Große Künstlerinnen und die Herausforderungen der modernen Kunstgeschichte

Im Jahr 1971 stellte die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin in einem bahn­brechenden Essay die Frage: „Why have there been no great women artists?“ – um darauf hinzuweisen, wie wenige Künstlerinnen in der Kunstgeschichte vertreten sind. Seitdem hat sich freilich viel getan, und zahlreiche Wissenschaftler haben, auf den Arbeiten Nochlins und ihrer Kollegen aufbauend, eine Reihe „großer Künstlerinnen“ in die Kunstgeschichte eingeschrieben – man denke da an Louise Bourgeois, zum Beispiel, Artemisia Gentileschi oder Hilma af Klint.

Hinzuzufügen wäre noch, dass auch die weiteren Umstände, die über Erfolg oder Misserfolg von Künstlerinnen entschieden, direkt angesprochen wurden: die strukturellen Ungleichheiten, die oft dazu führten, dass Frauen in ihrem Leben künstlerische Karrieren „verpassten“.

Tatsächlich liegt das Problem, „great women ­artists“ zu finden, oft nicht so sehr in den Hindernissen, mit denen Künstlerinnen selbst zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts konfrontiert waren (obwohl es natürlich gesellschaftliche Erwartungen und andere Einschränkungen zu überwinden galt), sondern an der Kunstgeschichte selbst: Nicht zuletzt durch das „Verschwinden“ vieler Kulturschaffender aus der europäischen Kunstszene während des Zweiten Weltkriegs geprägt baut sie nach wie vor auf einem künstlerischen Kanon auf, der auf einem Modellbild des männlichen, westlichen Künstlers basiert.

Abgesehen von Figuren wie Frida Kahlo, die heut­zutage regelrechte Pop-Ikonen sind, spielt die feminis­tische Kunstgeschichte eine wichtige Rolle, indem sie die Rolle von Künstlerinnen und den Medien, in denen sie arbeiteten, zu überdenken versucht. Ein ­wichtiger Teil davon ist die Abkehr von der Vorstellung von Genies wie Pablo Picasso, die (angeblich) über ein „angeborenes Talent“ verfügten. Anstelle dieses Genie-Denkens betonen neuere Ansätze der Kunstgeschichte ein Verständnis von Künstlern als Menschen, die weitgehend von ihrem sozialen Umfeld geprägt sind und darauf reagieren. Dies hat zu einem neuen Verständnis von kreativer Arbeit und Innovation beigetragen, das auch neue Persönlichkeiten in die Kunstgeschichte einbringt.

Die in Prag geborene Fotografin Lucia Moholy prägte maßgeblich das Bild der berühmten Bauhaus-Kunstschule. Doch ihr Fokus auf dokumentarische Praktiken sowie ihre lange nicht anerkannte Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann, dem Avantgarde-­Künstler László Moholy-Nagy, erzählen die Geschichte einer Künstlerin, die nicht nur als Fotografin tätig war, sondern auch vielen verschiedenen Berufsfeldern (z. B. Pflegearbeit) und anderen Be­schäftigungen nachging bzw. nachgehen musste.

Künstlerinnen konnten und können es sich oft nicht leisten, einfach nur „Kunst zu machen“, daher ist Multivalenz entscheidend. Teil der Karrieren vieler Künstlerinnen war die Notwendigkeit, medienübergreifend zu arbeiten – dazu zählen zum Beispiel Anni Albers und Sophie Taeuber-Arp, die eine Meisterweberin, die andere bekannt für ihre Marionetten. Grob ausgedrückt: Über Malerei und Bildhauerei hinauszudenken ermöglicht die „Wieder­entdeckung“ einer Reihe von Künstlerinnen.

Wenn wir vierzig Jahre später auf Nochlins Frage zurückkommen, können wir mit Sicherheit sagen,
dass „great women artists“ überall sind. Um dies jedoch zu erkennen, muss sich unser Verständnis weiter­entwickeln und über eine Kunstgeschichte hinaus­gehen, die „great artists“ und limitierte Medien als
den Maßstab „großer Kunst“ nehmen.

Julia Secklehner
Kunsthistorikerin
Masaryk Universität Brno

Forbes Contributor

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