GLOBALE KETTENREAKTION

Covid-19 hat weltweite Wertschöpfungsketten unterbrochen und uns damit deren Fragilität und Abhängigkeiten vor Augen geführt – inwieweit wird die Pandemie die globalen Handelsströme nachträglich verändern?

Als Verkaufsschlager in Coronazeiten gerne belächelt, wurde es vielerorts gehamstert, vorübergehend sogar zu Wucherpreisen auf Ebay angeboten: Klopapier. Einen klassischen Engpass, der die Panikkäufe gerecht­fertigt hätte, gab es nie. „Die Versorgung war immer gesichert. Über 1,5 Millionen Rollen Klopapier produziert Hakle pro Tag, das Lager wird ständig aufgefüllt und die Lieferkette funktioniert nach wie vor“, erklärte Volker Jung, Chef des deutschen Toilettenpapierherstellers Hakle, am Höhepunkt der Krise gegenüber Die Welt. Ganz anders sah es etwa bei VW aus: So wurden die Produktionen im spanischen Martorell und im VW-Werk in Navarra gänzlich heruntergefahren. In Lissabon drosselte Volkswagen die Herstellung auf 16 % – Grund war ein Arbeitermangel, nachdem die portugiesische Regierung die Schließung aller Schulen angeordnet hatte. Ein VW-Sprecher erklärte, die Versorgung der Werke mit einzelnen Teilen werde durch die Grenzschließung in Europa immer schwieriger.

Unternehmen, die sich auf eine lokale Produktion stützen, können in Krisenzeiten ihre Produktions­abläufe besser anpassen und, falls notwendig, gänzlich umstellen. Globale Wertschöpfungsketten – das hat die Coronapandemie drastisch vor Augen geführt – sind fragil(er) und von großen Abhängigkeiten geprägt. Von Toyota bis Chrysler, von Boeing bis Airbus – die größten Weltkonzerne stützen sich auf die aktuelle Form der internationalen Arbeitsteilung, gekennzeichnet von einer Just-in-time-Produktion mitsamt einer globalen Outsourcingstrategie, die allzu oft nur mit einem Zulieferer („Single Sourcing“) auskommt. Der Nachteil liegt auf der Hand: Je komplexer die Lieferkette, desto höher das Ausfallrisiko. In der Autoindustrie etwa musste die Herstellung in Covid-19-Zeiten unterbrochen werden – es fehlten Teile, die in Asien hergestellt werden. Die Branchenexperten des Beratungsunternehmens EY gehen in einer aktuellen Analyse davon aus, dass die Mehrzahl der großen Autohersteller im Juli rote Zahlen präsentieren muss. Die größten Konzerne verbuchten im operativen Geschäft „nur noch“ rund 7,5 Milliarden € Gewinn – das ist ein Einbruch um mehr als die Hälfte im Vergleich zum ersten Quartal 2019 und der niedrigste Stand seit 2009.

Größere Lagerbestände können zwar das Risiko verringern, bergen jedoch auch einen zentralen Nachteil: höhere Lagerhaltungs­kosten. Ein Luxus, den sich etwa der schwäbische Forst- und Garten­gerätehersteller Stihl leistet, der seine Produkte über 41 Vertriebs- und Marketinggesellschaften weltweit in 160 Länder verkauft. Das Unternehmen stützt sich auf ein gut gefülltes Lager. „Produziert wird in einem weltweiten Fertigungsverbund in insgesamt sieben Ländern. Unsere Wertschöpfungstiefe in der Fertigung liegt bei rund 50 % – das vereinfacht eine Priorisierung zwischen unseren Standorten und macht uns sehr flexibel“, schreibt der Unternehmenssprecher Stefan Caspari in einer E-Mail an Forbes. Stihl konnte seinen Betrieb zu Coronazeiten an allen Produktionsstätten weitgehend aufrechterhalten – ohne Kurzarbeit. Einzelrisiken aus Lieferquellen wurden bereits vor Corona eliminiert. „Somit sehe ich für Stihl nur punktuell Anlass zur Liefer­kettenoptimierung. Die Globalisierung macht derzeit Pause“, ist sich Caspari sicher.

Als Corona gnadenlos in der Lombardei wütete und in atem­beraubendem Tempo unser Leben europaweit auf den Kopf stellte, begann ein beispielloser Wettlauf um Schutzmasken, Handschuhe und Desinfektionsmittel. „Die etablierten Hersteller haben die Produktion so weit wie möglich hochgefahren“, meint Manfred Beeres vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) gegenüber der Tagesschau und verweist auf die US-Firma 3M, die irische Firma Medtronic und den Lübecker Produzenten Dräger, die allesamt in Deutschland Standorte haben. Dräger produziert nach eigener Angabe seine Masken in Schweden und Südafrika und war am europäischen Höhepunkt der Pandemie voll ausgelastet. „Selbst wenn wir deutsche Hersteller haben, findet die Produktion selbst meist in Asien statt“, ergänzte Marcus Kuhlmann, der Sprecher des Medizintechnik-Branchenverbands Spectaris.

Dies ist auch beim Handschuhhersteller Sempermed, dem medizinischen Sektor der Semperit AG Holding, vorzufinden – denn das Unternehmen produziert zwar in Wimpassing in Niederösterreich sterile Operationshandschuhe (die Nachfrage nach diesen verdreifachte sich während des Lockdowns); Untersuchungshandschuhe werden jedoch am Standort Malaysia hergestellt. Dank einer engen Abstimmung mit allen involvierten Partnern und dank des Fokus auf den Schutz der Mit­arbeiter – um deren Gesundheit zu erhalten und auch die fortlaufende Produktion zu ­sichern – konnte die Herstellung sowohl in Österreich als auch in Asien aufrechterhalten werden. „Wir wurden gebeten, die Republik Österreich mit der Lieferung von medizinischen Schutzhandschuhen zu unterstützen, und haben dies binnen kür­zester Zeit erfolgreich bewerk­stelligt“, sagt Unternehmens­sprecherin Monika Riedel. Um künftig besser gewappnet zu sein und Engpässe vermeiden zu können, setzt sich Semperit nun für ein österreichisches „Pandemielager“ ein.

Ein Vorschlag, den Prof. Harald Oberhofer, stellvertretender Leiter des Instituts für Internationale Wirtschaft in Wien, „im Sinne der Vorsorgesicherheit“ unterstützt. In einem Gespräch mit Forbes geht er einen Schritt weiter und hofft „auf eine Diversifikation, damit selbst ­regionale Abhängigkeiten reduziert werden. Es wäre ähnlich problematisch gewesen, wenn beispielsweise ein Pharmakonzern sein Penicillin in der Lombardei herstellt.“ Es ist und bleibt riskant, wenn 90 % des weltweiten Penicillins und auch 90 % aller Wirkstoffe für Generika in China produziert werden. Denn bereits vor Covid-19 kam es zu Lieferproblemen bei wichtigen Medikamenten: Das Blutdruckmittel Valsartan und das Antibiotikum Ospen waren kaum erhältlich. Gilt es also, bestimmte globale Wertschöpfungsketten zu verkürzen – und wenn ja, welche? Laut Thieß Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung, sei es eine gesellschaftspolitische Entscheidung, welche Produkte als so essenziell eingestuft werden; die Pharmaindustrie werde weiterhin die Gewinnoptimierung im Auge haben. Deshalb – und in diesem Punkt sind sich Petersen und Oberhofer ­einig – müssen Anreize geschaffen werden, um ausgelagerte Produktionsstätten auf europäischen oder heimischen Boden zurückzuholen, beispielsweise durch Subventionen oder durch Abnahmegarantien.

Wer zusätzlich zur Rückverlagerung von Produktionsschritten aus Niedriglohnländern zudem verstärkt auf digitale Technologien setzen kann, hat bessere Voraussetzungen. Allerdings: Länder mit billigen Werkbänken verlieren ihren größten Wettbewerbsvorteil: die niedrigen Löhne. Grundsätzlich geht Petersen davon aus, „dass das erreichte Ausmaß der internationalen Arbeitsteilung ein wenig zurückgefahren wird, um so die Abhängigkeit von essenziellen Vorleistungen und Endprodukten zu ­verringern.“ Ähnlich sieht es Oberhofer, der von „vereinzelten Verschiebungen“ spricht, vor allem aber „eine Erhöhung der Lagerkapazitäten“ prognostiziert.

Gefährlicher als eine zweite Covid-19-Welle, so die Einschätzung der beiden Experten, wäre wohl ein überbordender, vor allem protektionistischer Wirtschaftsnationalismus, der in einer Deglobalisierung mit schwerwiegenden Konsequenzen für Einkommen und Beschäftigung in allen Ländern endet.

Text: Raoul Sylvester Kirschbichler
Illustration: Valentin Berger

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