Die TikTok-­Kriegerin

Mit ihren sarkastischen Videos über die Zerstörung, die Russland in der Ukraine hinterlässt, ist Valeria Shashenok über Nacht berühmt geworden – auf Tiktok erreichen ihre Posts oft mehrere Millionen Views. Die junge Ukrainerin verwendet ihre Reichweite, um ihrem Land zu helfen, indem sie online Spendenaktionen organisiert und der Welt zeigt, was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet leben zu müssen.

Das Video ist mit einer lockeren, fast albernen Musik hinterlegt – der Titel: „Lebe mein bestes Leben“, dazu drei Herzchen-Smileys. Zu sehen sind Menschen, die in einem Luftschutzbunker ausharren, zer­­störte Gebäude und Bomben­krater, Kinder, die auf einem Panzer spie­len – natürlich ist dieser Clip ein sarkastischer Kommentar.

Das Video stammt aus dem Kanal von Valeria Shashenok. Die 21-jährige Ukrainerin ist seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar eine Social-Media-Berühmtheit ge­worden. Auf Instagram und Tiktok postet sie unter dem Namen @valerisssh Clips von der Zer­störung, die der Krieg in der Ukraine hinterlässt. Ihr berühmtestes Video hat über 50 Millionen Views erreicht.

Shashenok arbeitet eigentlich als Fotografin, doch als am 24. Februar die ersten Raketen einschlugen, musste sie in einem Bunker Schutz suchen. Dort entstand auch das Tiktok-Video vom „besten Leben“, das ein viraler Hit wurde und um die Welt ging. „Ich kann der Menschheit zeigen, was wirklich in der Ukraine passiert“, erzählt Shashenok. „Gerade am Anfang war es total verrückt, es flogen so viele Bomben, es gab so viele Explosionen. Und in diesem schrecklichen Moment erkannte ich: Ich kann meinem Land nützlich sein. Ich kann der Welt zeigen, wie es hier wirklich zugeht.“

Das Markenzeichen ihrer Videos ist der sarkastische Unterton. Sie versuche, ihren Mitbürgern in dieser schwierigen Zeit Hoffnung zu geben, sagt die junge Frau. „Viele Menschen können nicht flüchten, weil ihnen die Mittel dafür fehlen. Besonders für diese Leute ist es wichtig, die Hoffnung zu bewahren. Humor wirkt da wie eine gute Medizin“, so Shashenok.

Zwei Wochen harrte die Ukrainerin in ihrer Heimatstadt Tscher­nihiw aus, dann flüchtete sie nach Mailand; später zog sie nach Deutschland, wo sie bei einer deutschen Familie Zuflucht fand. Ihre Reise dokumentierte Shashenok für ihre 1,3 Millionen Tiktok-Follower in kurzen, oft emotionalen Videos. Kritiker werfen ihr vor, das Leid des Kriegs für ihre Popularität zu nutzen; manche nennen sie eine „Kriegs-Influencerin“. Doch Shashenok sagt: „Wenn die Leute mich so nennen wollen, sollen sie das tun, aber ich helfe meinem Land, ich organisiere Spenden­aktionen. Ich möchte meine Energie nicht damit verschwenden, Leuten zu erklären, wer ich bin.“

Mitte Juli brachte Shashenok ein Buch heraus. In „24. Februar … und der Himmel war nicht mehr blau“ schreibt sie über ihr Leben in der Ukraine während des Kriegs und geht dabei auch auf sehr persönliche Erlebnisse wie den Tod ihres Cousins durch einen russischen Angriff ein. „Es ist ein Buch über die Ukraine, über den Krieg, aber es ist kein Geschichtsbuch, ­sondern wie ein kleines Tagebuch. Es handelt nicht von schönen Erfahrungen – aber es handelt von wirklich wichtigen Sachen“, erzählt Shashenok. Sie sagt, es seien vor allem ihre Fans auf Social Media, die ihr Buch kaufen würden.

Videos wie jene, die Shashenok postet, spielen eine bedeutende Rolle im Ukraine-Krieg. Sie dokumentieren subjektiv das Leben in einem Kriegsgebiet und erreichen Zuschauer auf einer emotionalen Ebene – im Gegensatz zu sachlichen Zeitungsartikeln oder TV-Reportagen. Diese Art des Storytellings kommt an; sie bringt Aufmerksamkeit, Reichweite und somit auch Unterstützung, vor allem im Westen. Auf diese ist die Ukraine derzeit besonders angewiesen, denn als Folge der Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden, steigen die Energiepreise und die Inflation rasant.

Die von den Bewohnern der belagerten Regionen aufgenom­menen Videos sind oft die einzigen Nachrichten, die an die Öffentlichkeit gelangen. So können zwar auch Fehl­informationen verbreitet werden, gleichzeitig geben soziale Medien diesen Menschen aber eine Stimme. Der Soziologe Nathan Jurgenson, ein Social-Media-­Theoretiker, schreibt in seinem Buch „The Social Photo: On Photography and Social Media“: „Die Stärke solcher Bilder liegt weniger in der Vermittlung von Informa­tionen, sondern vielmehr in den Erlebnissen, die sie zum Ausdruck bringen, und den Emo­tionen, die dadurch bei den Rezi­pienten ausgelöst werden.“

Nach über zwei Wochen im Bunker flüchtete Shashenok nach Deutschland und Italien. Ihre Reise teilte sie mit 1,3 Millionen Followern auf Tiktok.

Auch in anderen Krisen spielen Social Media eine entscheidende Rolle. Der Konflikt zwischen Israel und der radikalislamischen Paläs­ti­nenser-Organisation Hamas oder der Krieg in Syrien werden auch auf Twitter und Tiktok ausgefochten. Doch gerade im Ukraine-Krieg wird wohl am deutlichsten, wie Videos aus den sozialen Netzwerken unsere Wahrnehmung prägen und den Geschehnissen eine neue Unmit­telbarkeit geben; auch, weil die Ukraine besser an die westliche Social-Media-Welt angeschlossen ist als andere globale Kriegsgebiete. Laut der Internationalen Fernmeldeunion verwenden circa 75 % der Ukrainer das Internet, in der arabischen Welt liegt dieser Wert bei 66 %.

Die ukrainische Regierung selbst verwendet soziale Medien, um Informationen zur Evakuierung bis hin zu Aufrufen für mehr Waffenlieferungen zu teilen. Das Innenministerium stellte zu Kriegsbeginn einen Telegram-Chatbot online, dem ukrainische Bürger Informationen zum Standort der russischen Armee schicken konnten. Insgesamt bekam die ukrainische Armee auf diesem Weg zwischenzeitlich rund 10.000 Nachrichten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, ein ehemaliger Reality-TV-Star, gilt als brillanter Kommunikator, weil er geschickt die Macht sozialer Medien zu nutzen weiß.

Valeria Shashenok ist mittlerweile zurück in Kiew. „Ich bin aus der Ukraine geflüchtet, weil ich an einem Ort leben wollte, wo die Menschen fließendes Wasser und Strom haben – sehr nützliche Dinge“, erzählt sie mit ihrem ge­wohnt sarkastischen Unterton. „Aber ich wollte nie wirklich weg aus der Ukraine. Ich bin vor russischen Bomben geflohen, aber ich wollte immer hierher zurück. Hier habe ich meine Familie, ich bin in meinem Heimatland.“

Mit ihrer Reichweite auf Instagram und Tiktok sammelt Shashenok Spenden für den Wieder­aufbau des Hauses ihres Onkels, das während des Kriegs zerstört wurde. Sie teilt Videos ihrer Geburtstagsparty, die sie vor zwei Jahren dort gefeiert hat, und stellt die glück­lichen Erinnerungen neuen Bildern gegenüber: Ein Haus mit zer­schossenen Fensterscheiben und von Feuer zerstörten Wänden. Dazu folgender Kommentar: „Der Boden hat überlebt. Danke, Putin!“

Valeria Shashenok ist eine ukrainische Fotografin. Als Russland Anfang dieses Jahres in ihrem Heimatland einmarschierte, begann sie, Bilder und Videos der Zerstörung auf Social Media zu teilen. Sie erreicht damit Millionen von Menschen.

Text: Erik Fleischmann
Fotos: Valeria Shashenok

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.