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Westwing-Gründerin Delia Lachance hat bewiesen, dass sich Designermöbel online verkaufen lassen. Die studierte Modejournalistin ist die kreative Kraft hinter einer Marke, die als «Shoppable Magazine» ihren Anfang nahm und Ikea in den sozialen Medien längst hinter sich lässt. Ihr treuer Begleiter: ein junger, designaffiner Kundenstamm. Der zweite Wachstumsschub soll diesmal nachhaltig sein.
Die besten Ratschläge sind mitunter jene, die man ignoriert. München, Anfang der 2010er-Jahre: Delia Lachance – damals trägt sie noch den Nachnamen Fischer – ist im Begriff, sich mit dem Onlineverkauf von Designprodukten im Home-and-Living-Bereich selbstständig zu machen. Ein Mann, dem sie auf einer Gründerveranstaltung von ihrer Geschäftsidee erzählt, winkt ab: «Das kannst du sein lassen, ein Start-up hier in München hat gerade eine Riesensumme für diese Idee erhalten.» Die junge Frau nickt höflich. Was sie ihm nicht verrät: Sie selbst hatte gerade diese Millionen eingesammelt. «Mittlerweile weiss er es wahrscheinlich», sagt Lachance und lacht.
Vergangenes Jahr hat das von ihr mitbegründete Unternehmen Westwing 444 Mio. € (414 Mio. CHF )umgesetzt. In 22 Ländern Europas können Westwing-Kunden über die Webseite Designmöbel und Interior-Produkte im mittleren Preissegment kaufen. Als Chief Creative Officer (CCO) von Westwing verantwortet Lachance das «Was» und das «Wie» der Marke, wie sie selbst sagt. «Meine wichtigste Aufgabe ist, dass wir unsere DNA nicht verlieren», so die Mitgründerin. Ergänzend zum Verkauf von Designprodukten an private Endkunden entwickelt Westwing Interior-Konzepte für Büros, Immobilienprojekte und die Hospitality-Branche; seit 2018 ist das Unternehmen an der Frankfurter Börse gelistet.
Lachance ist die kreative Kraft hinter dem einzigartigen Konzept, das ein kuratiertes Sortiment von Premium-Designmarken anfangs zeitlich begrenzt als «Shoppable Magazine» zur Verfügung stellte. Ein Newsletter belieferte die entstehende Westwing-Community jeden Morgen mit Inspirationen. Befeuert von Social-Media-Kampagnen und einem Einrichtungsboom während der Coronapandemie wuchs das Unternehmen zu einem europaweit tätigen Interior-Händler heran – zeitweise schneller, als es Westwing vertrug. Seit 2023 arbeitet das Unternehmen daran, seine Expansion in einem zweiten Anlauf vorausschauender zu gestalten.
Heute steuert Lachance die kreativen Geschicke des Unternehmens von der portugiesischen Algarve aus. Dort hat sie nicht nur ein Zuhause für ihre mittlerweile vierköpfige Familie geschaffen, sondern zugleich einen persönlichen Showroom für ihre Westwing-Kollektion. Anders als die bunten Fliesen, für die Portugal bekannt ist, erstrahlt das Haus von Lachance in gedeckten Weiss- und Beigetönen. Alles ist geordnet, kein Gegenstand macht den Eindruck, zufällig an seinem Platz gelandet zu sein. Dass Lachances Kinder am Nachmittag des Interviewtermins mit Forbes an diesem Ort abgesetzt werden, bestätigt: In diesem perfekt inszenierten Haus ist tatsächlich eine Familie zu Hause. Türen, die fliessend in hohe Holzwände übergehen, verbergen die Schlafzimmer des Hauses, eine Glasfront gibt den Blick auf den Garten frei, das Meeresrauschen der nah gelegenen Strände ist bis dorthin zu hören – nahezu alle Möbel, die innen wie aussen aufgestellt sind, stammen aus der Westwing Collection, die die mittlerweile 41-jährige Lachance mit aufgebaut hat. Den Designprozess des hauseigenen Sortiments übernimmt heute ein mehrköpfiges Team – doch wer auf dem Westwing-Sofa in ihrem Wohnzimmer sitzt, spürt, dass Lachance dort, nah an den Designern, ihren Platz gefunden hat. «Ich kann zwei Stunden über Besteck philosophieren», sagt die Westwing-Gründerin. Ihr Haus spiegelt diese Akribie wider. Beinahe wirkt alles zu glatt, würde Lachance nicht lebhaft von Anekdoten ihrer Reise als Unternehmerin erzählen.
Die Idee für Westwing entstand nicht in einem Münchner Gründerzentrum, sondern in einer Redaktion. Nachdem Lachance Modejournalismus und Kommunikation an der AMD München studiert hatte, arbeitete sie knapp fünf Jahre für die Magazine Elle und Elle Decoration. Die Zeit beim Burda-Verlag erwies sich in vielerlei Hinsicht als prägend. «Ich habe bei Elle ein starkes Auge fürs Detail entwickelt», sagt Lachance. Vor allem aber nahm sie eine Lücke wahr: Während Mode und Schönheitsprodukte in allen Preisklassen im Internet zu finden waren, hatte sie Schwierigkeiten, ihren Lesern Ähnliches im Home-and-Living-Segment zu bieten. «Online-Mode war längst überall verfügbar, aber bei Interior-Produkten gab es nur zwei Extreme – entweder sehr günstig und nicht besonders schön oder High Luxury», erinnert sie sich an diese Zeit. «Verglichen mit Beauty und Mode ist der Bedarf für Inspiration bei Interior am grössten», sagt Lachance, «deshalb haben wir von Anfang an stark auf Content in den sozialen Medien gesetzt.»
Aus der Marktlücke wurde ein Geschäftsmodell. «Wenn du es machen willst, dann jetzt», hatte Lachances Mutter ihrer Tochter geraten. Im Jahr 2011 wagte Lachance den Sprung in die Selbstständigkeit. Sie überzeugte einen Freund, Stefan Smalla, gemeinsam einen Plan für die Unternehmensgründung zu erstellen. Gerne hätte sie eine weitere Frau für das Team gewonnen, doch keine der Bekannten, die sie darauf ansprach, war zum Sprung ins kalte Wasser bereit. Stattdessen vervollständigten drei weitere Männer die Gründungsmannschaft – Georg Biersack, Tim Schäfer und Matthias Siepe. Der erste Investor, den das Westwing-Team überzeugen konnte, war der Risikokapitalgeber Holtzbrinck Ventures. Hat er das Potenzial hinter der Idee sofort erkannt? «Nein», sagt Lachance. Kaum jemand verstand, dass nicht bloss Möbel verkauft werden sollten, sondern eine ganze Interior-Welt samt Vasen, Duftkerzen und dem dazugehörigen Lebensgefühl. Als Lachance und ihre Kollegen das Holtzbrinck-Büro verliessen, waren sie sich sicher, dass kein Geld fliessen würde. Doch es kam anders: Die Business Angels Christoph Janz und Klaus Neuhaus, die Tengelmann-Gruppe und eine Handvoll institutionelle Investoren reihten sich in die Riege der Kapitalgeber ein.
Im April 2011 erfolgte die Unternehmensgründung, im September der reguläre Markteinstieg als exklusiver Shopping-Klub: Nur Mitglieder erhielten Zugang zu den Produktempfehlungen, alle anderen bekamen nichts zu sehen. «Dass man einen Account anlegt, um Zugang zu erhalten, war damals noch ungewöhnlich», sagt Lachance. Facebook existierte bereits, durchgesetzt hatten sich die sozialen Medien allerdings noch nicht. Westwing vermittelte Kunden ein «Community-Gefühl», als Online-Communitys noch rar gesät waren. Es war das Burda-Magazin Bunte, das der Gründerin eine ihrer ersten Schlagzeilen lieferte. «Westwing: In ist, wer drin ist», lautete die Überschrift. Lachance konnte auf persönliche Kontakte aus dieser Zeit genauso zurückgreifen wie auf ihr Wissen zu Nischenmarken. Die erste grosse Verkaufswelle setzte in der Vorweihnachtszeit 2011 ein – und mit ihr grosse Herausforderungen für die Logistik: Die Eltern von Lachance verbrachten ein Wochenende im Westwing-Lager, um die Ware rechtzeitig abzufertigen. Als Lachance und ihr Team Tausende Vogelhäuser verpackten, vergassen sie, die Sitzstangen anzubringen – «ich habe nachher allen betroffenen Kunden ein Päckchen Tee und einen Brief als Entschuldigung geschickt», erzählt die Gründerin.
Welche Produkte sich zu Kassenschlagern entwickeln, ist nicht immer vorherzusehen. Lachance sieht sich als das «kreative Bauchgefühl» des Unternehmens: «Wären wir immer nach KPIs (Key Performance Indicators; Anm.) gegangen, gäbe es Westwing längst nicht mehr», sagt sie. Design ist für Lachance nicht immer direkt messbar: «Gerade als Design-Brand läuft man, wenn man nur nach KPIs entscheidet, Gefahr, vorhersehbar und langweilig zu werden», so die Gründerin. Während sie darüber spricht, springt sie auf und zückt ein Kissen in Zuckerstangenform. Es ist ein Bestseller des Sortiments. «Wie hätten wir das mit KPIs vorhersagen können?», sagt die CCO und macht klar, dass es sich um eine rhetorische Frage handelt.
Die Gründerin musste nach eigenen Angaben nie mit ihren Mitgründern darum streiten, Geld für ästhetische Belange wie ein schönes Webseiten-Design in die Hand zu nehmen. Sie vertrauten der kreativen Gestalterin des Unternehmens, die Prioritäten richtig zu setzen – dass sich das lohnt, zeigt die bisherige Geschichte von Westwing.
Bis Mitte 2014 gelang es Lachance und ihrem Team, rund 150 Mio. € an Investorengeldern zu beschaffen. Das Shopping-Klub-Konzept erwies sich als vielversprechend – 2018 drängte das Unternehmen mit einem Emissionspreis von 26 € je Westwing-Aktie an die Börse. Den damit verbundenen Emissionserlös von rund 125 Mio. € nutzte das Team rund um Lachance, um die Expansion anzukurbeln und die hauseigene Westwing Collection aufzubauen. Heute liegt ihr Anteil bei rund 66 % des gesamten Geschäftsumsatzes; mit einem jährlichen Umsatzwachstum von 19 % ist sie wichtigster Umsatztreiber. Die Margen seien höher als bei den Partnerschaften, die das Unternehmen mit Designern und anderen Unternehmen unterhält, das Risiko aber auch, sagt Lachance. Darüber hinaus sind 200 internationale Designermarken dauerhaft im Online-Sortiment von Westwing zu finden, Kooperationen bestehen mit über 3.000 Partnern. Zu ihnen zählen der Hausgeräte-Hersteller Smeg, die Designfirma Gubi und der Leuchtenproduzent Artemide. «Nur Westwing wäre auch langweilig», sagt Lachance und lacht.
Die Produktion lagert Westwing aus. Der Grossteil der Produkte, 40 %, stammt aus Europa – den überwiegenden Rest bezieht das Unternehmen von chinesischen und indischen Lieferanten, etwa bei Marmor und bestimmten Leuchten. Auch die Westwing-Kunden sind international verteilt: In 22 europäischen Ländern ist das Mutterunternehmen Westwing Group SE mit seinen Tochtergesellschaften tätig, weitere sollen kommendes Jahr folgen.
Was wie eine lineare Entwicklung aussieht, war es nicht: 2021 und 2022 wies der deutsche Möbelmarkt ein solides Umsatzwachstum auf (laut Daten des EHI Retail Institute 1,6 % bzw. 3,9 %), doch Westwing hatte mit Wachstumsschmerzen zu kämpfen. Das Unternehmen hatte unterschätzt, wie sehr die Coronapandemie das Kaufinteresse befeuern würde. Also stellte es neue Mitarbeiter ein, um den Anfragesturm zu bewältigen. Doch nachdem der Markt gesättigt war, erwiesen sich die Strukturen als überdimensioniert. Darunter litt die Profitabilität. Nach einem zwischenzeitlichen Pandemie-Hoch fiel der Aktienkurs im September 2022 mit 5,09 € auf den tiefsten Stand seit Mai 2020. Was folgte, ist, wie Lachance es nennt, der «3-Step-Plan» – eine strategische Neuausrichtung. Bereits zuvor hatte sich das Unternehmen aus den nicht europäischen Märkten Brasilien, Russland und Kasachstan zurückgezogen.
Im zweiten Anlauf macht Westwing einiges anders. Das Unternehmen wollte europäischer werden, sagt Lachance – und einheitlicher: Nachdem Westwing anfangs Möbel und Interior-Gegenstände für einzelne Märkte entwarf, ist das Sortiment nun auf ein globales Publikum ausgerichtet. Die Designpräferenzen hätten sich angeglichen, nicht zuletzt durch den Einfluss der sozialen Medien. Gleichzeitig hat das Unternehmen seine Markenwelt vereinfacht, indem es den Shopping-Klub Westwing und den permanenten Onlineshop Westwing Now zusammenführte. Mit einheitlicheren Unternehmensstrukturen will Westwing die internationale Skalierung einfacher gestalten. Dazu wurden Westwing-Standorte in Italien, Spanien, Mittel- und Osteuropa sowie das Münchner Hauptquartier «reorganisiert», wie Lachance erklärt. Wie sehr das Konzept aufgeht, wird die Zeit zeigen – denn erst 2024 hat Westwing den ersten neuen Markt der zweiten Expansionswelle erschlossen. Auf Portugal folgten unter anderem Dänemark, Kroatien und Griechenland.
Gerade als Design-Brand läuft man, wenn man ausschliesslich nach KPIs entscheidet, Gefahr, vorhersehbar und langweilig zu werden.
Delia Lachance
Seit 2022 setzt Westwing auch auf stationäre Präsenz – mit neun Stores, darunter eine Filiale im Pariser Printemps Haussmann. «Wir werden immer ‹E-Commerce first› bleiben», sagt Lachance, «aber Stores ermöglichen, die Marke zum Leben zu erwecken.» Der erste Shop entstand aber nicht in München, sondern am Hamburger Jungfernstieg – aus einem pragmatischen Grund: verfügbare Fläche. Entscheidender für die Markenreichweite dürfte sein, dass Westwing seine digitale Präsenz auszunutzen weiss und durch Kooperationen mit Influencern laufend bespielt: Rund 8,6 Millionen Menschen folgen Westwing auf Instagram, bei Lachance sind es mehr als 150.000; vieles wird in ihrem privaten Wohnzimmer abgefilmt. An Ikea (1,7 Mio. Follower) zieht Westwing damit locker vorbei. 2026 will das Unternehmen seine Profitabilität weiter steigern. 2024 lag das um Sondereffekte bereinigte EBITDA bei 24 Mio. € (Marge: 5,4 %), im dritten Quartal 2025 kletterte es um 73 % auf 6 Mio. €. Die Herausforderung: Der Umsatz der deutschen Möbelindustrie dürfte 2025 branchenweit auf den tiefsten Stand der vergangenen 15 Jahre sinken, gleichzeitig will Westwing neben Millennials und der Gen Z auch ältere Zielgruppen erschliessen, um den Einkaufswert (Schnitt: 195 €) anzuheben. Lachance betont die Unternehmenskultur: «Für uns ist es ganz wichtig, ein Team zu haben, das eigene Ideen einbringt und unternehmerisch denkt.» Informationen von Business Insider zufolge haben ehemalige Westwing-Mitarbeiter selbst rund 30 Start-ups gegründet, drei davon als «Einhörner» mit einer Bewertung von mindestens einer Mrd. US-$ (869 Mio. €).
Lachance selbst geriet mit einem unfreiwilligen Karriereschritt in die Schlagzeilen. Als sie 2020 ihr erstes Kind erwartete, wurde klar: Das Gesetz zwingt sie dazu, ihren Vorstandsposten abzugeben, um den verpflichtenden Mutterschutz anzutreten. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hatten Vorstandsmitglieder, etwa einer Aktiengesellschaft, keine Möglichkeit, ihr Mandat vorübergehend ruhen zu lassen, um temporär anderen Verpflichtungen nachzugehen. «Das hat uns ehrlich gesagt überrascht», so Lachance. Das Onlinemedium Gründerszene griff ihren Fall auf, das mediale Echo war gross – so gross, dass Unternehmerin Verena Pausder die Initiative «Stay on Board» begründete, die schliesslich in eine Gesetzesänderung mündete. Nach heutiger Rechtslage müsste Lachance ihren Vorstandssitz nicht mehr räumen. In den Vorstand hat es sie aber nicht mehr gezogen: «Für mich ist es schön, jetzt etwas freier leben und arbeiten zu können», sagt sie.
Fotos: Gianmaria Gava