und es soll Kopenhagen im Jahr 2025 zur ersten kohlenstofffreien Stadt der Welt machen. Auf dem Dach werden Skifahrer 440 Meter Piste vorfinden, sogar eine schwarze Abfahrt mit 45 Grad Winkel ist dabei. Durch das Verbrennen von 400.000 Tonnen Müll pro Jahr können bis zu 60.000 Haushalte mit Strom versorgt werden.

Klingt abenteuerlich. Sehen Sie keine Gefahren auf dem Dach eines Kraftwerks?
Die Filter sind heutzutage unglaublich ausgeklügelt, alle Schadstoffe werden aus der Luft extrahiert. Die Technik nimmt mehr als die Hälfte des gesamten Gebäudes ein. Bei Überdruck springen automatisch die Fenster raus, damit der Druck entweichen kann und das Gebäude nicht in die Luft fliegt. Diese Sicherheitsmaßnahmen braucht ja jedes Kraftwerk – nicht nur, wenn Sie darauf Ski fahren wollen. Aber das Beispiel zeigt, wie wir in Zukunft Industriezonen anders denken und nutzen können. Das Gleiche gilt für den Verkehr: Wenn Autos zunehmend fahrerlos werden, bedeutet das hoffentlich, dass Parken immer weniger relevant wird. In den nächsten Jahrzehnten werden wir viele Parkplätze und Parkhäuser sehen, die wir für andere Dinge nutzen können.

Haben Sie diese Vision auch für andere Weltregionen? Was sind die großen Herausforderungen für die Stadtentwicklung in Asien oder dem Nahen Osten?
Im Nahen Osten arbeiten wir gerade an der Schaffung einer ganzen neuen Stadt. Es ist noch nicht offiziell, wo sie entstehen soll, aber ich kann zumindest darüber sprechen, was wir dort versuchen: Gerade in der Region gibt es viele Beispiele, dass das nordamerikanisches Modell einer Stadt mit Hochhäusern, Autobahnen, Kreisverkehren und Einkaufszentren ohne jegliche Anpassung an die lokale Kultur, das Klima oder die Landschaft importiert wurde. Das Ergebnis ist eine Ansammlung von Glastürmen mitten in der Wüste. Wir versuchen jetzt, etwas von der Weisheit der Region wiederzuentdecken. Wir wollen von den Städten lernen, die von selbst gewachsen sind: Welche Materialien wurden verwendet, wie viele Öffnungen hat ein Wohnhaus, wie kann man durch die richtige Bauweise natürliche Belüftung erzeugen? Wir müssen dafür nicht zurück in die Vergangenheit gehen, aber wir sollten die Lektionen nicht außer Acht lassen, die bereits gelernt wurden. Nur so können wir eine zeitgenössische und zukunftsorientierte Stadtentwicklung schaffen, die tief in der Sprache des Nahen Ostens verwurzelt ist.

Gibt es eine Best-Practice-Stadt im Nahen Osten?
Im Jemen gibt es viele ziemlich dicht bebaute Städte mit lustigen Schornsteinen auf den Dächern. Diese Schornsteine fangen die vorbeiziehenden Winde ein und transportieren die kühlende Luft in vier- bis fünfstöckigen Gebäude hinab. Die eng zusammenstehenden Häuser bietet natürlichen Schatten in den Gassen. Oder: Jeder kennt die Stadtteile von Santorini in Griechenland. Die weiße Fassade reflektiert die Sonne, die Häuser sind relativ kühl und die kleine Fensteröffnung erlaubt genügend Tageslicht, ohne die Wärme reinzulassen. Auf den Flachdächern kann man abends die Brise genießen. Die alten Bauweisen sind weder statisch noch akademisch, sie sind einfach empirisch und haben sich im Laufe der Zeit entwickelt. Es ist reizvoll, etwas von dieser alten Weisheit wiederzuentdecken und Wege zu finden, dieses Wissen mit neuer Intelligenz zu kombinieren.

Bjarke Ingels
Der 43-jährige Däne ist weltweit bekannt für seine straighten Ideen: oft kombiniert er das Praktische mit dem Spielerischen – so entwarf er etwa einen Erlebnispark auf dem Dach eines Kraftwerks in Kopenhagen oder eine Turmkaskade mit Grünflächen. 2005 gründete er das Architekturbüro Bjarke Ingels Group (BIG) mit Sitz in Kopenhagen und New York. Derzeit arbeiten dort mehr als 400 Mitarbeiter aus 25 Nationen.

Haben Sie manchmal Probleme mit den verschiedenen Stakeholdern in großen Projekten?
Natürlich. Wenn man in dieser Größenordnung operiert, können die Dinge sehr komplex sein. Das halte ich für einen weiteren Trend in der Zukunft. Stadtentwicklungsprojekte können nicht gelingen, wenn sie top-down entschieden werden. Damit wird am Ende niemand glücklich. Um intelligente, lebendige und ansprechende urbane Umgebungen zu schaffen, muss man Wege finden, den Input der Menschen, die dort leben werden, in den Entwurfs- und Planungsprozess zu integrieren. Für das Projekt „Dryline“, das wir in New York durchführen, haben wir mit mehr als 40 verschiedenen öffentlichen Einrichtungen zu tun – und mit mindestens 50 verschiedenen Gruppen von NGOs und lokalen Community-Gruppen. Wir hatten Dutzende öffentliche Workshops, um so viel Wissen und Input von den Menschen zu bekommen, wie nur möglich. Das halte ich für eine zentrale Aufgabe von Architekten und Stadtplanern: intelligentere Wege zu finden, die Entwürfe und Visionen mit direktem Input von den Menschen zu bereichern, die sie benutzen werden. Das ist ein sehr mächtiges Design-Tool in der Zukunft.

Wie erleben Sie gegenwärtig den Interessenskonflikt zwischen der Öffentlichkeit, die Raum in einer Stadt für sich beansprucht, und denjenigen, die Projekte bezahlen, etwa Immobilienentwickler und Investoren?
Die Öffentlichkeit sind wir alle. Und die Öffentlichkeit ist mit sich selbst nicht einer Meinung. Wie auch? Viele verschiedene Leute wollen viele verschiedene Dinge. Eine Stadt ist ein ständiges Experiment von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund: wirtschaftlich, sozial, kulturell. Wir haben unterschiedliche Nationalitäten, Religionen, Geschlechter, Sexualität oder Bildungsniveau. Wir als Stadtplaner müssen dafür sorgen, dass all diese verschiedenen Menschen zusammenleben können und dass irgendwie Platz für alle ist. Wir sollten versuchen, jedem Einzelnen die Freiheit zu geben, sich in diesen Prozess einzubringen. Das ist natürlich eine große Herausforderung. Als urbane Gestalter können wir sicherstellen, dass der Wunsch nach Privatsphäre, Intimität und Kollektivität kombiniert wird.

Interessant, dass Sie meinen, der Top-down-Ansatz wird in der Zukunft nicht tragfähig sein.
Das Einbeziehen der Öffentlichkeit bedeutet nicht, dass jede Privatperson entscheiden kann, was passieren wird. Am Ende kann man keine Stadt mit einer Million Diktatoren haben – natürlich wird es immer Meinungsverschiedenheiten geben. Als Gestalter sollten wir sicherstellen, dass die Entscheidungen auf der Basis von möglichst viel Information getroffen werden – mit viel Wissen über das Gebiet und Interessen der dort lebenden Menschen. Es ist nun mal so: Jeder will Veränderung, aber niemand will sich ändern. Wir müssen also dafür sorgen, dass so viele Stimmen wie möglich gehört werden.

Dieser Artikel ist in unserer Sommer-Ausgabe 2018 „Stadt – Land – Berg“ erschienen.

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