Unermüdlicher Benioff

In Zeiten, in denen der hyperaktive Unternehmertyp gefeiert wird, sticht Salesforce-Gründer Marc Benioff als das größte Energiebündel hervor.

Salesforce-Mitgründer Marc Benioff verbringt mehrere Monate im Jahr auf Hawaii, wo er auf Big Island ein Anwesen am Strand besitzt und gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Prominenten wie dem Milliardär Michael Dell oder dem Rockstar Neil Young pflegt. Es verwundert deshalb nicht, dass er im August (der Artikel stammt aus dem Jahr 2016, somit beziehen sich alle weiteren Zeitangaben ebenfalls auf dieses Jahr, Anm.) 400 Führungskräfte aus seinem Unternehmen für eine Klausurtagung auf die Insel mit ihren weißen Stränden und den Klippen aus Vulkangestein bringen ließ. An diesem somit wenig überraschenden Tagungsort spielt sich eine umso überraschendere Szene ab: Der 1,95 Meter große Benioff, gekleidet in ein weißes Hawaiihemd mit blauem Palmenmuster, eine „Mauna Kea“-­Baseballmütze auf dem Kopf, beginnt plötzlich, sich lächelnd mit seinem Mitgründer auf Deutsch zu unterhalten. Zwei Monate später wird er auf der riesigen Salesforce-Softwarekon­ferenz, der Dreamforce, die 170.000 Teilnehmer nach San Francisco lockt, ein Produkt vorstellen, das seiner Überzeugung nach das Unternehmen in ein neues Jahrzehnt des Wachstums führen wird. Der Name des Produkts? Salesforce Einstein – was auch die Deutsch-Einlage und die großspurigen Prognosen erklärt. „Wenn das nicht ein Riesenerfolg wird, dann weiß ich auch nicht“, so der CEO des weltweit viertgrößten Anbieters von Unternehmenssoftware.

Einstein erklärt vieles. Zum Beispiel, warum Benioff vor zwei Jahren 390 Millionen US-$ auf den Tisch gelegt hat, um sich einen Jungstar – den 35-jährigen Steve Loughlin – ins Management zu holen und dessen auf die Nutzung von E-Mail- und Kalender­daten spezialisierte Plattform zu übernehmen. Oder warum Salesforce seitdem zumindest ein halbes Dutzend Start-ups im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) geschluckt hat. Warum der CEO eines der übernommenen Unternehmen, Richard Socher von MetaMind, der sich an der Universität Stanford lange mit KI befasst hat, jetzt das erste reine Salesforce-Forschungslabor aufbauen wird. Und auch, warum Benioff nach 17 Jahren an der Spitze von Salesforce noch immer die Fähigkeit besitzt, sich für seine Produkte genauso zu begeistern wie ein Kind für ein gerade neu entdecktes Spielzeug.

Anlässlich der Dreamforce kündigt Benioff jedes Jahr ein oder zwei neue große Produkte an. Einstein ist jedoch anders. Mit Einstein wird KI in fast alle Produkte von Salesforce integriert: Funktionen wie automatische Wortvorschläge oder vorausschauende Analysen wird es ab jetzt bei Service, Marketing und Vertrieb genauso geben wie bei den neuen Produkten in den Bereichen Collaboration und Commerce. Dabei, so kündigt Benioff seinen Führungskräften an, wird Einstein nicht einfach eine weitere „Cloud“-Anwendung sein, die sie zum Verkauf anbieten können. Vielmehr soll Einstein als eine Art neues Nervensystem alle Geschäftsbereiche durchziehen. „Wir werden unsere Mitbewerber damit überrumpeln“, sagt Benioff. Allerdings ist Salesforce nicht der erste große IT-Konzern, der voll auf KI setzt. Google-Chef Sundar Pichai bringt sich für eine „Welt, in der künstliche Intelligenz Vorrang hat“, in Stellung, und Microsoft arbeitet bereits seit fast 20 Jahren daran, aus dem Sammeln von Informationen gewonnene Erkenntnisse mit Geschäftsdaten zu kombinieren. Was nicht heißen soll, dass Benioff mit ­seinem Versuch zu spät kommt.

Salesforce gilt als Pionier der „Software as a Service“-Anbieter und läutete das Ende einer Ära ein, die von Downloads und CD-ROMs geprägt war. Daneben setzte Benioff mit Erfolg auf Social Media, Marketing und den Mobile-Bereich und etablierte sein Unternehmen als Marktführer in neun verschiedenen Produktkategorien. Die Produkte von Salesforce lassen sich mittlerweile mit Tausenden von Apps verknüpfen, erreichen Millionen von Geschäftskunden weltweit und erzielen einen jährlichen Umsatz von acht Milliarden US-$. Der beständige Wachstumskurs des Unternehmens, gepaart mit Benioffs Exaltiertheit und Geschäftstüchtigkeit, machte Salesforce über lange Zeit zum Liebling der Wall Street, wobei der Börsenwert von 54 Milliarden US-$ den jeweils zwischen null und zwei Prozent schwankenden Nettogewinn bisher klar übertrifft.

So gern der groß gewachsene, redefreudige Benioff mit diesen Erfolgen angibt, so sehr ist ihm auch bewusst, dass Salesforce bereits seit einiger Zeit eindeutig außerhalb seiner Liga spielt und sich in der Software-Welt irgendwo auf den mittleren Rängen bewegt. Der Firmenwert von Salesforce beträgt gerade mal ein Drittel des Wertes von IBM oder Oracle, wo Benioff sich seine Sporen verdient hat, und nur einen Bruchteil dessen, was Microsoft und Google wert sind. Mit seinem Kerngeschäft – einer Softwarelösung für den Vertriebsbereich – liegt Salesforce mit einem Marktanteil von 45 Prozent aber fast um ein Vierfaches vor dem nächstfolgenden Konkurrenten Microsoft und verzeichnet weiterhin Wachstum. Allerdings wird man auch im Vertriebsgeschäft irgendwann an natürliche Grenzen stoßen.

Folglich ist Benioff gezwungen, weiter auf Innovation zu setzen – und das im großen Stil. Für Salesforce wird es in den nächsten fünf Jahren schwer werden, die Vervierfachung des Umsatzes zu wiederholen, die man im letzten Fünfjahreszeitraum geschafft hat. Die richtige Balance zu finden wird schwieriger werden, die Einsätze werden steigen und es wird riskanter werden. Oder wie Benioff es nennt: „Wir wechseln die Turbinen einer 747 mitten im Flug.“ Wer Zweifel hegt, ob der rasende Gründer sein Flugzeug auch wieder landen kann, möge sich die Skyline San Franciscos ansehen: Dort ragt die neue Salesforce-Zentrale, die mit ihren 300 Metern Höhe bald das höchste Gebäude westlich des Mississippi sein wird, bereits zur Hälfte in den Himmel.

Allein in den letzten sechs Monaten lieferte sich Salesforce eine aggressive Übernahmeschlacht um LinkedIn (Microsoft bekam den Zuschlag) und steckte dann insgesamt 3,4 Milliarden US-$ in die Übernahme von Demandware und Quip. Daneben sammelte Benioff Millionen für Hillary Clinton, positionierte sein Unternehmen an vorderster Front im Kampf für Lohngleichheit und LGBTQ-Rechte, investierte in über 130 Start-ups und spendete gemeinsam mit seiner Frau Lynne Hunderte Millionen für die Gesundheit von Kindern, Bildung und für obdachlose Familien.

Benioff, dessen Vermögen auf vier Milliarden US-$ geschätzt wird, spricht diesbezüglich von einem „integrierten Lebensstil“. Ein Freund, Coca-Cola-Chef Muhtar Kent, nennt es „positive Unzufriedenheit“. Egal, welche Bezeichnung man dafür findet: Ein paar Wochen mit Benioff zu verbringen ist erschöpfend, aufregend und lehrreich zugleich. Sich darüber auszulassen, was jemand von der Größe und Statur eines ehemaligen NFL-Football-Spielers so alles ver­drücken kann, ist natürlich etwas klischeehaft, jedoch entspricht Benioffs Essensstil ziemlich perfekt sämtlichen anderen Bereichen in seinem Leben: Er ist sehr wählerisch, und er verschlingt die Dinge. Entdeckt er auf der Karte etwa ein Thunfisch-Carpaccio, bestellt er gleich eine doppelte Portion. Und seinen Burger möchte er ohne Pommes, dafür mit extra Zwiebeln und richtig viel Senf.

Den auf diese Weise zusammengestellten Cheeseburger verzehrt er im konkreten Fall in seinem Lieblings­restaurant, dem „Mandarin Oriental“ in New York, während er nebenbei den Talentmanager Guy Oseary, der aktuell gemeinsam mit Ashton Kutcher eine Risikokapitalgesellschaft betreibt, und mich mit Geschichten über seine 2,8 Milliarden US-$ teure Übernahme von Demandware füttert. Er verschlingt aber auch im wahrsten Sinne das Gespräch, fragt uns nach Start-ups und danach, welche neuen Technologien er verfolgen sollte. Das ist Benioff in seinem Element, wie er Durchstarter sammelt – darunter Airbnb-Mitgründer Brian Chesky. Einige seiner Mentees findet er über Twitter, so wie Next Thing Co., den Hersteller eines Computers um neun US-$. Diesen Ansatz nennt Benioff in Anlehnung an die Zen-Grundsätze den „Anfängergeist“, wobei Multitasking für ihn sogar bei Religionen möglich ist: Er hängt dem Buddhismus an und besucht gleichzeitig eine jüdische Synagoge.

Seine unstillbare Neugier entwickelte er in den 1970ern, als er seinen Vater im familieneigenen Kaufhaus in San Francisco beim Führen des Inventars und Prüfen der Bücher beobachtete. Mit 17 Jahren entwickelte und verkaufte er seine eigenen Atari-­Videospiele und verdiente mit den ­Lizenzgebühren genug für ein Studium an der University of Southern California. „Er kann mit einem fast kindlichen Staunen an neue Dinge herangehen, das den meisten Managern heutzutage vermutlich abhandengekommen ist“, so Jeremy Stoppelman von Yelp, ein weiterer von Benioffs Schützlingen.

Wir wechseln die Turbinen einer 747 mitten im Flug.

Benioff kennt die Beziehung zwischen Mentor und Mentee allerdings von beiden Seiten. Als er nach dem College zu Oracle stieß, nahm ihn dessen Gründer Larry Ellison unter seine Fittiche. Bald darauf stieg er zum jüngsten Vice President von Oracle auf, wo er die Brücke zwischen Technik und Vertrieb schlug und schließlich eine der wichtigsten Vertriebsgruppen des Konzerns leitete. „Marc ist ein geborener Verkäufer. Aber mehr noch als das ist er der geborene Manager“, meint Ellison. „Er war der Mann für visionäre Ideen, die Details überließ er anderen.“

Dieser Hang zu großen Ideen beeindruckte Parker Harris, als dieser 1999 mit zwei Freunden an einem kleinen Start-up arbeitete und eine Einladung des jungen Oracle-Managers erhielt. Benioff hatte gesehen, wie sein Freund Evan Goldberg, ein weiterer junger Aufsteiger bei Oracle, von Ellison Millionen für die Entwicklung der ersten Schritte hin zu Ellisons Vision einer „On-Demand-Software“ erhalten hatte. Ein paar Jahre später war diese Technologie als „Software as a Service“ und schließlich einfach als die „Cloud“ in aller Munde. Während Goldberg sich mit Finanzsoftware beschäftigte, wollte Benioff den Vertriebsbereich in Angriff nehmen.
Ausgestattet mit ein paar Millionen US-$ von seinem ehemaligen Chef, machten sich Benioff und Harris also daran, Salesforce zu gründen. Als Konkurrenten hatten sie Benioffs Vorgänger bei Oracle, Thomas Siebel, der das Unternehmen 1990 verlassen hatte und später die dominierende Vertriebssoftware auf den Markt brachte. Salesforce entwickelte ein Produkt, das das Auffinden und Verfolgen von Kundendaten aus Datenbanken über einen Webbrowser ermöglicht. Das Produkt wird allerdings nicht mehr physisch erworben, sondern online gegen Lizenzgebühren zur Verfügung gestellt.

Der Erfolg war Salesforce anfänglich alles andere als gewiss. Siebel dominierte damals noch den Markt, und als irgendwann auch die Investoren ausblieben, sah es sogar so aus, als ob Salesforce überhaupt die Tore schließen müsste. Aber Benioff kämpfte sich durch und baute rund um seine ersten Kunden eine eingeschworene Gemeinschaft auf, nicht zuletzt über die ­Dreamforce, die große Salesforce-Entwicklerkonferenz, die 2003 mit lediglich 1.300 Teilnehmern zum ersten Mal stattfand. Bereits 2004, als das Unternehmen an die Börse ging, hatte Benioff seine Obsession für markige PR entwickelt, die er bis heute nicht aufgegeben hat. Das erste Motto des Unternehmens, „No Software“, sollte etwa den Unterschied zu Siebel und anderen Konkurrenten herausstreichen, wenngleich es genau genommen nicht ganz der Wahrheit entsprach. Im „Mandarin“ deutet er nun Richtung Innenstadt, wo auf einem Wolkenkratzer eine ausladende Salesforce-Leuchttafel prangen wird, ähnlich wie in Indianapolis, London und San Francisco. In Japan, so erzählt er, habe er den Fehler gemacht, nicht sofort Werbetafeln zu verlangen. „Für das Gebäude (in New York, Anm.) haben wir einen Superdeal bekommen“, fügt er hinzu. „Es wird ein großes Schild sein, es wird fantastisch sein. Ein riesiges Schild, ganz oben drauf.“

Noch etwas hat Benioff bei Salesforce eigenen Angaben zufolge schnell gelernt: Alles dreht sich um den Kunden. Dazu gehören auch große Partys und alberne Kostüme für Demovorführungen auf der Dreamforce, die mittlerweile so riesig ist, dass Benioff 2015 ein Kreuzfahrtschiff mieten musste, um alle Teilnehmer unterzubringen. Heuer gibt es statt des Schiffs ein U2-Konzert. Hier machen sich seine Zen-Praktiken ebenfalls bezahlt: Benioffs Angewohnheit, anscheinend allabendlich Kunden zum Essen zu treffen, verstärkt nicht nur deren Loyalität. Diese Treffen liefern ihm auch Informationen über sein eigenes Unternehmen. „Was wird denn vor Ort so über uns gesagt?“, fragt er praktisch jeden. Hört er von Mitbewerbern – insbesondere Start-ups passender Größe –, die etwas anbieten, was ­Salesforce nicht kann, unterbricht er sich mitten im Satz, um den Namen an John Somorjai, seinen langjährigen M&A-Chef, weiterzugeben.

Sein beständiges Suchen nach Informationen macht auch vor seinem eigenen Körper nicht halt. Der Salesforce-Chef geht nirgends ohne seinen Fitbit-Tracker hin. Michael Dell erzählt, wie er einmal gegen Benioff in einem Fitbit-Promiwettkampf angetreten ist. Er verdächtigte seinen Freund, den Tracker seinem Hund vor dem Stöckchenholen umgehängt zu haben. „Er kann ganz schön gewieft sein“, so Dell.

Jedes Jahr im Sommer besucht Benioff eine der internationalen Salesforce-Regionen, wo er sich im Detail mit dem Geschäft vor Ort auseinandersetzt, bevor er sich im Juli und August nach Hawaii zurückzieht, um den Kopf freizubekommen. Dieses Jahr verbringt er zwei Wochen in Japan. Sein Quartier bezieht er im Pent­house des Grand Hyatt, das sogar mit einem eigenen Pool für seine junge Familie ausgestattet ist, die ihn auf der Reise begleitet. Dort, im Roppongi-Hills-Bezirk von Tokio, treffe ich ihn in einem abgedunkelten Hinterzimmer, wo gerade eine besonders ­affektierte Karaoke-Version des ohnehin schon affektierten „Mr. Roboto“ von Styx läuft. „You’re wondering who I am“, singt Benioff aus voller Kehle mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck. „Machine or mannequin?“ Nicht ganz zufrieden mit seiner ersten Darbietung, singt er den Song gleich ein zweites Mal.

Auf diesen von Multitasking geprägten Reisen schafft es Benioff, seinen „integrierten Lebensstil“ mit der Wissenssuche des „Anfängergeists“ zu verbinden. Allein in den 36 Stunden, die ich mit ihm in Japan verbrachte, absolvierte er etliche Termine; so etwa einen Empfang mit den größten japanischen Salesforce-Kunden oder eine Verkostung der Weine des japanischen Rockstars Yoshiki in einer Karaokebar.

Vor zwei Jahren hat er Shinichi Koide, der zuvor HP Japan geleitet und Spitzenfunktionen bei SoftBank und IBM Japan ausgeübt hatte, angeheuert, um das Japan-Geschäft auszubauen und die Anzahl der vor Ort beschäftigten Mitarbeiter auf 2.000 zu verdoppeln. Nun möchte er allerdings, dass Koide autonomer agiert und – genau wie Benioff selbst – für flachere Hierarchien sorgt, sodass ihm eine größere Anzahl von Führungskräften direkt unterstellt ist. „Ich kann hier nur Ratschläge geben, anders funktioniert das nicht“, erklärt mir Benioff, als wir in einem SUV vom Lunch mit einem Kunden zu ­einem Treffen mit Koide in den Salesforce-Büros in der Nähe des Kaiserpalasts eilen. „Er soll wissen, dass er noch mehr aufs Tempo drücken kann als wir.“

Marc ist ein geborener Verkäufer. Aber mehr noch als das ist er der geborene Manager.
– Larry Ellison

Obwohl Salesforce den unüblichen Schritt setzte, gleich im Jahr der Unternehmensgründung in San Francisco auch das Japan-Geschäft zu starten, liegt das Unternehmen mit Erlösen in Höhe von geschätzt 400 Millionen US-$ am japanischen Softwaremarkt immer noch erst an vierter Stelle. Damit Salesforce die angestrebte Vervierfachung schaffen kann, müssen Märkte wie Japan um den Faktor 7,5 wachsen, womit man dort Oracle, SAP und den lokalen Marktführer Microsoft hinter sich lassen würde. Bei seiner Abreise wenig später erwartet Benioff bereits einen Plan zur Umsetzung dieses Ziels.

Zum eben genannten gesellt sich noch eine Handvoll weiterer Ziele, eines kühner als das andere. Das größte bisher war vor einigen Monaten der Plan Benioffs, sich LinkedIn einzu­verleiben. Um 26,2 Milliarden US-$ erhielt schließlich Microsoft den Zuschlag für das Business-Netzwerk. Stattdessen folgten bei Benioff die Übernahmen von Demandware und Quip; Ersteres ist ein Anbieter von E-Commerce-Lösungen für Händler, Letzteres bietet eine Software an, die die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten im Internet ermöglicht. Da hat man sich viel vorgenommen: Nach drei Jahren hat Salesforce noch kaum die 2,5 Milliarden US-$ schwere Übernahme des E-Mail-Marketing-Dienstes ExactTarget verdaut. Und vor weniger als einem Jahr wurde die neue Plattform Lightning vorgestellt, mit der eine überarbeitete Benutzerschnittstelle eingeführt wurde. Längst nicht alle Kunden sind bisher auf die neue Oberfläche umgestiegen.

Salesforce bleibt zwar weiterhin der absolute Marktführer bei CRM-Lösungen, seinem Kernsegment. Allerdings wird Benioffs Lieblingsfeind Satya Nadella von Microsoft wohl bald einen Vorstoß mit einem neu gestalteten Business-Software-Paket machen, und auch die Verwertung des Linked­In-Datenpools wird nicht lange auf sich warten lassen. Benioff wird mit Einstein dagegenhalten, das im Oktober auf der Dreamforce der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Ein weiteres Herzensprojekt, das er auf der Dreamforce groß präsentieren wird, nennt sich Trailhead. Damit sollen Kunden mithilfe von Anleitungen und mit ­virtuellen Abzeichen („badges“) belohnten Übungen selbst lernen, über Salesforce ihre eigenen Business-Apps zu erstellen.

Auf dem Klausurtreffen auf Hawaii lautet das zentrale Thema „ohana“, hawaiianisch für Familie. Benioffs Familie zählt mittlerweile Tausende Mitglieder. Derzeit weist seine ohana allerdings ­einige Lücken auf. So hat Benioff in letzter Zeit wiederholt den Leiter der Marketing-Cloud ausgewechselt. Und dann kündigte plötzlich der hochgelobte Loughlin, den er an die Spitze des Einstein-Projekts gesetzt hatte, an, das Unternehmen verlassen zu wollen – zwei Monate vor der Markteinführung wahrlich nicht die beste Neuigkeit. Hier macht sich jedoch die Tatsache, dass Benioff nicht nur Start-ups, sondern auch Menschen um sich sammelt, bezahlt: Der frühere Stanford-Guru Socher und eine personell gut aufgestellte Hintermannschaft im KI-Bereich können die Lücke schließen.

Gepaart mit Benioffs Tatendrang und seinem gesellschaftspolitischen Engagement, ergibt das für das vergangene Jahr den in dieser Form bisher nie da gewesenen Versuch, das Gewicht eines börsennotierten Unternehmens zu nutzen, um Einfluss auf politische Bereiche zu nehmen, die nicht die eigene Unternehmensaktivität oder Branche betreffen. „Ich glaube fest daran, dass es zu den Aufgaben eines Unternehmens gehört, die Welt zu verbessern“, so Benioff. So legte er sich letztes Jahr mit dem damaligen Gouver-
neur von Indiana, Mike Pence, an, mittlerweile Donald Trumps Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten. Diesem drohte er, die Salesforce-­Aktivitäten in dem US-Bundesstaat ­zurückzufahren, falls die örtlichen Republikaner nicht ihre Unterstützung für ein geplantes Gesetz zur „Religionsfreiheit“ zurückzögen, das die Diskriminierung von Homosexuellen erlaubt hätte. Fast alle gaben nach. Für eine ähnliche Aktion trommelte er in Georgia und – aktuell – North Carolina Unternehmensbosse zusammen. Dem Wall Street Journal gegenüber beschwerte sich North Carolinas Vizegouverneur Dan Forest über die „Einschüchterungsmethoden“ des Konzernchefs.

Genauso setzte er sich verstärkt für Lohngleichheit ein, nachdem zwei leitende Mitarbeiterinnen die Frage in den Raum gestellt hatten, ob Salesforce wie viele andere IT-Unternehmen Männern für dieselbe Tätigkeit höhere Gehälter bezahlt. Benioff konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas auch in seinem Unternehmen der Fall sein könnte. Als sich herausstellte, dass er falsch gelegen war, stockte er die Gehälter von einem Tag auf den nächsten um insgesamt drei Millionen US-$ auf.

Und das Rennen um die US-Präsidentschaft? Gegen Trump gerichtete Twitter-Angriffe hat der Clinton-Unterstützer Benioff retweetet. Auch auf die „Black Lives Matter“-Bewegung ließ er sich ein. Nach heftigen Gegenreaktionen kündigte er an, sich nicht mehr öffentlich einbringen zu wollen. Privat hingegen traf er Vorkehrungen für die Ernennung des ersten Diversity-Beauftragten bei Salesforce. Während in Kalifornien bereits diverse Außenseiter, sei es aus Hollywood (Reagan, Schwarzenegger) oder aus den IT-Chefetagen (Fiorina, Whitman), den Sprung in die Politik gewagt haben, schwört Benioff, dass er diesem Beispiel nicht folgen wird. „Ich könnte mir keinen inkompetenteren Politiker als mich selbst vorstellen“, meint er dazu.

Neben all diesen Aufgaben bleibt Benioff immer noch Zeit für anderes. So schickte er mir vor einiger Zeit spät­abends eine Nachricht über Twitter: „Sie schlafen doch nicht schon?“ „Ich glaube nicht, dass er jemals schläft“, so Paul Polman, der CEO von Unilever und ein Freund Benioffs. Für Ruhezeiten scheint beim integrierten Lebensstil eines Marc Benioff schlicht kein Platz zu sein.

Text: Alex Konrad
Übersetzung: Denise Tschager

Dieser Artikel ist in unserer Oktober-Ausgabe 2016 „Leben im Morgen“ erschienen.

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