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Die Pandemie hat die Life Sciences ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt – am Schnittpunkt zwischen Biowissenschaften und Gesundheitsmanagement entsteht ein komplexes Ökosystem mit neuen Spielregeln. Jurgen Willems von der Executive Academy der WU Wien erklärt, was Führungskräfte wissen müssen, um die Gesundheitsversorgung der Zukunft mitzugestalten.
Millionen Menschen desinfizierten sich zehnmal am Tag die Hände und verfolgten Infektionszahlen wie früher Börsenkurse, jeder war auf einmal ein Virologe, die Welt stand still: Die Coronapandemie hat unser Verhalten im Alltag grundlegend verändert. Sie hat aber auch unseren Blick auf einen Bereich geschärft, der lange Zeit im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit stand: die Biowissenschaften.
„Der Trend war schon davor da: Gesundheitsinstitutionen und Universitäten in den Life Sciences haben langsam begonnen, Unternehmen zu gründen, Spin-offs zu gründen, raus aus der Forschung zu gehen und sich an die Geschäftswelt heranzutasten. Die Pandemie hat diesen Prozess aber deutlich beschleunigt“, sagt Jurgen Willems. Der Professor für Public Management & Governance an der WU Wien hat diese Transformation aus nächster Nähe beobachtet: Nach Stationen in Gent und Hamburg hat er nun gemeinsam mit der WU Executive Academy eine neue Spezialisierung entwickelt: den Executive MBA Life Science & Health Care Management. Das englischsprachige Programm richtet sich an eine internationale Zielgruppe: Ärzte, Forscher, IT-Experten oder Pharma-Manager, die lernen wollen, wie sie sich im immer stärker verzahnten Gesundheitsbereich bewegen können.
Der Bedarf ist da. Während Europa über exzellente Universitäten und Forschungseinrichtungen verfügt, fehle oft die Brücke zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft, so Willems. „Das sind Top-Leute – in ihrem Bereich“, sagt er über die Wissenschaftler und Gesundheitsexperten. „Aber viele haben einfach keine formale Ausbildung in Sachen Management. Wie führe ich Teams? Wie leite ich Projekte? Die meisten werden ins kalte Wasser geworfen und lernen ‚on the job‘.“ Mit einem entsprechenden MBA sei dies effizienter möglich.
Aber muss Management nicht ohnehin aus praktischer Erfahrung gelernt werden? Und warum sollten sich Forscher, die eine unternehmerische Vision haben, nicht einfach mit jemandem zusammentun, der auch eine betriebswirtschaftliche Ausbildung hat?
Willems selbst bringt einen ungewöhnlichen Hintergrund mit. Nach seinem Studium (Wirtschaftswissenschaften und Betriebs- und Technologiemanagement an der Universität Gent) arbeitete er zunächst als Forscher an der Vlerick Business School in Belgien, wo er sich auf Prozessmanagement und Business Intelligence konzentrierte. Seine Doktorarbeit schrieb er über die Schnittstelle von angewandter Wirtschaft und Psychologie, an der Freien Universität Brüssel. Nachdem er einige Jahre an der Universität Hamburg, wo er seine Habilitation erhielt, im Bereich Public Management tätig war, kam er 2019 an die WU Wien.
Seine internationale Erfahrung prägt auch den neuen MBA. „Wir wollten von Anfang an ein europäisches Programm entwickeln, nicht nur ein österreichisches“, sagt Willems. Deshalb wird der MBA auf Englisch unterrichtet und richtet sich bewusst an Teilnehmer aus ganz Europa, mit besonderem Fokus auf den mittel- und osteuropäischen Raum.
Die Veränderung in den Life Sciences geht weit über Corona hinaus: Europas Bevölkerung wird älter, mehr Menschen leben länger und brauchen medizinische Betreuung. Gleichzeitig hat die breite Bevölkerung höhere Erwartungen an ihre Gesundheitsversorgung. „Corona hat gezeigt, was möglich ist: Impfstoffe wurden innerhalb von sechs Monaten entwickelt; es gab Apps, die mir sagen konnten, wer mich angesteckt hat. Jetzt fragt man sich: ‚Wieso nicht immer so?‘“, sagt Willems. Die klassischen Lösungen – ein großes Pharmaunternehmen hier, ein Krankenhaus dort, ein Medtech da – können diese Erwartungen nicht mehr erfüllen. Die einzelnen Akteure müssten anfangen, so Willems, zusammenzuspielen.

Wir wollten wirklich tief in den Bereich gehen und zeigen, wie man Managementpraktiken auf dieses Feld zuschneiden kann.
Jurgen Willems
Für Unternehmen birgt das sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Die gute Nachricht zuerst: Europa ist technologisch bestens aufgestellt. „In STEM-Bereichen (kurz für Science, Technology, Engineering, Mathematics; Anm.) sind die europäischen Unis eigentlich top“, betont Willems. „Wir müssen keine neuen Forschungszentren oder Wirtschaftsuniversitäten bauen.“
Interdisziplinarität schafft außerdem neue Geschäftsmöglichkeiten. Krankenhäuser können mit dem Pharmasektor und Life-Sciences-Unternehmen kommunizieren, um die neuesten Behandlungsmethoden anzuwenden. Umgekehrt können Medikamentenhersteller direkten Kontakt zu Krankenhäusern aufbauen, um neue Therapien zu entwickeln.
Die schlechte Nachricht: Die Vernetzung funktioniert noch nicht. Während in den USA etablierte Netzwerke zwischen Universitäten, Investoren und Unternehmen existieren, kämpfe Europa mit zu viel Bürokratie und zu wenig grenzüberschreitender Kooperation, sagt Willems. Er erzählt von einem Arzt, der eine revolutionäre Robotertechnologie für Gelenkoperationen entwickelt hat und ein Spin-off gründen möchte. „Aber er hat gesagt, ihm fehlen die Connections zu Pharma, Start-ups und zu Tech-Firmen“, schildert Willems.
Das hat auch Folgen für bereits bestehende Unternehmen. Viele innovative Technologien werden zwar in Europa entwickelt, aber dann an amerikanische Investoren verkauft. „In Europa ist es eigentlich normal, ein Start-up aufzubauen und dieses dann an ein großes Unternehmen in den USA zu verkaufen“, erklärt Willems. Damit wandern nicht nur viele der besten Forscher und Unternehmer in dem Bereich in die USA ab, Europa verliert auch die strategische Kontrolle über wichtige Gesundheitstechnologien – und das Ökosystem, das nötig wäre, um Start-ups hierzulande weiterzuentwickeln, wird nie entstehen.
Willems und der WU Executive Academy ist deshalb wichtig, dass sich die Teilnehmer vernetzen können – eben um mitzuhelfen, ein Ökosystem der Biowissenschaften in Europa aufzubauen. „Wir legen großen Wert auf eine vielfältige Zusammensetzung des Studiengangs“, erklärt Willems. Die Teilnehmer kommen aus unterschiedlichen Bereichen – von der Molekularbiologie bis zur Gesundheitsökonomie. „So haben die Teilnehmer die Möglichkeit, nicht nur Fachkollegen aus ihrer eigenen Branche kennenzulernen, sondern auch Experten aus anderen Bereichen des Ökosystems Gesundheitsmanagement“, so der Wirtschaftswissenschaftler.
Speziell Wien habe grundsätzlich gute Voraussetzungen, sagt Willems, sich als Life-Sciences-Hub zu etablieren. Die Stadt verfügt über exzellente Universitäten, von der Medizinischen Universität bis zur Boku, dazu kommen Start-ups und die Hauptquartiere großer Pharmaunternehmen wie Boehringer Ingelheim und Novartis. Initiativen wie Biotech Austria, eine Interessenvertretung für Biotechnologie-Unternehmen, oder die Initiative Life Science Austria versuchen bereits, die verschiedenen Akteure miteinander zu vernetzen. Das Vienna BioCenter, das bereits 1985 gegründet wurde, hat sich seitdem als einer der führenden Biowissenschaften-Hubs Europas etabliert und zeigt vor, wie man ein Ökosystem schaffen kann.

Was macht Management in Life Sciences und Healthcare so speziell? „Das sind hoch spezialisierte Leute, die alle in einem Team arbeiten müssen“, erklärt Willems. Der Teamleiter muss Menschen managen, die in ihren Bereichen mehr wissen als er. „Als Führungskraft habe ich dann nicht immer die Kompetenz, ihre Arbeit oder ihre Ideen zu beurteilen“, so Willems.
Dazu kommt: In kaum einem anderen Bereich ist die ethische Komponente so wichtig. Es geht um Menschenleben, um Gesundheit, um grundlegende Fragen nach dem Wert medizinischer Innovationen. Manager in diesem Feld müssen verstehen, wie Preise für Medikamente zustande kommen oder wie europäische Regulierung funktioniert.
Der MBA kombiniert deshalb eine klassische Managementausbildung mit spezifischen Life-Sciences-Kompetenzen. Im ersten Jahr erlernen die Teilnehmer die Grundlagen – Marketing, Finanzen, Strategieentwicklung. Die Spezialisierung bringt dann „Top-down-Kurse“, etwa über europäische Gesundheitspolitik und Governance, mit „Bottom-up-Trainings“ über interdisziplinäre Teamführung, Technologietransfer und andere Themen zusammen. Willems: „Wir wollten wirklich tief in den Life-Sciences- und Healthcare-Bereich gehen und zeigen, wie man Managementpraktiken auf dieses Feld zuschneiden kann.“
Wie sieht die Zukunft des Gesundheitssektors aus? „Sie gehört holistischen Lösungen“, sagt Willems. Statt einzelner Medikamente werden Kombinationen aus Pharmazeutika, Apps, KI-gestützter Diagnostik und personalisierten Therapien entwickelt werden, ist er überzeugt. Durch Fitnesstracker können mehr Daten erfasst werden, die auch bei der Diagnose helfen können. „Wenn ich ein Medikament gegen Bluthochdruck nehme, kann dieser über meinen Fitnesstracker laufend überprüft werden“, erklärt Willems. Das ist bereits möglich – aber die Daten der kleinen Geräte sind in den Händen der meisten Menschen, die keine medizinische Ausbildung haben, nicht viel wert, Ärzte können deutlich mehr mit ihnen anfangen. Auch hier gilt also: Technologieunternehmen und Mediziner müssen miteinander reden, um voranzukommen.
Corona hat gezeigt, dass Gesundheitskrisen nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit gelöst werden können. Die Life Sciences sind dabei aus dem Schatten getreten und haben bewiesen, welches Potenzial in ihnen steckt. Jetzt liegt es an der nächsten Generation von Führungskräften, dieses Potenzial zu nutzen und Europa zu einem führenden Player in der globalen Gesundheitswirtschaft zu machen. Dafür braucht es nicht nur brillante Forscher, sondern auch Manager, die verstehen, wie man Wissenschaft in funktionierende Geschäftsmodelle übersetzt. Willems fasst es zusammen: „Alle Bausteine sind da. Wir müssen sie nur noch zusammensetzen.“ Die Pandemie hat die Life Sciences ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt – am Schnittpunkt zwischen Biowissenschaften und Gesundheitsmanagement entsteht ein komplexes Ökosystem mit neuen Spielregeln. Jurgen Willems von der Executive Academy der WU Wien erklärt, was Führungskräfte wissen müssen, um die Gesundheitsversorgung der Zukunft mitzugestalten.
Jurgen Willems ist Professor für Public Management & Governance an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach Stationen in Belgien und Hamburg entwickelt er hier MBA-Programme im Gesundheitsbereich. Der Executive MBA Life Science & Health Care Management der WU Executive Academy startet 2025 als englischsprachige Spezialisierung des Vienna Executive MBA.
Fotos: Gianmaria Gava