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Mit nur 27 Jahren hat Philipp Hannemann bereits zwei Deeptech-Start-ups erfolgreich aufgebaut. In einer Welt voller Mathematiker, Physiker und Data Scientists ist Hannemann fast eine Ausnahme: Er ist BWLer. Wie er komplexe Mathematik in Millionendeals verwandelt und warum er den Hype um Quantencomputer ganz nüchtern sieht.
Aus dem Publikum bricht ein Jubelschrei heraus, dann Philipp Hannemann: Der frischgebackene Under 30-Listmaker betritt fast stoisch die Bühne. Diese Gelassenheit sei typisch für ihn, erzählt der 27-Jährige im Interview mit Forbes: „Natürlich freut mich die Auszeichnung, ich bin aber kein emotionaler Typ.“
Trotz oder gerade wegen seiner nicht besonders emotionalen Art ist es Hannemann bereits vor seinem 30. Lebensjahr gelungen, zwei Start-ups erfolgreich aufzubauen. Eines davon – Quantagonia – wurde im Sommer 2025 von Strangeworks übernommen, einem US-Spezialisten für Quantum Computing. Über die Details wurde Stillschweigen vereinbart. Medien spekulierten über einen Kaufpreis in Höhe von 20 bis 30 Mio. €, Hannemann wollte die Zahl auf Nachfrage nicht kommentieren.
Zum Zeitpunkt der letzten Finanzierungsrunde im Jahr 2023 lag Quantagonias Unternehmensbewertung jedenfalls bei rund 13 Mio. €. Hannemann hielt zum Zeitpunkt des Verkaufs rund 26,5 % der Anteile. Der Gründer wechselte in die Führungsetage des neuen Eigentümers Strangeworks. Als Chief Growth Officer ist er nun dafür verantwortlich, das Unternehmen global zu skalieren.
Quantagonia entwickelt eine Plattform, die künstliche Intelligenz und mathematische Optimierung kombiniert. Die Software hilft Kunden – etwa Produktionsbetrieben mit komplexen Lieferketten –, Planungsentscheidungen zu optimieren. Dabei baut Quantagonia keine Quantencomputer, sondern schafft Möglichkeiten, Code so zu übersetzen, dass er auf Quantencomputern laufen kann. Das ist insofern relevant, als viele Programme, die heute im Einsatz sind, aufgrund ihrer Programmierung gar nicht auf Quantencomputern laufen können.
Quantagonia übersetzt also zwischen „alter“ und „neuer“ Computerwelt – und entscheidet, welches Programm wo laufen soll bzw. welches Problem wo gelöst werden kann.
„Du kannst das Problem heute schon angehen“, sagt Hannemann, weil die Software auf „herkömmlichen“ Supercomputern läuft. Wenn bei Quantum Computing dann der erwartete Durchbruch gelingt, „wird einfach dein Rechenspeed hochgedreht“. Bei einem Quantendurchbruch müssen Unternehmen dann nicht nach neuer Software suchen, sondern die aktuelle Lösung von Quantagonia kann nahtlos auf Quantencomputer übertragen und dort berechnet werden.
Strangeworks schaffte mit der Expansion den Schritt nach Europa, inklusive Standorten in München und Frankfurt. Das Unternehmen aus Texas baut Quantencomputer-Hardware nicht selbst, sondern stellt vielmehr die Software bereit, die es Unternehmen ermöglicht, auf die Hardware verschiedener Anbieter (etwa IBM, Rigetti oder D-Wave) über eine einzige Schnittstelle zuzugreifen. Zu seinen Kunden zählen unter anderem Konzerne wie Johnson & Johnson und BP.
Bei so einem Spielplan bist du schnell mal bei zehn hoch 80 Möglichkeiten. Das ist die Anzahl an Atomen im Universum.
Philipp Hannemann
Unsere digitale Welt baut auf zwei Zuständen auf: Computersysteme basieren, können ausschliesslich entweder den Wert 0 oder 1 annehmen. Jede App, jedes Smartphone, jeder PC basiert auf Millionen dieser Bits, jeweils als Kombination aus Nullen und Einsen.
Das Problem dabei ist, dass unsere Welt so nicht funktioniert. Es gibt Grauzonen, Zwischentöne; die Natur kennt mehr als zwei einander ausschliessende Zustände. Meist basiert unsere Welt auf Unsicherheit. Diese Unsicherheit wird selbst von Supercomputern nicht abgedeckt.
Physiker haben daher begonnen, die Grenzen des Möglichen zu testen, und ein neues Feld begründet: Quantenmechanik. Um Rechenoperationen durchzuführen, die Unsicherheit einbeziehen, braucht es neue Rechner: Quantencomputer. Sie basieren auf Qubits, die im Gegensatz zu normalen Bits auch zu „Superpositionen“ fähig sind: Statt nur im Zustand 0 oder 1 zu existieren, können sie auch 0 und 1 zugleich sein – oder jeder Zustand im Spektrum.
Das ermöglicht Antworten auf Rechenoperationen, für die die besten Computer Millionen Jahre benötigen würden. Eine vielversprechende Anwendungsmöglichkeit liegt in der Entdeckung und Entwicklung neuer Medikamente: Diese Prozesse dauern heute oft zehn Jahre und mehr, da klassische Computer die notwendigen Vergleiche bei Molekülen lediglich bis zu einer gewissen Grösse durchführen können.
Quantencomputer könnten diesen Prozess dramatisch verkürzen und so die Kosten deutlich reduzieren. Andere Use Cases sind neuartige Batterien für Elektroautos oder die Lösung des jahrzehntealten „Travelling Salesman“-Problems: Welche Route führt jeweils einmal durch eine Vielzahl an Städten und dann wieder zum Ausgangspunkt – auf dem kürzesten Weg? Normale Computer haben damit massive Schwierigkeiten – Quantencomputer nicht.
Solche Versprechen ziehen natürlich Geld an. Tech-Riesen wie Google und IBM forschen intensiv an der Technologie, Unternehmen wie Daimler, Volkswagen und Airbus erhoffen sich Anwendungsmöglichkeiten. McKinsey prognostiziert, dass das Marktvolumen für Quantum Computing von 4 Mrd. US-$ (3,4 Mrd. €) im Jahr 2024 auf 72 Mrd. US-$ im Jahr 2035 anwachsen wird.
Doch es gibt auch kritische Stimmen: Bisher sind die Anwendungen oft theoretischer Natur, industrieller Nutzen wurde bislang selten bewiesen. Manche warnen vor einer „Quantum-Blase“, wenn konkrete Anwendungsfälle ausbleiben sollten.
Quantagonia ist schon das zweite Unternehmen, das der 27-jährige Philipp Hannemann mit aufgebaut hat. Der Startschuss für Hannemanns Karriere fiel 2018, im ersten Jahr seines BWL-Studiums – und zwar nicht im Hörsaal, sondern beim Fussballschauen.
Dort kam er mit Dirk Zechiel ins Gespräch. Zechiel ist Pionier für KI-basierte Optimierung und selbst erfolgreicher Gründer von Gurobi; einer Plattform, die Entscheidungsprobleme in mathematische Modelle übersetzt. Zechiel erzählte von einem Kunden – der US-amerikanischen NFL (National Football League) –, der das Tool nutzte, um den Spielplan zu erstellen, allerdings noch grossteils manuell.
Hannemann, der bis dahin Praktika im Finanzbereich absolviert hatte, witterte sofort das Geschäftspotenzial: Er warf einige Ideen in den Raum, wie sich das Produkt erweitern liesse – etwa um Faktoren, die die Zuschauerzahl erhöhen. Das Interesse war geweckt: „Seitdem haben wir (Hannemann und Zechiel, Anm.) wahrscheinlich jeden Tag mehrere Stunden miteinander geredet“, erzählt Hannemann.
Das war der Start für Ligalytics – mit Hannemann. Was sonst Data Scientists oder Mathematik-PhDs benötigte, sollte bei Ligalytics ohne Expertenwissen umgesetzt werden – spezialisiert auf die Anwendungsfälle von Sportligen.
Schnell bekam Hannemann die Verantwortung für den Vertrieb und das Business Development; dafür ist er heute noch zuständig. Für den Studenten war die Zusammenarbeit mit dem doppelt so alten Mitgründer zunächst surreal: „Ich habe mich immer wieder gefragt: ‚Warum macht er das jetzt mit mir?‘“ Immerhin war Hannemann damals erst 20 Jahre alt und steckte frisch in seinem Bachelor-Studium.
Heute versteht es der 27-Jährige schon besser: „Wenn man selbst Mitarbeiter einstellt, gibt es einfach solche, bei denen es klickt und das Vertrauen da ist.“ Während er Zechiel in der Anfangszeit als eine „Mentor-Figur“ beschreibt, habe sich die Beziehung schon bald weiterentwickelt: „Wir agieren seit einiger Zeit eigentlich auf Augenhöhe“, erzählt Hannemann.
Das „sehr antiquierte“ BWL-Studium – wie er es nannte – wurde schon im ersten Jahr zum „Nebendarsteller“. Gegessen wurde zwar in der Mensa, statt zu den Vorlesungen ging es aber an die Arbeit. „Ich würde es genauso wieder machen. Es ist leider selten so, dass ich jetzt hier im Tagtäglichen im Unternehmen eine Aufgabe gestellt bekomme, bei der ich sage: ‚Geil, das habe ich an der Universität gelernt!‘“, so Hannemann.
Das Problemlösen bei Ligalytics begann mit einem spezialisierten Anwendungsfall: Spielpläne von Sportligen. Was auf den ersten Blick nach einem einfachen Terminkalender für Sportveranstaltungen aussieht, ist ein hochkomplexes Geflecht aus Einschränkungen und Bedingungen. In einer Mehrzweckhalle kann an einem Abend etwa ein Konzert stattfinden, weshalb dort gleichzeitig kein Basketball- oder Eishockeymatch über die Bühne gehen kann. Die Reisen der Teams sollten optimiert werden, um Kosten und Flugkilometer zu reduzieren. Veranstalter müssen Sicherheitsanforderungen der Polizei berücksichtigen. Dazu kommen die immer komplexeren TV-Rechte-Deals der Sportligen, die den Beginn von Spielen mitbestimmen.
Schnell kann ein solcher Spielplan zu einem manuell unlösbaren Rätsel werden. „Eigentlich ist es eine Art Sudoku, aber eben mit 10.000 mal 10.000 Feldern“, erklärt Hannemann: „Wenn du irgendwo eine falsche Zahl einträgst, geht alles nicht mehr auf. Bei so einem Spielplan bist du schnell mal bei zehn hoch 80 Möglichkeiten – das ist die Anzahl an Atomen im Universum. Da braucht man dann smarte Algorithmen, um so etwas zu lösen.“
Inzwischen steckt in der Planung vieler Sportarten die Software von Ligalytics – vom Fussball über Eishockey, Rugby und American Football bis hin zu Basketball.
Dabei wollte es Hannemann aber nicht belassen. Ligalytics hatte Zechiel ein grundlegendes Marktbedürfnis offenbart: Sie hatten „einem Laien ermöglicht, sein Planungsproblem zu lösen“, obwohl im Hintergrund hochkomplexe Mathematik lief. Ligalytics diente quasi als Proof of Concept für eine grössere Vision: Sie wollten die Optimierung von hochkomplexen Plänen „demokratisieren, damit man nicht mehr das Skillset eines Mathematik-PhD braucht“, so Hannemann.
Um diese Optimierung in der ganzen Industrie umzusetzen, gründeten sie 2021 Quantagonia. Zum Gründerteam zählten auch Ex-Deutsche-Bahn-Vorständin Sabina Jeschke und Mathematik-Professor Sebastian Pokutta, operativ tätig sind diese jedoch nicht mehr.
Das Ziel war bzw. ist nun weit grösser als Spielpläne: Es geht um Produktionsketten, Energieversorgung und Logistik für Fortune-500-Unternehmen. „Eigentlich alles, wo dieses deutsche Wort ‚Plan‘ vorkommt“, sei ein potenzielles Anwendungsfeld von Quantagonias Software, so Hannemann.
Ein deutscher Kunde ist etwa Lufthansa Industry Solutions, mit der Quantagonia Gate-Zuweisungen an Flughäfen umsetzt. Im Flughafenbetrieb können unzählige Faktoren auch kurzfristig beeinflussen, an welchem Gate das Flugzeug idealerweise eingeplant werden soll: Wo hat die Maschine überhaupt Platz? Hat sie Verspätung? Wo sind die Anschlussflüge für die Passagiere? Ist es ein internationaler Flug? Quantagonia passt den Plan in wenigen Sekunden an und berücksichtigt alle Variablen.
Seinen Start in die neue Rolle als CGO von Strangeworks ging Hannemann offensiv an: „Mir wurde am Anfang gesagt: ‚Jetzt warte erst mal, wie die Integration abläuft – sechs oder sieben Monate.‘ Ich habe gesagt: ‚Quatsch, die Integration ist in zwei Wochen durch!‘“ Ganz so schnell ging es dann nicht, aber die Entwicklungsteams der beiden Unternehmen habe man schon in wenigen Monaten sehr gut zusammengeführt.
Für Quantagonia bieten sich nach dem Strangeworks-Deal Wachstumschancen in internationalen Märkten, die Hannemann als CGO vorantreibt. Allen voran die Heimat der neuen Muttergesellschaft – die Vereinigten Staaten – kann besser in Angriff genommen werden, doch auch in Japan ist Strangeworks aktiv. „Als Optimierungsexperten können wir bei existierenden Kunden von Strangeworks neue Themen anstossen. Das sind spannende Fälle, bei denen wir auch in Zukunft noch Wachstum sehen“, so Hannemann.
Doch auch das rund 45-köpfige Team in Deutschland soll ausgebaut werden. Das ermöglicht ein gefördertes Forschungsprojekt zu Quantum Computing.
Nicht nur beruflich, auch privat beschäftigt sich Hannemann intensiv mit Sport; Radsport, Olympische Spiele – alles dabei. Die wohl grösste sportliche Leidenschaft ist allerdings der Fussball, sein Herz schlägt für Eintracht Frankfurt. „Ich gehe bei der Eintracht immer ins Stadion“, sagt Hannemann.
Doch es sind seltene Momente des Abschaltens bei ihm, wie sich auch bei der Afterparty der Forbes Under 30-Award-Show in Berlin zeigt: „Heute Abend feiern wir ordentlich – und am Montag geht es im Büro weiter.“
Fotos: Daniel Schreiber