Europa wird alt

Seit der Industriellen Revolution und bis weit ins 19. Jahrhundert dominierte Europa die weltweite ökonomische und technologische Entwicklung – im 21. Jahrhundert ziehen die USA und China davon. Der neue Chef des österreichischen Wirtschafts­-forschungsinsitut Wifo, Gabriel Felbermayr, denkt, dass Europa und insbesondere der deutsch­sprachige Raum viel zu wenig aus dem vorhandenen Potenzial macht.

Sie kritisieren in Interviews den ökonomischen Zustand der DACH-Region, obwohl Deutschland, Österreich und die Schweiz laut dem „Global Innovation Index“ zu den zehn innovativsten Ländern der Welt gehören und die hier ansässigen Unternehmen hohe Gewinne erwirtschaften. Ist Ihre Kritik nicht übertrieben?

Wir Wirtschaftsforscher müssen vorrangig Probleme diskutieren, damit wir am Fortschritt arbeiten können. Die Unternehmer müssen ihren Aktionären zwangsweise zeigen, wie toll sie sind, und die Wirtschaftspolitik neigt auch dazu. Natürlich erwirtschaften die deutschsprachigen Länder jedes Jahr eine hohe Lebensqualität. Das soll aber so bleiben – deshalb sind wir so lästig, denn würden wir nicht auf Verbesserungen pochen, liefe die Region Gefahr, zurückzu­fallen. Man muss übrigens sagen, dass Deutschland in vielen Rankings der letzten Jahre schlecht performt hat; da reicht ein kurzer Blick auf die Zahlen zur Effektivität des öffentlichen Sektors oder der Digitalisierung.

In Österreich ist da manches besser, insbesondere im Bereich E-Government. Darüber hinaus werden in Deutschland seit etwa zehn Jahren die öffentlichen Investitionsziele fast andauernd verfehlt. Das zeigt, dass es ein Problem gibt. Man nimmt sich vor, Schulen zu modernisieren, Brücken zu bauen und die Bahn zu ertüchtigen, und dann bekommt der Staat die Investitionen nicht umgesetzt. Manche sprechen hierbei von Staatsversagen, was zwar ein bisschen übertrieben ist, aber tendenziell schon stimmt.

Ein praktisches Beispiel: Die Abschaltpläne von nicht umweltfreundlichen Stromquellen werden umgesetzt, aber das ­Aufbauen von neuer Energie­infrastruktur hinkt massiv nach, was ein Bedrohungs­element in der Versorgungssicherheit darstellt. Blackouts werden wahrscheinlicher und die Strompreise steigen in den Himmel.

Das Fundament der modernen Wirtschaftswelt ist auf europä­ischem Gedankengut gebaut, bis etwa 1900 war Europa die Spitze des technologischen Fortschritts. Der Großteil heutiger deutscher Exportschwergewichte, egal ob Kfz oder Maschinen, hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert. Die vierte industrielle Revolution scheint der DACH-Raum aber zu verpassen. Leben wir von den Erträgen, die wir uns in den letzten zwei Jahrhunderten aufgebaut haben?

Richtig. Vor allem die deutsche Volkswirtschaft ist noch sehr von „Old Economy“ geprägt. Aber wir haben im Vergleich zu früher eine weit höhere globale Arbeitsteilung. Allen Volkswirtschaften der Erde zu sagen, sie sollen sich schleunigst auf „New Economy“ umstellen, ist im Gesamtbild nicht vorstellbar und würde die Strategie vernebeln, sich dort zu spezialisieren, worin man gut ist. Nicht jeder wird hochprofitabel Social-­Media-Apps programmieren können.

Hinzu kommt, dass die Welt auch Hardware benötigt. Wir haben eine kuriose Situation: Wir sind bei digitalen Dienstleistungen von US- und asiatischen Anbietern abhängig. Diese benötigen Chips, die in Asien auf Maschinen produziert werden, auf die Europa ein Monopol hat. Wir befinden uns in einer extrem verflochtenen Weltwirtschaft. Wir sehen nach Old Economy aus, die Wahrheit ist aber, dass die New Economy ohne diese Produkte nicht auskommt, dass in der Old Economy weiterhin hohe Margen erwirtschaftet werden und dass diese weiterhin ein hoher wirtschaftlicher Machtfaktor sind.

„Ältere Gesellschaften sind nicht darauf versessen, das Neueste vom Neuen zu besitzen – bei jüngeren ist das anders.“

Worauf führen Sie es zurück, dass es Europa nicht gelungen ist, mehr New Economy zu werden? Von den zehn größten Tech-­Konzernen der Welt stammt kein einziger aus Europa.

Ich wäre da nicht allzu pessimistisch. Zwei Faktoren sind essenziell: Der erste ist, dass wir einerseits einen Weltmarkt haben, andererseits, dass Geschäfts­modelle am Heimatmarkt „fliegen“ müssen. Der Heimatmarkt für die meisten europäischen Firmen ist immer noch der nationale Markt. Der Binnenmarkt hat hier Grenzen, weil sich Sprachen, Währungen und Rechtsräume verändern. Ein digitaler Binnenmarkt existiert in Europa nicht wirklich. Wenn sich aus einer europäischen Universität ein Start-up gründet, dann ist der größte nationale Markt, den das Unternehmen bedienen kann, Deutschland.

Damit stößt aber auch die Skalierung auf nationale Grenzen. In Amerika oder China hingegen ist der Markt ohne nationale Grenzen riesig. Das Produkt lässt sich daher schnell skalieren, was in Europa nicht der Fall ist. Der zweite Faktor ist die Demo­grafie: Wir sind in Europa im Median sechs Jahre älter als die Amerikaner; doppelt so groß ist der Unterschied von der EU zu Israel. Wir Europäer sind ein älteres Volk – ältere Menschen erfinden seltener neue Produkte, und sie revolutionieren die Märkte weniger oft, weil sie diese Produkte in erster Linie auch nicht nachfragen. Ältere Gesellschaften sind nicht darauf versessen, das Neueste vom Neuen zu besitzen; bei Jüngeren ist das generell anders.

Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie, wir Europäer sollten primär an der Erhaltung unseres Wohlstands interessiert sein, weil wir zu innovativeren Schöpfungen nicht in der Lage sind?

Nein, weil wir einfach die Menschen dafür nicht haben. Wir müssen uns fragen, was unseren Wohlstand determiniert, also womit wir arbeiten können. Vor 1.000 Jahren waren Böden und Klima die wichtigsten Faktoren für Wohlstand, heute ist das in Europa der Mensch (Human­kapital, Anm.). Ökonomische Entwicklungen basieren auf unserem Wissen, unseren Fähigkeiten und auf den Strukturen, in denen sich dieses Können entfalten kann.

Eine Gesellschaft wie die chinesische wird auch älter, aber da ist simultan ein großer Schwung an ­Studenten durch die Universitäten gewandert, der relativ gut gebildet und – weil er noch weiß, wie es ist, arm zu sein – hungrig ist. Das treibt nicht nur die Entwicklung von neuen Technologien voran, sondern auch die Lust, diese zu verwenden, sich auch die entsprechenden Güter zu kaufen.

Gabriel Felbermayr
...ist ein öster­reichischer Wirtschafts­wissenschaftler. 2019 wurde er Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft; im Oktober 2021 berief man ihm zum Direktor des renommierten Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo).

Der deutschsprachige Raum lebt bisher bestens von der Globalisierung. Sie sehen nun einen Trend der Entschleunigung. An welchen Faktoren machen Sie das fest – und gibt es Anlass zur Sorge?

Die Entschleunigung ist längst passiert: Der internationale Handel wächst schon seit gut zehn Jahren nicht schneller als die globale Produk­tion; das heißt, dass sich die inter­nationale Arbeitsteilung nicht weiter vertieft. Damit sorgt die Globalisierung nicht mehr für dringend benötigte Produktivitätszuwächse. All das gilt für den globalen Güterhandel im Durchschnitt. Die EU hat sich diesem Trend bisher nur teilweise entziehen können.

Können Sie skizzieren, warum Roh­stoffe wie Papier, Baumaterial, Holz und vieles mehr auf einen Schlag um über 10 % teurer geworden sind?

Im Frühjahr 2020, nach dem starken Einbruch der Wirtschaftsleistung, gingen viele davon aus, dass die wirtschaftliche Erholung langsam und zögerlich erfolgen würde, so wie das in der großen Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 der Fall war. Der Grund war, dass diesmal die Regierungen in den meisten großen Volkswirtschaften der Welt alles getan haben, um die Einkommen der Menschen trotz Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit konstant zu halten.

Das führte sehr schnell zu einer starken, aber un­erwarteten Erhöhung der Nachfrage nach Industrieprodukten, weil die Konsumenten keine Dienstleistungen mehr konsumieren konnten oder wollten und ihr Geld für die Sanierung ihrer Badezimmer, für Elektronik­artikel, Möbel, Kleidung et cetera ausgaben. Das Angebot für viele End- und Vorprodukte konnte aber nicht schnell genug ausgedehnt werden, was angesichts boomender Nach­frage zu großen Preissteigerungen führte. Dazu kamen und kommen immer noch gravierende Störungen in der globalen Logistik. Immer noch stauen sich die Containerschiffe vor den großen Häfen; zuletzt waren circa 10 % der globalen Container­schiff­kapazität lahmgelegt.

Sie sagten in einem Interview mit dem Handelsblatt: „Die Zeiten der ganz niedrigen Inflation sind wohl vorbei, vor allem weil China nicht mehr zu sehr niedrigen Preisen beliebige Mengen liefern kann.“ Können Sie erklären, was das für Europa und seinen Währungsraum bedeutet?

Auch in China steigen die Löhne und andere Kosten, auch China wird aus dem billigen Kohlestrom aus­steigen. Chinesische Anbieter werden wettbewerbsfähig bleiben, aber diese Entwicklungen treiben die Preise der Güter, die wir aus China beziehen, nach oben. Dazu kommen zunehmende Handelsbarrieren, die es Produzenten in Europa erlauben, höhere Preise durchzusetzen. All das bedeutet ein wenig mehr Inflation. Und wenn die Inflation anzieht – vielleicht auch zusätzlich befeuert durch im Inland verursachte Effekte –, dann sollte die EZB (Europäische Zentralbank, Anm.) eigentlich die Geldpolitik straffen, um gegenzusteuern. Das fällt ihr aber sehr schwer, weil höhere Zinsen sehr schnell wieder eine Schuldenkrise im Euroraum entfachen können.

Text: Muamer Bećirović
Fotos: David Višnjić

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 9–21 zum Thema „Handel“.

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