Doppelte Krise

Nach wie vor haben überwiegend Frauen in ländlichen Gebieten mit einer unzureichenden Ernährung zu kämpfen. Die Coronavirus-Krise könnte diese Spirale vor allem in Afrika verschärfen. Kawinzi Muiu vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen kämpft dafür, dies zu ändern.

Kawinzi Muiu hat in der Coronavirus-Krise einen wichtigen Job. Die Director of Gender des UN World Food Programm (WFP) kämpft dafür, die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern bei der Ernährungssicherheit sicherzustellen. Denn viele Frauen, vor allem in ländlichen Gebieten, haben nach wie vor damit zu kämpfen, jederzeit auf ausreichende, gesunde und nahrhafte Nahrung zugreifen zu können. Muiu macht keine Umschweife als wir mit ihr beginnen zu skypen: „Frauen und  Mädchen können in ländlichen Gebieten sehr viel zur Wirtschaft beitragen. Doch wir merken, dass sie oftmals zurückgelassen werden, denn sie verfügen nicht über entsprechende Ressourcen. Frauen haben zum Beispiel oft nicht genügend landwirtschaftliche Inputs, um ihre tägliche Produktion von Essen zu verbessern. Vielmehr müssen sie etwa langwierig Brennholz und Wasser besorgen.“ Muiu überlegt einen Moment. „Es ist erwiesen, dass Frauen in vielen Ländern am wenigsten und als Letztes im Rahmen der Familie essen.“

Spirale verschärft sich

Durch die Coronavirus-Krise könnte sich diese Spirale noch verschärfen – insbesondere in afrikanischen Ländern, die über die schwächsten Gesundheitssysteme der Welt verfügen. In Afrika haben sich bisher über 259.000 Menschen mit COVID-19 infiziert, rund 7.000 Personen sind daran gestorben.[1] Dies ist zwar im Vergleich zu anderen Kontinenten nicht derart viel, dennoch steigt besonders der Druck in der Sahelzone. Denn in Burkina Faso prallen gleich zwei Krisen aufeinander: Nach Berechnungen des WFP wird sich die Zahl der Menschen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, mit Beginn der mageren Jahreszeit ab Juni auf 2,1 Millionen Personen mehr als verdreifachen – zur gleichen Zeit des Vorjahres waren es 680.000 Personen. Auch Mali und Niger kämpfen inmitten der Coronavirus-Krise mit steigender Ernährungsunsicherheit.

Geschlechtergerechtigkeit weltweit

Auch Muiu selbst ist massiv mit der Coronavirus-Krise konfrontiert. Sie arbeitet von Rom aus, wo die UN-Behörde ihren Hauptsitz hat. Italien ist nach den USA und Großbritannien das Land, das weltweit die größten Opferzahlen aufgrund des Coronavirus verzeichnet. Das öffentliche Leben wurde Wochen lang pausiert, erst seit Mitte Mai gibt es erste Lockerungen. Dennoch wirkt die Kenianerin gelassen als wir mit ihr sprechen – macht sich über die Tragweite der Krise aber keine Illusionen: “Die Krise ist wirklich dramatisch. Ich hoffe, dass nicht zu viele Menschen sterben.“

Ihr Job als Director of Gender ist Muius’ Herzensangelegenheit. Sie brennt dafür, die Ernährungssicherheit für Frauen sicherzustellen sowie deren Bedingungen weltweit zu verbessern. Denn laut Muiu sind Geschlecht und Ernährungssicherheit untrennbar miteinander verbunden. Ein Blick auf die Statistik unterstreicht das: laut dem WFP sind von den 821 Millionen Menschen, die weltweit von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, 60 % Mädchen und Frauen. Dazu ist der Ertrag von Bäuerinnen um 20 bis 30 % niedriger – was wiederum auf den ungleichen Zugang zu Geld und Ressourcen wie Land, verbessertes Saatgut, Düngemittel, Ausrüstung und Kredite zurückzuführen ist.

Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, hat das WFP 2015 die „Gender Policy 2015-2020“ ins Leben gerufen. Dieses Programm zielt darauf ab, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Frau in alle Aktivitäten des WFP zu integrieren. Denn das übergeordnete Ziel hat es in sich: eine Welt ohne Hunger bis 2030. Das WFP ist dabei in 80 Ländern weltweit aktiv, die Projekte werden dabei auf nationaler Ebene umgesetzt. „Wir liefern zum Beispiel sichere, brennstoffeffiziente Öfen, die Energie zum Kochen liefern, damit Frauen nicht nach Brennholz suchen müssen“, erklärt Muiu. Darüber hinaus stellt das WFP Ressourcen zur finanziellen Ausbildung, Zugang zu Finanzmitteln und Krediten sowie zu Technologien bereit. Muiu erzählt etwa von Bäuerinnen in Ruanda, die es durch verschiedene Maßnahmen geschafft hätten, bessere Preise auszuhandeln und ein zusätzliches Einkommen zu erzielen. Damit sei es ihnen gelungen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Für seine Programme braucht das WFP selbst jede Menge Geld: Die Organisation erhielt für seine Programme 2018 7,2 Milliarden US-$ – wobei laut Muiu jedoch zehn Milliarden US-$ nötig gewesen wäre, was einer Finanzierungslücke von 28 % entspricht.

Schulausbildung als Schlüssel

Muiu weiß, wovon sie spricht. Ihre Mutter hatte in Nairobi selbst keine Möglichkeit, in die Schule zu gehen, arbeitete ihr Leben lang als Bäuerin. Umso wichtiger war es ihr, ihren zwei Töchtern Bildung zu ermöglichen. Für Muiu war die Schule in Kenia der Start für eine internationale Karriere: mit 18 Jahren erhielt sie ein Stipendium, um in den USA an der Georg Washington University „Finance and Investments“ zu studieren. Inhaltlich habe ihr das Studium keinerlei Probleme bereitet, erzählt Muiu, denn das kenianische Bildungssystem habe sie gut darauf vorbereitet. Vielmehr sei das Klima in der US-Hauptstadt zu Beginn eine Herausforderung gewesen: „Meine Schwester und ich sahen das erste Mal Schnee“, sagt sie entspannt lächelnd im Rahmen unseres Interviews an der Johns Hopkins University in Bologna (das zweite Interview fand dann via Skype statt, Anm.) Nach dem Studium arbeitete Muiu als Unternehmensberaterin beim Beratungshaus PwC und als Projektanalystin bei der African Development Bank. Doch ihre berufliche Leidenschaft wurde erst so richtig geweckt, als sie 1994 beim WFP als Budget Officer andockte. Sie arbeitete von Beginn an an Initiativen zu Kinderhunger, Schulspeisung, Wissensmanagement und Geschlechtergleichstellung. 2015 wurde sie schließlich zur „Director of Gender“ berufen. „Das ist der Job, für den ich geboren wurde“, sagt Muiu strahlend.

Doch wie erfolgreich ist Muiu mit der WFP Gender Policy? Eine Evaluierung der „Gender Policy“ des vergangenen Jahres habe ergeben, sagt sie, dass diese Politik im Kontext des Ziels für 2030 seine Relevanz hat. Außerdem habe die „Gender Policy“ dazu beigetragen, dass die Themen von Gleichstellung und Empowerment von Frauen auch in andere Aktivitäten des WFP integriert wurden. In den Bereichen Ernährungssicherheit sowie Schutz von Frauen hätten einige Programme zum gewünschten Erfolg geführt, so Muiu. Muiu wirkt dennoch motiviert, als sie mehrmals betont, dass es noch viel zu verbessern gäbe. Denn auch die Herausforderungen des Klimawandels und anhaltender Kriege verschlechtern den sicheren Zugang zu Nahrungsmittelhilfe. Und: 2018 unterstützte das WPF 44,2 Millionen Frauen und Mädchen direkt, was 51 % der Gesamtzahl entspricht. „Unsere Politik soll jeden erreichen – Frauen, Mädchen, Männer und Buben“, so Muiu.

Buben als Teil des Programms

Damit spricht sie einen entscheidenden Punkt an. Denn dass diese Einbeziehung nicht immer so leicht ist, bestätigt der Evaluierungsbericht „Joint Programme on Girls Education (JPGE)“. Dieser beschreibt die Maßnahmen des WFP in den Bezirken Mangochi, Dedza and Salima in Malawi zwischen Juli 2014 und Oktober 2017.[4] Das Hauptziel des Projektes war es, den Zugang zu und die Qualität der Bildung für Mädchen in 81 Grundschulen zu verbessern. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass von sieben gesetzten Zielen fünf „fast“ erreicht wurden (unter anderem angemessene Ernährung von Mädchen und Jungen, Zugang zu jugendfreundlichen Gesundheitsdiensten, Verringerung der Gewalt) – zwei hingegen nur „teilweise“ (Zugang von Mädchen zur „Bildung der zweiten Chance“ und die Stärkung der Führungsposition von Mädchen). Insgesamt sei es aber gelungen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu verringern.

Einen negativen Aspekt gab es dennoch: so hätten sich Buben, als auch ihre Familien, gegenüber Mädchen im Programm benachteiligt gefühlt. Etwa, wenn es um die Nahrungsrationen ging, die sie mit nach Hause nehmen konnten (der Bericht erwähnt an einer Stelle, dass die Einbeziehung von Buben nicht Teil des Projekt-Designs waren, an anderer jedoch, dass dies sehr wohl unter das „Gesamtziel“ fiel, Anm.) Muiu reagiert auf diesen Kritikpunkt gelassen: „Die Projektverantwortlichen haben wahrscheinlich herausgefunden, dass insbesondere Mädchen zuvor nicht in die Schule gingen und deshalb gefördert werden mussten. Unsere Projekte sind gut organisiert und basieren auf einer guten Analyse. Diese zeigt uns, ob es Mädchen oder Buben sind, die Hilfe benötigen – und wenn wir herausfinden, dass es Buben sind, fokussieren wir uns auf diese.“

WFP Hilfen

Durch die Coronavirus-Krise steht die WFP aber ohnehin derzeit vor großen Herausforderungen. Das WFP rechnet aufgrund der Pandemie damit, dass Unterstützungsprogramme auf 100 bis 120 Millionen Menschen in mehr als 80 Ländern ausgeweitet werden müssen.[3] „Das WFP ist aufgefordert, noch mehr im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung zu tun. Um die globale Nothilfe rund um Covid-19 zu unterstützen, hat das WFP zu einer raschen Finanzierung von 350 Millionen US-$ von Spendern aufgerufen“, so Muiu. Damit sollen lebenswichtige Flug-, Schiffahrts-, Lager- und Transportdienste sichergestellt werden. Die größten Finanzierer in Krisensituationen sind traditionell die G7-Staaten, darüber hinaus zählen aber auch nationale Regierungen und internationale Organisationen zu den Förderern. Doch bisher sind keine Gelder beim WFP eingetroffen. Darüber hinaus arbeitet das WFP bereits etwa daran, Nahrungsmittelvorräte so zu positionieren, dass sie leicht verfügbar sind – selbst im Falle von Handels- oder Bewegungseinschränkungen.[8] Insgesamt 11,6 Millionen Kinder, die durch Schulschließungen keine Mahlzeiten in der Schule mehr bekommen, sollen unterstützt werden.[9]

Muiu ist jedenfalls optimistisch, dass die finanziellen Mittel von 350 Millionen US-$ bald beim WFP eintreffen werden. Und sie schließt mit einer positiven Note: „Die Krise bringt die Frage einer globalen Verantwortung auf, indem Staaten verstehen, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind. Ich hoffe, dass wir nach der Krise in einer Welt leben, wo wir mehr aufeinander schauen und eingehen – und wir gleichberechtigtere Arbeit sowie bessere Einkommen und Gleichstellung der Geschlechter haben.“

Text: Niklas Hintermayer
Fotos: Laura Karvelis / Tommaso Bacchelli

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