EIN LEBEN OHNE GRENZEN

Guram Gvasalia ist in Georgien kein Unbekannter. Er ist als Kriegskind geflüchtet, als Umweltschützer aktiv und Mitgründer der Kult-Modemarke Vetements. Seit 2020 führt Gvasalia das Familienunternehmen ohne seinen Bruder Demna, der als Creative Director bei Balenciaga anheuerte.

Da im Augenblick Covid-19 die Medien dominiert, lassen Sie uns dieses Interview auch damit beginnen. Welche Auswirkungen hat die globale Pandemie auf die Modebranche? Steht sie vor einer existenziellen Krise?

Ja und nein. Im Leben hängen viele Dinge davon ab, wie das Fundament gebaut ist. Wenn Ihr Haus durchdacht geplant ist und aus den richtigen Materialien besteht, wird es jedem Wind standhalten, sogar einem Hurrikan – wenn es aus Pappe gebaut ist, wird es kaum eine Überlebenschance haben, selbst wenn der Wind nicht so stark weht.

Viele Branchen, auch die Modeindustrie, haben immer mehr produziert, was am Ende niemand brauchte – das war eine Realität, gegen die Sie sich lange gewehrt haben. Erwarten Sie nach der Pandemie einen Abbau der Über­produktion?

Kein Mensch braucht so viele Kleider, wie die Menschen heute konsumieren! Die meisten Menschen kaufen neue Kleidung nicht, weil sie nichts zum Anziehen oder ihre Schuhe Löcher haben; der Grund, warum sie Kleidung kaufen, ist psychologisch.

Die Bekleidungsindustrie ist sehr schädlich für die Umwelt und eine der vielen Ursachen für die globale Erwärmung. Man muss jedoch unterscheiden zwischen der High-Street-Industrie, die Milliarden von Kleidungsstücken an Orten mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen produziert, und der Luxusindustrie, deren Waren in begrenztem Umfang von hoch qualifizierten Kunsthandwerkern hergestellt werden. Brauchen wir die High-End-­Kleidung, um zu überleben? Mit Sicherheit nicht. Werden die Menschen weiterhin Kleidung kaufen, nachdem sich die aktuelle Situation in der Welt verbessert hat? Die Antwort ist ja – und sie werden sogar noch mehr kaufen.

Der Grund dafür ist, dass Menschen in dem Moment, in dem sie Hunger auf bestimmte Emotionen, Erfahrungen und Gefühle bekommen, diese so schnell wie möglich kompensieren wollen. Wenn Sie gut beobachten, werden Sie sehen, dass nach dem langen Fasten vor Ostern die meisten Menschen sich in der Minute, in der Ostern beginnt, mit dem vollstopfen, was sie während der Fastenzeit nicht essen durften. Das Kaufverhalten der Konsumenten folgt demselben Muster. Im Allgemeinen funktioniert die Mode auf einer tiefenpsychologischen Ebene, der Ebene, die normalerweise jenseits des logischen Denkens und Verstehens liegt.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Coronavirus-Pandemie für Vetements und die Mode­branche insgesamt?

Im Leben ist es immer gut, auf verschiedene Szenarien vorbereitet zu sein. Wenn man Schach spielt, lernt man, viele mögliche Variablen zu berechnen und sich für die vergleichsweise beste Option zu entscheiden. Wir haben gelernt, dass man, wenn man hart genug arbeitet, immer die richtige Lösung finden wird. Wir haben unser Geschäfts­modell angepasst, unsere Lieferkette verbessert und die Beziehungen zu unseren Herstellern und unseren Handelspartnern gestärkt. Wir haben es geschafft, unseren Umsatz tatsächlich zu steigern, und werden das Jahr mit einem deutlichen Wachstum abschließen.

„Wenn Sie Ihrem Kind sagen, dass es schlau ist, nehmen Sie ihm die Möglichkeit, ein Genie zu werden“, sagt Guram Gvasalia.

Wie haben Sie Vetements während der Pandemie geführt?

Wenn eine Maschine gut geölt ist, wird sie auch weiterhin gut funktionieren. Solange Sie und Ihr Team sich dem widmen, was Sie tun,
ein Ziel haben und wirklich an die gleiche Sache glauben, haben das Tragen einer Schutzmaske und die Tatsache, dass Sie zu Hause bleiben müssen, wenig Einfluss auf Ihre Arbeit. Es gibt eine Anpassung, die Sie durchlaufen müssen, aber nichts Großes, worüber Sie sich verrückt machen müssten. Wenn Sie sich die rechte Hand verletzen, können Sie die linke noch benutzen, bis die rechte geheilt ist.

Viele Menschen, insbesondere Wirtschaftsvertreter, sind der Meinung, dass die während der globalen Pandemie auferlegten Beschränkungen eine Verletzung der Menschenrechte darstellen. Würden Sie dem zustimmen?

Leben ist Leben, und als Kriegskind habe ich Dinge gesehen, die viel schlimmer waren. Zusätzliche Zeit mit der Familie zu verbringen ist ein Geschenk. Die Menschen sind so beschäftigt, dass sie gar nicht mehr merken, dass manchmal weniger zu tun eigentlich mehr ist. Albert Einstein hat einmal gesagt, dass es zwei Arten gibt, sein Leben zu leben: Die eine ist, als ob nichts ein Wunder wäre, die andere, als ob alles ein Wunder wäre. Das Leben ist ein Wunder – betrachten wir alles, was auf uns zukommt, als solches!

„Ich habe das Gefühl, dass ich meine Mission als Konzeptionist und Designinnovator erfüllt habe“ – so die offizielle Aussage Ihres Bruders Demna, als er Vetements verließ. Was hat sich verändert, seit Demna Sie verlassen hat?

Alles hat seine Zeit. Die Welt der Mode ist sehr anstrengend, und sie saugt die Kreativität aus einem heraus. Jeder Designer hat ein Verfallsdatum, wenn er für eine Firma oder an einem Projekt arbeitet. Schauen Sie sich Raf Simons an, die wahre Ikone unserer Zeit: Er hat so einen tollen Job bei Jil Sander gemacht, wechselte zu Christian Dior, ging zu Calvin Klein und leitet jetzt Prada. All diese Arbeitserfahrungen erstreckten sich über ein paar Jahre. Prada ist wahrscheinlich auch nicht seine letzte Station. Irgendwann kann jeder Designer bei Chanel oder bei Zara landen, oder irgendwo dazwischen. Wer weiß schon, was als Nächstes kommt?

Was sind die Vor- und Nachteile eines Familienunternehmens?

Vertrauen ist der größte Vorteil eines Familienunternehmens, denn man weiß, dass man – egal, was passiert – der Familie am meisten vertrauen kann. Wenn man sich im Leben auf die Vorteile konzentriert, verschwimmen die Nachteile, verblassen und verschwinden.

Die Vetements Group AG
...ist ein Modeunternehmen mit Sitz in Zürich, das von den Brüdern Demna (Jg. 1981) und Guram Gvasalia (Jg. 1985) 2014 in Paris gegründet wurde. Während Demna in Antwerpen Modedesign studierte, absolvierte Guram ein Jurastudium und machte seinen Master am London College of Fashion. Das Label ist für exzentrisch-avantgardistisches, aber dennoch tragbares Design bekannt.

In Ihrem Buch „Size Zero“ erklären Sie, wie man zum Zustand null zurückkehrt und wie man anfängt, das Leben mit null Einschränkungen zu leben. Ein Leben ohne Einschränkungen klingt gut und ist leicht gesagt, aber wie sieht es in der heutigen Gesellschaft aus?

Wir werden als Teil einer Gesellschaft geboren, und solange wir mit Menschen um uns herum leben, wird sie immer ein Teil unseres Lebens sein. Das Leben ohne Einschränkungen zu leben bedeutet nicht, einen Hammer zu nehmen und draußen Autos zu ­zertrümmern, es bedeutet, das Leben ohne Ein­schränkungen im Kopf zu leben.

Wenn wir geboren werden, werden uns Programme in den Kopf gesetzt, wer wir sind und wie wir uns verhalten sollen. Diese Programme sind hilfreich, um Teil einer Gemeinschaft zu sein, aber sie setzen auch Grenzen für das, was man im Leben tun kann. Es gibt keine schlechten oder guten Programme; jedes Programm setzt eine Einschränkung. Wenn Sie Ihrem Kind sagen, dass es schlau ist, nehmen Sie ihm die Möglichkeit, ein Genie zu werden. Akzeptieren Sie Menschen so, wie sie sind. Akzeptieren Sie sich selbst so, wie Sie sind. Akzeptieren Sie die Gesellschaft so, wie sie ist. Und lächeln Sie immer, zumindest innerlich.

Was sind Ihre Pläne für 2021?

Wir planen, weiterzuarbeiten, die Marke weiter aufzubauen und zu stärken. Außerdem werden wir ein paar neue Projekte vorstellen, die nichts mit Vetements zu tun haben.

Was würden Sie Georgiern raten, die im Ausland erfolgreich sein wollen?

Die georgische Kultur ist phäno­menal, sie macht uns auch entspannter gegenüber vielen Dingen im Leben; vielleicht, weil wir uns immer auf unsere Freunde und unsere Familie verlassen kön­nen. Auf Beziehungen kann man in Europa nicht zählen – man ist auf sich allein gestellt, und das Einzige, was einem helfen kann, sind harte Arbeit und Hingabe.

Generell ist es sehr wichtig, eine klare Vorstellung davon zu haben, was man im Leben will; und was Sie wollen, kann nicht ein Koffer voller Geld sein. Geld ist nur ein Mittel zum Zweck, sollte aber nie das Ziel selbst sein. Träumen Sie davon, ein schönes Haus zu haben, Karriere zu machen! Träumen Sie davon, was Sie brauchen, was Sie mit Geld kaufen können. Gold, das in Ihrem Garten vergraben ist, ist nichts anderes als Steine.

Wie wäre Ihr Leben, wenn Sie in Georgien geblieben wären?

Ich liebe mein Land und bin sehr stolz darauf, woher ich komme. Es gibt mir viel Kraft und einen starken Überlebenswillen. „Was wäre, wenn?“ ist nie eine gute Frage. Wenn etwas passiert, dann geschieht es aus einem Grund, so wie es ein Mensch vorschlägt und Gott verfügt. Wie auch immer: Wenn ich in Georgien geblieben wäre, würde ich wahrscheinlich für das Amt des Präsidenten kandidieren.

Text: Madona Gasanova, Forbes Georgien
Fotos: Forbes Georgia, Vetements

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 5–21 zum Thema „Travel & Tourism“.

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