Die Mobilität von übermorgen

Wir stehen an der Schwelle zur vierten Revolution unseres bisherigen Mobilitätsverständnisses. Wie werden wir uns in Zukunft fortbewegen? Ein Gastkommentar von Florian Albert, Leiter des FutureCar Innovation Netzwerks am Fraunhofer Institut in Garmisch-Partenkirchen.

Bevor wir in die Zukunft der Mobilität ­blicken und uns Konzepte ausmalen, wie wir zukünftig reisen werden, sollten wir zunächst verstehen, wo wir heute stehen und was bisher geschah. Ähnlich zu den vier industriellen Revolutionen – von der Dampfmaschine über Fließbandfertigung und erste Computer sowie Produktionsroboter bis hin zu Vernetzung und dem Internet der Dinge – kann man sagen, dass es auch im Bereich der ­Mobilität mehrere Revolutionen gab. Mit der Einführung der ersten öffentlichen Eisenbahn 1825 in England und dem anschließenden Durchbruch von Dampflokomotiven und Schienennetzen in ganz Europa eröffneten sich neue Perspektiven für den damaligen Personentransport und Langstreckenreisen – die erste Mo­bilitätsrevolution war vollzogen. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die zweite Revolution: Das damalige Mobilitätsverhalten und vor ­allem der innerstädtische Verkehr verlagerten sich von Pferden und Kutschen hin zu den ersten Straßen­bahnen (1881 in Berlin), ersten Automobilen (1886 in Stuttgart) sowie zu den ersten U-Bahnen (1890 in London). Später eröffneten Automodelle wie der VW Käfer (1945) oder der Citroën 2CV (1949), welche in großen Stückzahlen produziert wurden und sich als private Fahrzeuge für jedermann eta­blierten, einen automobilen Massenmarkt. So erlebten wir Mitte des 20. Jahrhunderts die dritte Mobilitätsrevolution. Und heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, stehen wir an der Schwelle zur vierten Revolution unseres bisherigen Mobilitätsverständnisses.

Florian Albert
... absolvierte seinen Master in Industrial Engineering & Entrepreneurship an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitet seit 2015 für das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Garmisch-Partenkirchen. Dort ist er Teil des Mobility-Innovation-Teams.

Elektrische Antriebe anstelle von Verbrennungstechnologien, neue Energiespeichersysteme mit Batterien oder Wasserstofftanks, zunehmende Automatisierungsgrade und eine umfassende Vernetzung und Digitalisierung stellen den bisherigen Status quo unserer Mobilität gleich durch mehrere Herausforderungen auf einmal in­frage. Doch nicht nur die aktuellen Entwicklungen der Automobilindustrie hin zu vernetzten, autonomen Fahrzeugen mit elek­trischen Antrieben machen diese vierte Revolution aus. Sie wird sich vor allem durch die nahtlose Einbettung des Fahrzeugs in ein umfassendes Verkehrsökosystem und den omnipräsenten und digital gesteuerten Zugang zu diesem Mobilitätssystem auszeichnen. Mobility as a Service heißt hier das Zauberwort – benutzen statt besitzen.

Im Jahr 2019 verzeichneten allein in Deutschland die großen Carsharing-Anbieter 350.000 neu registrierte Nutzer, was einem Zuwachs von gut 16 % zum Vorjahr entspricht. Doch nicht nur Carsharing, auch Fahrräder oder neuerdings E-Scooter werden geteilt genutzt. Per App zugänglich und direkt mit dem Handy gebucht sowie abgerechnet bestimmen sie zunehmend unser Straßenbild in europäischen Großstädten. Die lückenlose Verknüpfung unterschiedlicher Transportmedien zu sogenannten inter- oder multi­modalen Mobilitätsangeboten, die Abdeckung der letzten Meile, welche bisher zu Fuß gegangen werden musste, und die Abkehr von rein privat genutzten Fahrzeugen zeigen die ersten Schritte auf dem Weg zur Mobilität von morgen auf. Doch wie kann die weitere Zukunft aus­sehen? Hier eröffnet sich ein großes Spielfeld unterschiedlicher Angebote und vor allem Fortbewegungsmittel. Durch neue Erkenntnisse in den Bereichen Robotik, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen wird sich der Weg für eine erfolgreiche Einführung sogenannter Robo-Taxis ebnen – selbstfahrende Autos, welche wir on demand herbeirufen und innerhalb eines Sharing­angebots geteilt mit anderen Fahrgästen nutzen werden. Googles Tochter Waymo, eine der führenden Firmen auf diesem Gebiet, sammelte jüngst 2,25 Milliarden US-$ Investitionsmittel ein, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Doch nicht nur auf der Straße wird sich übermorgen ­einiges ändern: Mit sogenannten Hyperloops er­arbeiten Ingenieure rund um die Welt derzeit Konzepte für die Zukunft des schienengebundenen Reisens. In abgeschlossenen Luftröhren können erste Prototypen dieser Hochgeschwindigkeitskapseln laut Angaben der Techniker heute schon bis zu 1.000 km/h erreichen. Zum Vergleich: Ein TGV-Zug hat je nach Strecke eine ­maximale Reisegeschwindigkeit von rund 320 km/h. Große Visionäre wie Richard Branson (Entwicklung des Virgin Hyperloop) oder Elon Musk (jährlicher Space X-Hyperloop-Wettbewerb) engagieren sich für die Umsetzung von Hyperloop-Konzepten.

Wir werden die Öffnung der dritten Dimension, sozusagen die Eroberung des Luftraums, für die urbane Mobilität erleben.

Letztlich werden wir im Übermorgen der Mobilität nicht nur den Raum auf Straße und Schiene nutzen. Wir werden die Öffnung der dritten Dimension, sozusagen die Eroberung des Luftraums, für die urbane Mobilität erleben. Mit dem Stichwort Urban Air Mobility und autonomen Flugtaxis wird sich nicht nur unser Stadtbild, sondern auch unser Mobilitätserlebnis und -verständnis nochmals grundlegend verändern. Sogenannte eVTOL-Flugzeuge (electric Vertical Take-off and Landing) werden einen Personentransport auf Kurz- und Mittelstrecken ohne menschlichen ­Piloten oder Flugbegleiter ermöglichen. Hier werden wir uns an unterschiedliche Konzepte – von ­helikopterähnlichen Multikopterdrohnen bis hin zu jetähnlichen Konzepten mit schwenkbaren Flügeln – gewöhnen. Neue Player wie Volocopter oder Lilium, aber auch etablierte Luftfahrtfirmen wie Airbus oder Bell schicken sich an, ihre ­Konzepte zur Anwendung zu bringen, um an diesem potenziellen Milliardenmarkt teilzuhaben. Die Analysten von Roland Berger gehen von rund 100.000 Passagierdrohnen aus, welche bis zum Jahr 2050 weltweit in Betrieb sein werden. Doch wenn wir aus der aktuellen Coronakrise etwas für das Morgen und Übermorgen mitnehmen können, dann die Erkenntnis, dass alles anders kommen kann als gedacht. So kann auch die jahrelang florierende Transport- und Reiseindustrie jäh zum Erliegen kommen, wenn Flugzeuge aufgrund von politischen Beschränkungen auf dem Boden bleiben müssen, öffentliche Verkehrsmittel aufgrund von vermeintlichen Ansteckungsgefahren nicht mehr genutzt werden und Fernreisen und Urlaube aufgrund von Reise­einschränkungen ausfallen müssen. Doch auch hier halten die Zukunft der Mobilität und die Zukunft des Reisens Lösungen für uns bereit: virtuelle Mobilität – ganz bequem von zu Hause, direkt vom Sofa, im bequemen Wochen­endlook. Home­office und Remote Working machen es dank weltweiter Pandemie bereits vor: Businesstrips, Fahrten und Flüge werden nur noch auf die wichtigsten Termine beschränkt, Meetings und Abstimmungen werden in digitale Onlinetools verlegt – warum also nicht auch für den Urlaub davon profitieren und die ganze Welt virtuell erkunden? Die Möglichkeiten und Potenziale von Virtual-Reality-Anwendungen, Streetview und simulierten Echtzeitumgebungen dürfen uns hier träumen lassen. Ein Rundgang im Louvre, ein Spaziergang auf der Chinesischen Mauer oder gleich auf den Mount Everest? Am besten alles nacheinander an einem verregneten Sonntagnachmittag!

Gastkommentar: Florian Albert

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