EIN MANN FÜR ALLE CLUSTER

Die Steiermark und ihre Landeshauptstadt Graz sind nicht nur bekannt für ihre grünen Wiesen, sondern auch für ihre innovativen Unternehmer. Ein Gespräch mit Bürgermeister Siegfried Nagl über die Wirtschaftsregion.

Wer die Entwicklung der Stadt Graz verstehen möchte, sollte sich vor die Türen des Rathauses begeben. Dort finden sich über 100 Jahre alte Persönlichkeiten: ein fein gekleideter Herr mit Handelswaren, ein Mann mit Hammer und Amboss sowie zwei Frauen in langen Gewändern – allesamt aus Stein gehauen. „Die vier Figuren stehen sinnbildlich für die gute Entwicklung von Graz und die Stärken der Stadt“, erzählt Bürgermeister Siegfried Nagl. „Die zwei Herren stehen für Handel beziehungsweise Industrie, die Frauen symbolisieren Wissenschaft und Kunst. Dass diese vier im Einklang und auf Augenhöhe miteinander arbeiten, ist die Voraussetzung, dass Wirtschaft überhaupt funktioniert.“

Ein Zusammenspiel, das Graz nicht nur durch vier in Stein gemeißelte Allegorien symbolisieren, sondern auch leben will. Denn seit seinem Amtsantritt 2003 setzt Nagl konsequent auf den Fortschritt all dieser Bereiche. „Ich bin leidenschaftlicher Stadtentwickler“, erzählt er. „Ich habe die Chance, Graz ins 21. Jahrhundert zu führen und Menschen einen wunderbaren Lebensraum und sicheren Arbeitsplatz zu bieten.“

Ein Fokus von Nagl ist die „erste Statue“ – der Handel, insbesondere der innerstädtische. Mit den Händlern und Gastronomen wurde der Verein „Echt Graz“ gegründet, der – von der Stadt finanziell unterstützt – übergreifende Geschäfts- und gemeinsame Vertriebssysteme entwickeln soll. Der Verein zählt 80 Mitglieder sowie weitere Kooperationspartner. Bei „Alive After Five“ verlängern die Geschäfte ihre Öffnungszeiten bis in die späten Abendstunden und bieten durch außergewöhnliche Kooperationen mit Kunst, Kultur und kulinarischem Genuss ein besonderes Einkaufserlebnis.

Früher war Graz als Pensionopolis bekannt – heute sind wir die jüngste ­Landeshauptstadt mit 60.000 Studierenden.

Beim ersten Event waren über 92.000 Besucher anwesend (die übliche Frequenz liegt an einem gesamten Freitag bei etwa 75.000 Gästen). Zusätzlich werden seit 2011 auch Konzepte wie Pop-up-Stores (temporäre Einzelhandelsgeschäfte) von der Stadt Graz unterstützt. „Ich weiß, welche Gewitterwolken auf den stationären Handel zukommen. Beim Onlineshopping gibt es Preisschlachten, die oft unwirtschaftlich betrieben werden, was den stationären Handel extrem schädigen kann“, erzählt Nagl.

Nagl selbst kennt sich mit den Problemen traditioneller Handelsunternehmen aus. Vor seiner politischen Karriere trat der studierte Wirtschaftswissenschaftler 1988 als Geschäftsführer in den elterlichen Betrieb Klammerth ein. 1992 wurde er zudem Gesellschafter, bevor er ab 1996 über seine Tätigkeit als Obmann der Grazer Innenstadt-Initiative, einer Interessensvertretung für den Einzelhandel der Innenstadt, erste politische Akzente setzte.

Ab 1998 war Nagl dann als Stadtrat tätig, das Familienunternehmen führt heute seine Frau Andrea. Etwa 2,3 Milliarden € Umsatz generiere der gesamte Handel in Graz, so Nagl. Um auch in Zukunft bestehen zu können, verlangt Nagl, dass Einzelhändler „umdenken und zu Kooperativ-Händlern werden“. Erste Ansätze davon zeichnen sich in „Echt Graz“ bereits ab. Es ist jedoch nicht nur der Handel in der Innenstadt, der Nagl am Herzen liegt, sondern vor allem auch das Leben in der ­Gemeinde. „Was zeigt man Gästen als Erstes?“, fragt Nagl. „Das Stadtzentrum. Wir haben in Graz wie auch in anderen europäischen Städten eine wunderschöne Altstadt. Wir sind nicht Las Vegas und bauen eine künstliche Fassade auf, hier ist alles echt.“ Nicht umsonst zeichnete die Unesco die Stadt Graz zweimal mit dem Prädikat Weltkulturerbe aus.

Um dem Stadtzentrum noch mehr Ausdruckskraft zu geben und herauszufinden, welches Wort das Lebensgefühl beschreibt, ­engagierte Nagl eine Marktforscherin. Nach 500 Befragungen erhielt Nagl seine Antwort: Das Wort, das die Grazer Altstadt beschreibt, sei „­besonders“. Und um dem Wort gerecht zu werden, investierte Nagl in Museen und die Umgestaltung von Plätzen. „Es geht darum, einen ­Begegnungsort zu schaffen, an dem sich Menschen gerne aufhalten“, sagt Nagl. „­Innenstädte haben dann eine Zukunft, wenn Stadt und Unternehmen zusammenarbeiten und der Bevölkerung verdeutlicht wird, welche Vorteile damit verbunden sind.“

Ideen zur Stadtentwicklung sammelt Nagl auf Reisen in andere Städte. Erst kürzlich war der Politiker in Kopenhagen, um sich Ansätze für ein innerstädtisches Verkehrssystem anzusehen. „Ich schaue mir permanent andere Städte an. Meine Frau hat schon fast keine Lust mehr, mit mir auf Urlaub zu fahren. Sie fragt mich dann: ‚Kannst du einmal deinen kommunalpolitischen Blick aufgeben?‘“

Doch ein Bürgermeister stelle sich nun mal mit Haut und Haar der Bevölkerung zur Verfügung, so Nagl. „Es heißt oft, die Politik sei ein undankbares Geschäft. Aber man erhält ja den Dank der Bevölkerung, wenn man gewählt wird. Ich sehe zudem die Entwicklung der Stadt, wenn ich durch die Straßen gehe. Und: Man hat tolle Begegnungen mit Menschen.“ Nagl erzählt von zwei jungen Burschen im Supermarkt, die er vor Kurzem traf und die neun Jahre zuvor mit ihrer Klasse bei Nagl im Rathaus gewesen waren. Sie erinnerten sich noch lebhaft an die Begegnung – und wünschten ihrem Bürgermeister alles Gute. Mittlerweile zählen die beiden zu den 60.000 Studenten in Graz – rund ein Fünftel der Grazer studiert aktuell. „Früher war Graz als Pensionopolis bekannt, jetzt sind wir die Landeshauptstadt mit dem jüngsten Altersdurchschnitt Österreichs (39 Jahre, Anm.). Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“, erzählt Nagl. Und diese Zukunft bleibe großteils in Graz, wie er betont. „Früher haben junge Menschen hier studiert und sind dann in die Welt hinausgegangen. Mittlerweile haben wir viele quali­fizierte Arbeitsplätze vor Ort.“

Als Begründung erzählt Nagl einen Witz: „Wenn drei Kärntner zusammenstehen, bilden sie einen Chor, drei Briten einen Klub – und drei Steirer gründen ein Cluster.“ Als Cluster werden die für die Wirtschaft zentralen Stärkefelder einer Region bezeichnet. In diese Cluster sind jeweils Unternehmen, die öffentliche Hand sowie auch Forschungs­einrichtungen eingebunden. Mit ihrer Forschungsquote von 4,91 % (2017 betrugen die Forschungsausgaben 2,32 Milliarden €) ist die Steiermark Spitzenreiter in Österreich (2015 war das Land sogar europaweit die Region mit der höchsten Forschungsquote). „Wir versuchen, unsere Unternehmen ganz eng mit der Wissenschaft zu verknüpfen und Menschen so gut auszubilden, dass sie in den Unternehmen wirklich gebraucht werden. In den sechs Clustern befinden sich 230.000 Beschäftigte, in jedem wird beim Umsatz und Wachstum ein überdurchschnittliches Ergebnis erzielt“, so Nagl. Als besonderes Stärkefeld hebt er den Mobilitätscluster AC Styria hervor: Etwa 300 Unternehmen sind darin in den Bereichen Automotive, Aerospace und Rail Systems vertreten – mit einem Gesamtumsatz von 17 Milliarden €. Darunter finden sich Grazer Unternehmen wie die Automobil­zulieferer Magna und AVL List. Unter der Begriffskreation „Silicon Alps“ erklärt Nagl zudem eine Zusammenarbeit von Steiermark und Kärnten hinsichtlich der Wertschöpfung von Schlüsseltechnologien im Bereich der (Mikro-)Elektronik – „Stichwort Infineon“, sagt Nagl und spielt auf den deutschen Halbleiterhersteller an, der sowohl in Graz als auch in Villach bedeutende Standorte besitzt. „Im Auto, im Reisepass, im Handy – die in Graz entwickelten Technologien des Unternehmens nutzt quasi jeder.“

Auch in Sachen Deep Tech ist Graz nicht schlecht aufgestellt. Ein Beispiel ist etwa Eyeson, das mit seiner Videotelefonieplattform dem Platzhirschen Skype Konkurrenz macht. Auch Meo Energy hat sich die steirische Landeshauptstadt als Gründungsort ausgesucht. Das 2014 gegründete Unternehmen entwickelt integrale ­Energiemanagementsysteme für Wärme sowie Strom mit Fokus auf die Nachrüstung von Bestandsgebäuden und erhielt 2016 den Staatspreis als Smart-Grid-Pionier; 2017 folgte ein siebenstelliges Investment.

Siegfried Nagl
...studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, bevor er die Leitung des elterlichen Betriebs, des Geschirr- und Küchenwarengeschäfts Klammerth, übernahm. 1996 wurde Nagl Obmann der Grazer Innenstadt-Initiative sowie Obmannstellvertreter des Grazer Wirtschaftsbunds. Ab 1998 war er als Stadtrat tätig, 2003 wurde der ÖVP-Politiker Bürgermeister der Stadt Graz.

Weitere vier Cluster betreffen die Themen „Greentech“, die Holzindustrie, „Human Technologies“ und die „Creative Industries“. Letztere wurden 2007 als ein Netzwerk gegründet, um die Kreativwirtschaft in der Steiermark zu fördern. Die Stadt Graz hält 10 % der Anteile, Nagl selbst setzte sich auch für die Mitgliedschaft als City of Design im Creative-­Cities-Programm der Unesco ein. (Eine City of Design ist eine Stadt mit bedeutendem kulturellem Erbe, einer lebendigen Kreativszene und der Absicht und dem Potenzial, die Entwicklung der kreativen Bereiche zu fördern.)

Im Greentech-Cluster ent­wickeln 220 Unternehmen und Forschungseinrichtungen hier gemeinsam die grünen Technologien für eine nachhaltige Zukunft. Das macht Graz und die Steiermark in diesem Bereich zu einem globalen Innovations­zentrum. So wird heute schon jede fünfte nachhaltig erzeugte Stromstunde der Welt mit Technologien der Grazer Firma Andritz produziert.

Im Holzcluster sieht Nagl sein persönliches Steckenpferd: „Die Steiermark ist das grüne Herz Österreichs, wir haben einen unglaublichen Waldreichtum. Ich sehe den Werkstoff Holz auch in der modernen Stadt­entwicklung als etwas Großartiges an. Daher haben wir in den letzten Jahren Kindergärten, Schulen und auch Senioreneinrichtungen aus Holz gebaut.“

Neben dem geschäftigen Treiben in der historischen Innenstadt entsteht in Graz auch ein gänzlich neuer Stadtteil, für den Bürgermeister Nagl viel gekämpft hat. Vis-à-vis der Altstadt wird gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Mur in den Reininghausgründen ein modernes urbanes Areal entwickelt, das der wachsenden Grazer Bevölkerung viel neuen Wohn- und Arbeitsraum in Verbindung mit hoher Lebensqualität bieten wird. Hier wird viel investiert, aber auch viel Wertschöpfung generiert.

Wer die Entwicklung von Graz also in Zukunft verstehen möchte, muss über die steinernen Statuen hinausdenken. Denn neben Handel, Industrie, Wissenschaft und Kunst wird Graz heute auch von Start-ups, Unternehmern und seinen Bürgern geprägt. Und geht es nach dem Bürgermeister, organisieren sich die Grazer auch in Zukunft in Clustern.

Text: Andrea Gläsemann
Fotos: Forbes DACH, Holding Graz / Kernasenko

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