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Gianmaria Gava fotografiert für renommierte Medien, Buchverlage und Unternehmen. Der gebürtige Venezianer lebt seit über 20 Jahren in Wien, doch wir haben mit ihm die Inseln seiner Heimatstadt erkundet.
Historische Gebäude, Übertourismus, Acqua Alta: Wenn Touristen nach Venedig fahren, haben sie meist ein klares Bild von der Stadt mit ihren Kanälen, auf denen „Gondole“ dahintreiben, und ihren unzähligen Kirchen, die alle eine eigene lange Geschichte haben; wo Möwen und Tauben den Markusplatz bevölkern und sich hin und wieder Richtung Erde stürzen, um von den Besuchern einen Leckerbissen zu stehlen (meist erfolgreich). Aber durch Medienberichte kennen viele heute auch ein anderes Venedig – eines, das von Menschenmengen überrannt wird. Und eines, dessen Fundament wortwörtlich weggeschwemmt wird, obwohl die Lagune und ihr Wasser Venedig in der Vergangenheit vor Angreifern geschützt und die Stadt zu einer Handelsmacht gemacht haben.
Aufmerksamen Lesern dieses Magazins ist ein Name bestimmt schon aufgefallen – ohne den Mann, dem er gehört, würde unseren Geschichten etwas fehlen, das in einem guten Magazin fundamental ist: die Bilder. Gianmaria Gava ist freischaffender Fotograf in Wien und arbeitet seit vielen Jahren für Forbes. Er hat für uns etwa Clemens Wolf, Paul Ivić oder Karl-Heinz Strauss fotografiert, für andere Medien unter anderem Alexander Van der Bellen, Klaus Maria Brandauer und Brigitte Bierlein. Auch Architektur fotografiert er; 2018 erhielt er für sein persönliches Projekt „Buildings“ den renommierten Sony World Photography Award. Gavas Bilder hingen bereits in Ausstellungen in Deutschland, Japan, Italien, Spanien, Polen, den USA, Malaysia und natürlich in Wien. Ursprünglich kommt Gianmaria Gava aber aus Venedig.
„Man kann die Realität widerspiegeln, aber auch neu interpretieren und verändern, indem man die Wahrnehmung der Beobachter beeinflusst“ – so beschreibt Gava seine Liebe zur Fotografie. Als 17-Jähriger setzte er sich zum ersten Mal intensiv damit auseinander. Er kaufte sich eine analoge Zenit, baute eine Dunkelkammer im Haus seiner Oma und experimentierte. Doch wie es Teenager nun mal machen, verfolgte er das Hobby nach einiger Zeit nicht weiter – bis er nach Triest zog, um dort Politikwissenschaft zu studieren. Das Studium schloss er summa cum laude ab, nebenbei belegte Gava einige Fotokurse. Sein Lehrer war selbst Fotograf, und gegen Ende seines Studiums fing Gava an, ihm zu assistieren. Über einen Schulfreund, der österreichisch-italienische Wurzeln hat und schon zuvor nach Wien gezogen war, kam Gava nach seinem Studium in die Kaiserstadt und machte sich nach rund eineinhalb Jahren selbstständig.

„In Venedig funktioniert alles anders. Die ganze Stadt – wie sie gebaut ist, wie sie funktioniert – dreht sich um die ‚Laguna‘“, erzählt uns Gava an Bord des Vaporettos, das uns vom Flughafen abholt. In die Gegenrichtung fährt ein Polizeiboot, wenig später zieht ein Krankenhaus an uns vorbei – auf dem Dach gibt es einen Helikopterlandeplatz, auf dem Wasser davor eine Art Garage für Rettungsschiffe. Aus dem Wasser ragen überall „Bricole“, dicke Holzpfeiler, die markieren, wo die Boote fahren dürfen. An manchen Inseln dienen sie auch als Parkplätze, etwa für Restaurants: die mit den gelben Spitzen gehören zu einem, die mit den blauen zu dem daneben.
Hin und wieder hängt an einer Bricola ein Schild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung. „Die Boote dürfen nicht zu schnell fahren, damit sie keine großen Wellen machen“, erklärt Gava – denn diese beschädigen die Holzpfeiler unter der Stadt. Im fünften und sechsten Jahrhundert, als das weströmische Reich langsam, aber sicher unterging, drängten Barbaren die Einheimischen auf die sumpfigen Inseln der Lagune. Um das Fundament der Stadt zu stärken, sammelten die Venezianer Holz aus den Wäldern des heutigen Kroatiens und trieben sie tief in die Inseln der Lagune. Eine Kombination aus dem Gewicht der Stadt, Schäden an den Holzpfählen und dem steigenden Wasserspiegel macht Überflutungen aber immer häufiger. Seit 1988 hat die Stadt deshalb an MOSE (kurz für Modulo Sperimentale Elettromeccanico; „experimentelles elektromechanisches Modul“) gebaut, den Hochwasserschutzwänden, die bei Bedarf aus dem Wasser hochgezogen werden können und die 2020 eingeweiht wurden. Eigentlich sollte MOSE nur ein paar Mal pro Jahr hochgezogen werden, aber in den ersten 14 Monaten kam es 33 Mal zum Einsatz. Jedes Mal kostet das die Stadt rund 200.000 € und versperrt den Zugang zum Hafen. Außerdem verursacht es Folgewirkungen auf die Flora und Fauna der Lagune.


Wir fahren mit dem Vaporetto nach Lido – also auf eine der „Nebeninseln“ Venedigs – und von dort mit dem Bus weiter nach Pellestrina. Um auf die Insel zu kommen, die im Süden an Lido angrenzt, entert der Bus eine Fähre. Bevor er an Bord fahren kann, rollen gut 30 Fahrradfahrer vom Schiff: Viele Fahrradtouristen fahren von Chioggia, der ersten Stadt, die wieder am Festland steht, durch die langen, dünnen Inseln Pellestrina und Lido ins Zentrum der Region.
Die wenigen kleinen Dörfer Pellestrinas bieten einen Kontrast zur überfüllten Hauptinsel Venedigs. Hier ist es ruhig, die Zeit vergeht langsam, die Straßen wirken verschlafen. An den Häfen ankern mehr Fischerboote als Vaporetti. Die bunten Häuser – „früher hat jeder Fischer sein Haus in einer anderen Farbe bemalt, damit er es auch aus der Ferne erkennen konnte und am Abend wusste, wohin er fahren muss“, erklärt Gava – sind für den Fotografen ein Anblick, an dem er sich kaum sattfotografieren kann; besonders jetzt, da die Abendsonne sie beleuchtet. „Mamma mia, ist das gut fürs Fotografieren“, murmelt er.
Es dauert nicht lange, da wird er von Einheimischen auf seine Kamera angesprochen. Als sie an seinem Akzent hören, dass er kein Tourist ist, sondern aus der Region kommt, fallen sie tief ins Gespräch. Gava dreht sich kurz zu mir und scherzt über die Gastfreundschaft: „Fast wie in Wien!“ So treffen wir auch auf Loredano, einen alten Einheimischen, der darauf besteht, uns eine kleine Tour durch sein Dorf zu geben, und uns ein wenig von der Geschichte erzählt: Im späten 12. Jahrhundert wurde die Insel von den Genuesen zerstört, die auch über die Inseln Pellestrina und Lido das Zentrum Venedigs angriffen. Um sie wieder aufzubauen, erteilte der Podestà, der Bürgermeister von Chioggia im Süden Venedigs, den vier Familien Vianello, Busetti, Zennaro und Scarpa den Auftrag, die Insel neu zu besiedeln. Noch heute sieht man viele Zeichen der vier „Famiglie“: Auf Kriegsdenkmälern sind fast ausschließlich diese vier Nachnamen eingraviert, genauso auf den Grabsteinen am Friedhof, den Gava und ich später besuchen.
Am nächsten Tag kehren wir nach Pellestrina zurück, doch der erste Stopp ist eine Bar. Gava bestellt „Due caffé al banco“, also zwei Kaffee, die wir im Stehen trinken. Ein Schuss Milch dazu – „so kühlt es schneller aus“, sagt er –, zweimal kurz umrühren und runter damit. Gava: „Splendido!“ Jetzt kann der Tag starten.
Auf der Insel schlendern wir durch die Dörfer, doch das Licht eignet sich nicht gut zum Fotografieren. Einige der Einheimischen erkennen uns wieder und begrüßen uns freundlich. Erneut scherzt Gava: „Fast wie in Wien.“ Wir spazieren Richtung Süden und lassen die Dörfer hinter uns. An der schmalsten Stelle der Insel trennen nur wenige Meter die Lagune von der Adria. Von den Murazzi aus kann man beide gut sehen und hat auch einen schönen Blick auf Pellestrina und, in der Ferne, auf San Marco. Die Murazza ist eine begehbare Mauer, die sich über die gesamte Insel erstreckt. Im 18. Jahrhundert aus istrischen Marmorblöcken gebaut sollte sie Pellestrina vor dem Adriatischen Meer und vor Angreifern schützen. Fast an der südlichen Spitze angekommen, von wo das Festland Italiens nicht mehr weit entfernt ist, warten wir auf ein Vaporetto.

Mit dem Boot, Bus und wieder Boot fahren wir nach San Marco, ins Herzstück Venedigs. Auf der Ponte dei Sospiri bleiben wir kurz stehen. Um uns herum wird Englisch, Spanisch, Hindi und auch ein wenig Italienisch gesprochen. Gava hat Bedenken angesichts der vielen Touristen: „Es passieren hier Dinge, die nur in Venedig passieren.“ Er erzählt von Touristen, die von Brücken oder Häusern in den Kanal springen – um auf Instagram Likes zu sammeln. Rund 30 Millionen Menschen besuchen die Stadt jedes Jahr, in der mittlerweile weniger als 50.000 Einheimische leben.
Eine Folge des Übertourismus ist Wohnungsknappheit. Laut Inside Airbnb gibt es für Venedig fast 8.000 Einträge auf Airbnb. Fast 70 % der Gastgeber vermieten mehr als eine Wohnung. Studien in anderen Städten zeigen, dass mehr Airbnb-Einträge zu höheren Mietkosten führen, was die lokale Bevölkerung verdrängt. Die Wohnbevölkerung auf der Hauptinsel nimmt seit den frühen 1950ern ab, und auch Gavas Familie zog in den 1970er-Jahren nach Mestre ans Festland, als der Fotograf noch ein Kind war.
Nicht alle Venezianer sind von den Touristen gestört. Simone, der seit einigen Jahren in einem Geschäft nahe der Ponte di Rialto arbeitet, findet es interessant, sich mit den Besuchern auszutauschen und ihren Geschichten zu lauschen. Auch Vittorio, einen alten Fischer, und den Kellner Johnny (beide werden wir am dritten Tag der Reise treffen) stören die Touristen weniger. „Es gibt eine Generationenkluft“, so Johnny – junge Menschen, sagt er, sehen die Welt offener. „Ich möchte auch Los Angeles oder Paris besuchen. Warum soll Venedig anders sein?“ Vittorio und Johnny wohnen und arbeiten aber auf Pellestrina, wo das Problem des Übertourismus nicht so groß ist wie im Zentrum der Region.
Es ist schwierig, offizielle Umfragen zu finden, die messen, wie die Bevölkerung dem Problem gegenübersteht – doch es gibt Hinweise darauf, dass Johnny, Vittorio und Simone in der Unterzahl sind. Die Bevölkerung hat lang und hart für eine Verbannung der Kreuzfahrtschiffe gekämpft, die nicht nur Touristenmassen bringen, sondern auch die Lagune und die Gebäude am Wasser beschädigen können. Die Autoren einer Studie, die 2024 im Journal of Hospitality & Tourism Cases erschien, schreiben: „Aus der Sicht der Einheimischen untergräbt der anhaltende Zustrom von Touristen die Authentizität Venedigs und vernachlässigt die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung.“


Für den dritten Tag unserer Reise sind Gava und ich bei „De Celeste“ eingeladen, einem schicken Restaurant in Pellestrina, das einige internationale Auszeichnungen gewonnen hat. Wir sehen den Köchen dabei zu, wie sie den Fang des Tages putzen – gut 100 Kilogramm Granseola-Krabben müssen sie reinigen, dazu kommen noch Shrimps, Muscheln und andere Meeresfrüchte. Ich unterhalte mich mit dem Kellner Johnny. Er ist der Urenkel des Gründers, nach dem das Restaurant benannt ist, und nicht der Geschäftsführer – das sind sein Cousin, Onkel und Vater –, doch er spricht das beste Englisch. In der Hochsaison sind heute fast die Hälfte der Gäste des 1986 gegründeten Restaurants Touristen, was auch Johnnys offene Einstellung gegenüber den Besuchern erklären könnte. In den Monaten von Juni bis September würden über 200 Gäste pro Tag im Restaurant speisen. Die Familie versucht aber, sich nicht von der lokalen Bevölkerung abzuschotten: „Wir versuchen, der Vision meines Großvaters zu folgen: einfache Gerichte, gut aufbereitet“, sagt Johnny.
Nach unserer kurzen Tour durchs Restaurant kommen wir ins Gespräch mit drei Fischern, die gerade von der Arbeit zurückkommen. Der älteste, Vittorio, lädt uns auf sein kleines Motorboot ein und fährt uns auf die Lagune. „Fast wie in Wien“, sagen Gava und ich fast gleichzeitig – die Vorstellung, dass uns in Wien ein Fremder auf sein Boot auf der Donau einlädt, erscheint uns absurd. Vom Wasser aus haben wir einen guten Blick auf die Inseln der Lagune; Pellestrina mit seinen bunten Häusern und leeren Straßen, und in der Ferne San Marco mit seinen beeindruckenden Kirchen, Brücken und Plätzen, wo Tausende Touristen umhergehen – auch heute …
Gianmaria Gava ist freischaffender Fotograf in Wien, stammt aber aus Venedig. Er studierte Politikwissenschaft in Triest und zog nach dem Studium nach Wien, wo er sich wenig später selbstständig machte.
Fotos: Gianmaria Gava