GRENZENLOSE INNOVATION

Während Start-ups mit neuen Geschäftsmodellen ganze Branchen transformieren, fällt es großen Konzernen schwer, innovative Konzepte umzusetzen. Amy Wilkinson möchte dies mit ihrem Beratungsunternehmen Ingenuity ändern.

Amy Wilkinson kommt ihr Besuch in der Schweiz fast schon wie eine Reise in die Vergangenheit vor. Wilkinson, die wegen ihres Auftritts am World Web Forum gekommen ist, kam direkt aus der warmen kalifornischen Sonne nach Zürich, weg aus dem Silicon Valley, der Wiege der modernen technologischen Innovation. „Hier fragt man mich nach Digitalisierung – im Silicon Valley ist sie überall spürbar“, so Wilkinson.

Die Schweiz punktet für die US-Amerikanerin vor allem mit ihrer Tradition, der Kultur, aber auch mit dem starken Pharma- und Medtech-Sektor – und wegen der Scho­ko­lade, wie sie lachend erwähnt: „­Meine Freunde schreiben mir, dass ich ihnen auf jeden Fall Schweizer Schokolade mitbringen muss!“

Wilkinson hilft ­Unternehmen und ihren Mitarbeitern dabei, sich die Fähigkeiten von Vordenkern wie Tesla-Gründer Elon Musk oder Facebook-Chef Mark Zuckerberg anzueignen. Das tut sie mit ihrem eigenen Beratungsunternehmen ­Ingenuity im Herzen des Silicon Valley. Ihre Devise: Jeder hat das Zeug zum Unternehmer – und ­jeder sollte sich die dazu notwendigen ­Fähigkeiten aneignen. Ihr ­Interesse für Unternehmertum und innovative Geschäftsideen entwickelte Wilkinson bereits direkt nach dem Collge, als sie das Unternehmen Alegre gründete, eine Kunst-Exportfirma, welche mexikanischen Kunsthandwerkern den Zugang zum amerikanischen Kunstmarkt ermöglichte und deren Werke in die USA exportierte.

Nach vier Jahren ­verkaufte Wilkinson Alegre und ging in die Privatwirtschaft. Sie war bei der US-Bank JPMorgan tätig, dann als Beraterin bei McKinsey, bevor sie als Senior Trade Advisor im Weißen Haus in die Politik wechselte. Dort beobachtete sie, wie Start-ups in Summe eher Jobs zu kreieren schienen, während große Unternehmen diese schufen und wieder zerstörten.

Wilkinsons Interesse war geweckt – also zog sie los und ergründete die Start-up-Szene, indem sie zahlreiche Gründer interviewte. Darunter fanden sich Tesla-Gründer Elon Musk, die Airbnb-Gründer Brian ­Chesky, Joe Gebbia und Nathan ­Blecharczyk sowie die Dropbox-Gründer Drew Houston und Arash Ferdowsi. Nach über 200 Interviews brach sie die Essenz dieser Unternehmer auf sechs essenzielle Punkte herunter und veröffentlichte diese in ihrem Buch „The Creator’s Code“: Gelegenheiten erkennen, die anderen entgehen, sich auf das fokussieren, was vor einem liegt, und sich dabei in einem hohen Tempo weiterentwickeln, eine ständige Adaption der ­eigenen Annahmen vornehmen, aus kleinen Fehlern lernen, um große zu vermeiden, ein Netzwerk an ­Verbündeten aufbauen und nutzen sowie Großzügigkeit entwickeln, ­indem man anderen hilft – dadurch werden Beziehungen gestärkt.

Amy Wilkinson
... studierte Soziologie an der Stanford University und war unter anderem als Senior Trade Advisor im Weißen Haus tätig. 2015 veröffentlichte sie das Buch „The Creator’s Code“, 2017 gründete sie das Beratungsunternehmen Ingenuity.

Wer denn ihr beeindruckendster Interviewpartner gewesen sei, wollen wir von Wilkinson wissen. „Elon Musk. Er denkt auf einem völlig anderen Niveau. Und er ist einer der wenigen Unternehmer, die sich in vielen verschiedenen Branchen bewegen.“ Schließlich gründete Wilkinson 2017 Ingenuity, um ihre Erkenntnisse Unternehmen und deren Mitarbeitern näherzubringen. Dabei geht es nicht darum, dass jeder ein Unternehmen wie Apple, Tesla oder Facebook gründen soll. „Können und sollen wir alle zu Elon Musks werden? Nein. Aber wir alle müssen uns in unserer sich schnell verändernden Welt Fähigkeiten aneignen, die es uns ermöglichen, agiler zu handeln und innovative Ideen umzusetzen“, so Wilkinson.

Die Nachfrage scheint gegeben: Allein 2017 gaben bei ­einer ­Umfrage des österreichischen Hernstein Institut für Management und Leadership 50 % der ­befragten Führungskräfte in Österreich und Deutschland an, dass ­Innovation und Kreativität Teil der eigenen ­Unternehmensstrategie seien; 29 % davon gaben gleichzeitig jedoch zu, dass neuartige Ideen bereits in ihrer Umsetzung scheitern. „Die meisten Unternehmen haben gute Ideen, wissen jedoch nicht, wie sie diese implementieren und skalieren sollen“, so Wilkinson. Ingenuity soll hier Abhilfe schaffen.

Als wesentlichen Faktor für Innovation nennt Susan Wojcicki, die bei Google als 16. ­Mitarbeiterin an Bord kam und seit 2014 ­Youtube als CEO führt, die Einstellung zu Misserfolg. Scheitern ist ausdrücklich erlaubt, insofern danach aus den Fehlern gelernt wird. Auch Bestsellerautor Steven Johnson erklärt in seinem Buch „Where Good Ideas Come From“, wie wichtig es ist, Fehler zu machen.

Doch diese Einstellung ist es, worin sich die USA und Europa massiv unterscheiden. Wilkinson: „In den USA lieben wir es, wenn jemand mit aller Kraft versucht, etwas auf die Beine zu stellen. Scheitert die Person, kann sie erneut beginnen. In Europa ist Scheitern hingegen mit einem größeren Stigma versehen: Wer nicht erfolgreich ist, wird gesellschaftlich sanktioniert.“

Als einen Grund, warum die Kultur des Scheiterns in den USA etabliert zu sein scheint und in Europa auf Ablehnung stößt, nennt Wilkinson die strukturellen Gegebenheiten der Länder – denn während in den meisten Ländern Europas höhere Bildungseinrichtungen und das Gesundheitssystem kostenlos zugänglich sind, existiert in den USA ­dieses Sicherheitsnetz weniger. „Es ist wie bei einer Dinnerparty: Während in Euro­pa jeder seine Mahlzeit bereits auf seinem Teller hat, steht in den USA das Essen in der Mitte des Tisches und der eigene Teller ist leer – man muss aktiv handeln, um etwas abzubekommen“, erzählt Wilkinson.

Im internationalen Vergleich schneidet Europa – und da vor ­allem Zypern, Italien und Deutschland – schlecht ab, was Gründungen angeht. Laut dem Report Global Entrepreneurship Monitor 2018/19 gründete beispielsweise in Deutschland nur jeder 20. ein Unternehmen, in der Schweiz etwa nur jeder 13. – im Gegensatz zu den USA, wo jeder Siebte ein Unternehmen gründete.

Geht es nach Wilkinson, muss auch gar nicht jeder zu einem Gründer werden, um Entrepreneur zu sein. Vielmehr geht es ihr um die Entfaltung des Potenzials der Mitarbeiter großer Konzerne. Und so steht für sie in Zukunft auch nicht die Beratung von Start-ups, sondern jene großer Konzerne im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Sie will Hindernisse zur Umsetzung innovativer Konzepte beseitigen – damit große Innovationen in Zukunft nicht nur in Garagen, sondern auch in Großkonzernen entstehen.

Text: Andrea Gläsemann
Foto: Kilian Kessler

Der Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2020 „Radical Change“ erschienen.

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