Die Architekten der virtuellen Erde

Der digitale Zwilling unseres Planeten stammt aus einem Altbau in der Grazer Innenstadt: Wie „Blackshark.ai“ von Gründer Michael Putz zu einem der gefragtesten Technologie-Start-ups aufstieg – und warum eines Tages sogar der CEO von Microsoft bei ihm anrief.

An einen bestimmten Tag im Sep­tember 2020 kann sich Michael Putz noch gut erinnern – denn da klingelte sein Telefon, und der Anrufer aus Redmond im US-­Bundesstaat Washington stellte sich höflich als Satya Nadella vor. Als Start-up-Gründer aus der Steiermark vergisst man es nicht unbedingt, wenn der CEO von Microsoft bei einem durchklingelt und voller Bewunderung fragt,
wie man das nur gemacht habe, die ganze Erde so nachzu­bauen, die Welt als Replik neu zu erschaffen.

Putz erzählt die kleine ­Anekdote in seinem Büro in der ­Grazer Innenstadt; dieses liegt in einem neoklassi­zistischen Gebäude, zweite Etage, draußen bimmelt eine Straßenbahn Richtung Jakominiplatz. Im Sommer 2022 zog Putz mit seinem jungen Unternehmen „Blackshark.ai“ hier ein, die einstigen Geschäfts­räume einer Bank­filiale wurden entkernt, Seminar­räume, Collabo­­ration Spaces, Telefonkabinen und Thinktanks wurden geschaffen – was man eben so braucht, um mit einem Team aus 127 Mitarbeitern das perfekte Umfeld für eigene Gedanken und gemeinsame Lösungen zu erzeugen; als Baumeister der virtuellen Welt, als Architekten des digitalen Zwil­lings unserer Erde.

Dass sich Blackshark in den vergangenen zwei Jahren zu einem der angesagtesten euro­päischen Technologie-Start-ups entwickelte, scheint den 47-jährigen Putz manchmal selbst noch zu er­staunen, ist aber das Ergebnis von techno­logischer Leidenschaft und der kreativen Freude an innovativen Visionen. Blacksharks künstliche Intelligenz hat in nicht einmal drei Tagen die Welt erschaffen, nur eben auf dem Computerbildschirm.

Die Prozessoren liefen bei der Rekonstruktion einer Land­masse von 140 Millionen Quadrat­kilo­metern auf Hochtouren, Putz spricht von 2,5 Petabyte an ver­arbeiteten Datenmengen – eine unvorstellbare Zahl; umgerechnet etwa 2,5 Milliarden Bücher mit je 500 Seiten reinem Text. Ausgedruckt als Satellitenbilder (A4 mit 300 dpi), wären das 64 Mil­lionen Seiten, aneinandergereiht könnte man damit leicht die Strecke von London nach Sydney abdecken. Diese Rechenleistung fiel in diesen drei Tagen auch in Redmond auf, als die Messinstrumente unge­wöhnlich hohe Ausschläge in den Cloud-­Speichern registrierten und es schließlich auch bis zur Vorstandsebene von Microsoft durchdrang, dass das Epizentrum dieses tech­­nologischen Bebens in Graz lag.

Beispielsweise mit Naviga­tionssystemen, die mittels einer AR-Brille oder eines in der Autofrontscheibe integrierten Head-up-Displays ein gesuchtes Gebäude zwecks leichterer Auffindbarkeit visuell hervorheben. Tag für Tag fütterte die Crew die hungrige KI mit einer kaum endenden Fülle an Informationen, manchmal stand auf dem Menüplan etwa die Form eines Hausdachs: Eine rote Färbung, so lernte es die Maschine, steht dabei meist für ein spitz zulaufendes Giebeldach, Schwarz eher für ein Flachdach. Viele Klimaanlagen auf Haus­dächern wiederum verraten einiges über die Anzahl der Menschen innendrin. Liegt das Gebäude in einem dicht besiedelten Gebiet, handelt es sich wohl um eine Schule, am Stadtrand eher um eine Shoppingmall.

Und so griff Satya Nadella zum Telefon. Auf die Frage, warum ein globaler Tech-Gigant für die Lösung eines naheliegenden Problems wie der dreidimensionalen Weltvermessung ein kleines steirisches Start-up benötigt – auf die Frage also, was Blackshark kann und Microsoft nicht –, gibt es laut Putz drei Antworten: „Die Konzentration, mehr als zehn Jahre an der prozessualen Entwicklung von digitalen Welten zu arbeiten, die Einbindung von erfahrenen Geografen und Architekten in unser Team und die Optimierung von KI im Bereich des Geospatial Computing und des Vermessens der Welt.“

Und Nadella war nur der Anfang. Hellhöriges Interesse von Investoren gibt es bereits, bei einer Finanzierungsrunde im November 2021 sammelte Blackshark rund 20 Mio. € ein, angeführt von Microsofts Venture-Tochter M12 und dem Finanzinvestor Point72; mit dabei auch Brian McClendon, Gründer von Google Earth, Dirk Hoke, CEO des Drohnenpioniers Volocopter, oder auch die als „wandelndes Know-how“ bekannte Gründerkoryphäe Qasar Younis, einst im Silicon Valley als COO von Y Combinator Chefberater von Start-ups aus aller Welt.

Die Anwendungsgebiete von Blacksharks System sind viel­fältig. Putz erwähnt zwei Beispiele aus jüngerer Vergangenheit, etwa den großen Energie­konzern, der sich bei ihm meldete: Ob Blackshark helfen könne, anhand der bereits ermittelten Parameter nach geeigneten ren­tablen Standorten für Windparks zu suchen – die Topologie, die mittlere Windstärke, die Abstände zu den nächsten Siedlungen, dazu mit einem Korridor für Zufahrtsstraßen mit Radien von maximal 45 Grad für die schweren Baumaschinen beim Aufbau der Anlage. Oder der Dachdeckermeister aus Nürnberg, der wissen wollte, ob es möglich sei, für den Stadt- und Landkreis eine Übersicht aller Giebel­dächer mit einer steileren Neigung als 30 Grad zu liefern. So könnte er für die Vermittlung von erforder­lichen Dachsicherungssystemen zum Schutz von Kaminkehrern und Arbeitern gezielt alle betreffenden Hausbesitzer kontak­tieren. Zwei von unendlich vielen „User Cases“, wie es Putz formuliert.

Langfristig, so die Vision des Gründers, soll Blackshark damit eine Google-ähnliche und dank permanenter Updates täglich aktualisierte Suchmaschine für die gesamte Erdoberfläche wer­den, gerade für Fragen zu Energie, Umwelt oder Klimawandel: Wie schnell steigt der Meeresspiegel? Wo wären Solar­paneele am effektivsten? Wie steht es um die Ab­­holzung des Regenwalds und ihre Folgen? Als B2B-Enterprise sind die Dienste aber natürlich auch für bereits aktuelle Kunden wie Amazon Prime Air interessant: Bei welcher Windstärke kann etwa die Delivery-Drohne noch sicher beim Adressaten im Hinterhof landen, ohne in den herumschlagenden Ästen des vom Wind bewegten Baums zu enden?

Hört man den anschaulichen Erzählungen von Michael Putz zu, dann stellt man sich die KI wie eine unersättliche Kreatur vor, die sich auch an schwer verdaulichen Brocken nicht die Zähne ausbeißt, etwa bei ungewöhnlichen Dach­formen oder wenn nicht klar war, ob es sich um einen Erker handelte oder den Schatten eines Baums. Nach einigen Monaten war die KI dann abgefüllt mit allen Informa­tionen und endlich satt, hatte alles ver­innerlicht und im Lernprozess die eigenen Schlüsse gezogen, um dann die gesamte Erde als virtuelles Abbild der Wirklichkeit auszu­spucken. 1,5 Milliarden Gebäude, 30 Milliarden Quadratkilometer Vegetation – in insgesamt weniger als 72 Stunden.

Der entscheidende Punkt: Putz wollte mit seinem Team die Welt nicht nur einfach nachzeichnen, er wollte ihr auch eine Bedeutung geben. Wenn er davon spricht, warum er 2020 mit 30 Entwicklern Blackshark als Bongfish-Spin-off gründete, fallen oft Begriffe wie „Demokratisierung“ oder „Semantik“. Was Blackshark tut, ist nichts anderes, als die Daten des digitalen Globusklons sinn­stiftend für die Menschheit zu interpretieren, eine Art Raum­deutung 4.0. Es stellte sich nun aber auch noch eine ganz andere Frage: Und jetzt? Was nun, da sie die Welt beisammen hatten?

Wir wollten erstmals eine realistische, plastische Abbildung unserer Erde – Landschaften und Bäume, Berge und Häuser, wir träumten von der dritten Dimension.

Michael Putz

Begonnen hatte alles in einem Kinderzimmer in Salzburg. Als Teenager war Michael Putz noch via CD-ROM früh in die Fantasiewelt der Computerspiele eingetaucht, ob bei düsterer Ego-Shooter-Action in „Doom“ oder strategischer Taktik-Tüftelei in ­„Die Siedler“ – für Putz heute übrigens ein „Wuselspiel“. In Graz studierte er an der Technischen Universität Computerwissenschaft und Telematik, also die Verschmelzung aus Telekom­munikation und Informatik. 2007 gründete er dann das kleine Unternehmen Bongfish, dessen Aufgabe es war, eigene Video­spiele zu entwickeln.

Richtungsweisend wurde dabei gleich das erste Game, das Putz und seine Mitstreiter für die Xbox 360 veröffentlichten: „Stoked“ – ein Snowboardspiel, bei dem die Verkaufszahlen dank einer überschaubaren Zielgruppe eher mau blieben. „Dafür war die Grafik eine bahnbrechende Neuerung“, sagt Putz zurückblickend.

Bestanden virtuelle 3D-Welten in Videospielen bis dahin meist aus geschlossenen Innenräumen, so entwarf Bongfish hier eine acht mal acht Kilometer große zusammenhängende winterliche Outdoor­szenerie – eine per Hand programmierte Collage mit Abfahrten in einem frei erfundenen Skigebiet rund um sieben der markantesten Berggipfel der Welt, vom Matterhorn bis zum K2. 64 Quadrat­kilometer, die den Boden für die gesamte Welt bereiteten.

Das Spiel war schon einige Jahre auf dem Markt, als sich 2016 ein Entwicklungsteam von Microsoft an „Stoked“ erinnerte und sich bei Putz meldete. „In der Planungs­phase für die nächste Version ihres legendären Flugsimulators wollten sie weg von der Zweidimensionalität“, erzählt Putz; „sie wollten erstmals eine realistische, plastische Abbildung unserer Erde – Land­schaften und Bäume, Berge und Häuser, sie träumten von der dritten Dimension.“ Die Welt sollte nicht mehr flach sein, es sollte eine Erde mit Höhen und Tiefen werden – so, wie sie eben ist: eine runde Sache mit Ecken und Kanten.

Wochen und Monate tüftelten Putz und 30 seiner Mitarbeiter an der Entwicklung, doch klar war von Anfang an: Anhand von Satelliten­bildern den Globus individuell zu kartografieren, auszuwerten, jedes Objekt einzeln zu erfassen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ­brauchte automatisierte Lösungen, es brauchte das Superhirn, den Wissensdrang der künstlichen Intelligenz. Und ihren Appetit.

Ob er Blackshark eines Tages als „Unicorn“ mit einem Wert von mehr als einer Milliarde sieht, ob und wann er an die Börse gehen wird, das ist für Michael Putz noch viel zu weit weg. Was nun ansteht, ist der Einstieg ins Metaverse, wo er mit seiner Technologie und seinen Dateninformationen eine breite Basis legen möchte für den Bereich, den er als Schnittstelle der realen und der virtuellen Welt sieht, wie er gegen Ende des ­dreistündigen Gesprächs erwähnt.

Es ist später Nachmittag, es steht aber noch viel an: Einzel­gespräche, Mitarbeiterbesprechungen, Zoom-Calls mit dem Sales-­Team in den USA. Kurzfristig müsse man denken – sagt er zum Abschied angesichts anstehender Herausforderungen noch – jetzt weiter und noch besser liefern zu müssen, um 2023 auch die nächste anstehende Zuschussrunde der beteiligten Investoren zu meistern. „Wir sind täglich gefordert“, sagt Putz, und klingt wie ein Fußballtrainer, der davon spricht, dass die nächste Partie die schwerste sei. Aber er kennt das ja aus seiner Zeit als Videogamer. Es geht in dieser frühen Phase noch nicht darum, das ganze Spiel zu gewinnen – ­sondern einfach darum, das nächste Level zu schaffen.

Text: Florian Kinast
Fotos: Clara Wildberger

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