Gründer im Krieg

Nach dem Angriff auf die Ukraine leistet auch die aufstrebende Start-up-Szene des Landes Widerstand gegen die russische Invasion. IT-Experten bekämpfen Hacker und Desinformation. Gründer machen mit Innovationen humanitäre Hilfe effektiv. Aufgeben und die Unternehmen abziehen, kommt für sie nicht in Frage.

Es war der erste Tag im März, wenige Tage nach Beginn der Invasion. Eine russische Rakete schlug in den Fernsehturm von Kiew ein. Ein Feuerball schoss aus dem Umspannwerk direkt unter der Anlage. Fünf Menschen kamen zu Tode, und Trümmer schlugen in umliegende Gebäude ein – auch in den Gründercampus Unit City, einen der größten Tech-Cluster in Osteuropa. Die Attacke traf Kiews aufstrebende Start-up-Szene mitten ins Herz.

„Niemals hätte ich geglaubt, dass ich mich je in einem Krieg wiederfinden würde“, sagt Konstantin Jevtuschenko einige Wochen später. Wie alle Ukrainer erlebt er einen Albtraum, dessen Ende nicht absehbar ist. In nur wenigen Tagen ist aus seiner Heimat ein Schlachtfeld geworden, eine Welt aus Tod, Elend und Vertreibung.

Der 38-Jährige ist ein Zwei-Meter-Hüne mit breiten Schultern und Stoppelbart. Als Geschäfts­führer hat er Unit City mit auf­gebaut. Es war eine von vielen Erfolgsgeschichten der ukrainischen Tech-Szene: Dutzende Start-ups haben sich in den vergangenen Jahren in dem Innovationspark angesiedelt, der Co-Working-Komplex war eine Heimat für die Gründerszene der Ukraine – und ein Symbol für die Hoffnung einer jungen Nation, die gen Westen strebt, Richtung Europa und Silicon Valley.

Der Angriffskrieg der russischen Truppen hat diese Hoffnung knapp zwei Wochen nach der Invasion beschädigen, aber nicht zerstören können. Jevtuschenko und seine Mitstreiter aus der ukrainischen Gründerszene haben sich ins noch sichere Lwiw (Lemberg) im Westen des Landes zurückgezogen – und wollen von dort aus ihre Heimat verteidigen, allerdings nicht als Kämpfer mit dem Sturmgewehr. Jevtuschenko sagt: „Ich kann keine Waffe bedienen, aber ich habe ein großes Netzwerk und ein Talent für Organisation. Beides ist in einer solchen Krise sehr wichtig.“

Jevtuschenko leistet mit den Waffen des Entrepreneurs Widerstand: mit Innovation und Kreativität. Seine drei Kinder und seine Frau hat er nach Polen gebracht; er selbst koordiniert von Lemberg aus, wo er geboren wurde, vor allem die Lieferungen von Hilfsgütern. „Wie im gesamten Land spüren wir auch in der Gründerszene eine große Geschlossenheit. Wir alle wollen gemeinsam für die Freiheit kämpfen“, sagt Jevtuschenko.

Seine erste und wichtigste Aktion: die Verteilung von Hilfsgütern managen. Programmierer von Unit City haben ein Logistiksystem und digitale Erkennungsmarken für Fahrer entwickelt. Dadurch können an der polnischen Grenze schnell und effektiv Güter auf ukrainische Trucks umgeladen werden. Essen, Medi­kamente oder Kleidung gelangen so durch das Kriegsgebiet an die Front und in belagerte Städte.

Dazu kommt die Organisation von Kryptospenden: Ukrainische Hilfsorganisationen und NGOs haben durch Fundraising-Aktionen bereits Millionen Dollar gesammelt. Designer von Unit City haben ein gelb-blaues Herz gestaltet und verkaufen es als NFT, alle Erlöse gehen an das Rote Kreuz in der Ukraine. Weitere Programmierer haben sich der freiwilligen Cyberarmee der Ukraine angeschlossen und schützen Regierung und Armee vor Hacking-Attacken.

Einige Gründer harren auf dem Campus von Unit City aus. Sie schlafen in einem Bunker unter dem Komplex, während das Artilleriefeuer bebt. In den verlassenen Büros hatten sich einmal globale Marken wie Snapchat eingerichtet, Apple-Gründer Steve Wozniak war hier zu Besuch, und auch der für seinen Mut und seine Führung nun bewunderte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war ein großer Fan
des Projekts.

Anfang Februar, wenige Tage vor der russischen Invasion, hatte Selenskyj bei einer Konferenz erklärt: „Wir wollen die Ukraine in ein Land der Start-ups verwandeln.“ Er rechnete vor: Technologie werde im Jahr 2025 rund 10 % der Wirtschaftskraft ausmachen. Der Sektor sei dann 16,5 Milliarden US-$ wert. „Das würde uns zum größten Tech-Hub Europas machen.“

Für Selenskyj war diese Ankündigung auch ein Pitch, eine Ansage an den Westen, die USA und die EU: Schaut her, die Ukraine ist eine moderne Nation, eine europäische Demokratie. Acht Jahre nach der blutigen Euromaidan-Revolution wollen wir endlich dazugehören – zur modernen, freien Welt.

Fast 5.000 IT-Firmen haben ihren Sitz in der Ukraine, mehr als 200.000 Softwareentwickler arbeiten im Land. Risikokapital­geber haben zuletzt überraschend hohe Summen in die Unternehmen gepumpt – laut dem Beratungsunternehmen Deloitte waren es im vergangenen Jahr mehr als 1,68 Mrd. US-$. Doch das war vor dem Krieg.

Lyubov Guk, eine in London lebende Risikokapitalgeberin, sagt: „Internationale Investoren dürfen sich jetzt nicht davonmachen“, und verspricht: „Ich werde ukrainische Unternehmen mit einer globalen Perspektive weiter unterstützen.“ Die 31-Jährige ist selbst Kriegsflüchtling: 2014 musste sie nach der Besetzung und Abspaltung prorussischer Separatistengebiete im Osten des Landes aus ihrer Heimatstadt Donezk fliehen.

Was Guk Hoffnung macht, sind die vielen Erfolgsgeschichten der ukrainischen Tech-Szene – Unternehmen wie das 13-Milliarden-US-$-Start-up Grammarly etwa: Der Cloud-Sprachassistent entstand 2009 in Kiew. Auch die Start-ups Gitlab, Preply and Firefly ziehen Milliarden an Investments an. Whatsapp-Gründer Jan Koum, eine Ikone der Tech-Szene, wuchs in Kiew auf und war als Kind auf Lebensmittelmarken angewiesen.

„Die Tech-Industrie der Ukraine ist inzwischen ein dezentrales und effektives globales Netz­werk. Wir werden jetzt den Aufstieg einer neuen Generation globaler Start-ups aus der Ukraine sehen“, glaubt Investorin Guk. Technologie, Bildung und Kreativität seien die Ressourcen, mit denen sich eine bessere Zukunft bauen lasse; für den Wiederaufbau des Landes seien sie entscheidend.

Lyubov Guk flüchtete 2014 aus Donezk, nachdem die Stadt von prorussischen Separatisten besetzt wurde. Heute ist sie Risikokapitalgeberin in London.

Natalie Marina stimmt zu. Die Gründerin von Noty, einem KI-Tool für die Transkription von Onlinecalls, war in Spanien, als der Krieg begann. Dort hatte sie eine halbe Million € an Seed-Funding eingesammelt. Nun steckt sie in Lissabon fest, doch die Arbeit am Produkt geht weiter. „Unser Erfolg ist ein Erfolg für die Ukraine“, sagt die 28-Jährige. „Irgendwann wird dieser Krieg vorbei sein und dann müssen wir das Land aufbauen. Wir Gründer wissen genau, wie wir bei null anfangen und Neues schaffen. Wir können da einen riesigen Beitrag leisten“, sagt Marina.

Dima Shvets hat schon erreicht, wovon viele junge Gründer wie Marina träumen. Der 34-jährige Jungstar der Tech-Szene ist CEO von Reface und strahlt selbst in diesen finsteren Zeiten noch die Aura des unbeschwerten Sonnyboys aus. Mehr als eine Million Menschen pro Tag nutzen seine App. Sie kann das Geswicht des Users in ein fremdes Bild, eine animierte Szene oder eine Filmsequenz einbauen, also sogenannte Deepfakes erzeugen.

Dima Shvets ist Gründer von Reface, einer der populärsten Apps für Deepfakes, die mehr als 200 Millionen Downloads verzeichnet. Nun schützen seine Programmierer die Ukraine vor Hackerangriffen.

Weil Medien in Russland zensiert werden, schickte Shvets seinen zwei Millionen russischen Nutzern via Push Notification „Russland hat die Ukraine angegriffen!“ aufs Handy. Die durch die App kreierten Videos haben als Wasserzeichen inzwischen die ukrainische Flagge und den Hashtag #StandWithUkraine. Einige Entwickler unterstützen die ukrainische Armee, indem sie mittels künstlicher Intelligenz Bilder und Videos auswerten lassen, um die Standorte von russischen Truppen zu lokalisieren. Shvets Gag-App wurde somit zu einer mächtigen Waffe im Informationskrieg. Er sagt: „Wir wollen dafür sorgen, dass die Menschen die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine erfahren.“ Doch damit allein lässt sich das Leid nicht beenden. Der Gründer appelliert an die Welt: „Russische Unternehmen dürfen kein Geld mehr bekommen, denn durch deren Steuern werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit finanziert.“

Was viele Gründer der Ukraine verbindet? Sie rennen nicht weg, sie beweisen Mut. Sie geben die Hoffnung nicht auf und bewahren einen Rest Optimismus. Sie sind damit perfekte Botschafter eines Landes, das weltweit für seine Resilienz und Geschlossenheit bewundert wird und das unerbittlich und unbeugsam für die Freiheit kämpft. Unit-City-Chef Konstantin Jevtuschenko sagt: „Unser größter Traum ist, dass wir unser altes Leben wiederhaben können. Und eine Zukunft in einem freien Land.“

Bislang hat noch keine russische Rakete diesen Traum zerstören können.

Text: Reinhard Keck
Foto: Maximov, Unit City, Reface

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 2–22 zum Thema „Innovation & Forschung“.

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