GUTER BÜRGER, SCHLECHTER BÜRGER

Eine Zukunft, in der jede Handlung aufgezeichnet und bewertet wird: Was oft als Dystopie dargestellt wurde, ist in China bereits Realität. Ist mein Gegenüber ein guter oder ein schlechter Bürger? Dazu reicht dort ein Blick auf den jeweiligen Social Score. Doch kann ein solches System sinnvoll sein? Und welche Rolle spielt die Blockchain-Technologie in diesem Szenario?

Verträumt blickt Lacie auf ihr Smartphone und scrollt sich durch die neuesten Mitteilungen. Sie merkt, dass neben ihr am Tisch Jack steht, um ihr den Kaffee zu servieren. „Hier bitte schön, Lacie“ – neben Jack bildet sich ein Hologramm, das besagt: 3,7 von 5 Punkten. Eine spezielle Linse auf Lacies Augäpfeln ermöglicht es ihr, Jack und dessen Punktestand in Millisekunden zu identifizieren.

In dieser Szene aus der Science-Fiction-Serie „Black Mirror“ aus dem Jahr 2016 lebt Lacie Pound, gespielt von Bryce Dallas Howard, in einer Welt, in der Menschen aufgrund ihrer Alltagshandlungen bewertet werden, und deren Punktestand für jeden ersichtlich ist. Somit wird eine vermeintlich perfekte Welt erschaffen, in der sich alle an vorgegebene soziale Normen halten.

Diese Vorstellung ist gar nicht so weit hergeholt. In der Volksrepublik China wird im Auftrag der Regierung seit 2015 an einem Sozialkreditsystem gearbeitet, das sich genau dies zum Ziel gesetzt hat. Anders als bei der Credit History in den USA oder dem Schufa-Score in Deutschland, wird in Chinas System nicht nur die Kreditwürdigkeit einer Person erfasst, sondern auch ein soziales Verhaltensprofil erstellt. Doch nicht nur in China, auch in afrikanischen Staaten gewinnen Ratingsysteme an Bedeutung, so etwa in Ruanda.

Die staatliche Initiative Ubudehe dient zur Ermittlung des Haushaltseinkommens. Dieses wird bewertet und in verschiedene Kategorien eingeteilt. Weit umfassender ist jedoch das chinesische System. Hierbei fließen Informationen über das Handeln in sozialen Medien, Mobilitätsabläufe sowie Daten über Käufe, die man online tätigt, in das Benutzerprofil mit ein. Datenbanken von privaten und staatlichen Institutionen werden verknüpft, um so ein umfassendes Profil jedes Einwohners erstellen zu können. Nicht nur Bürger, sondern auch Unternehmen und staatliche Einrichtungen werden bewertet. Das System wird seit 2020 in ausgewählten chinesischen Städten getestet.

Die Idee: Menschen und ihr Verhalten in einer einzigen Zahl darzustellen, um zu ermitteln, ob sie gute oder schlechte Bürger sind. Zeigt die Person ein wünschenswertes Verhalten, etwa das fristgerechte Zahlen der Steuern, wird die Punktzahl erhöht. Ist ein Bürger jedoch im Verzug mit seiner Miete oder läuft bei Rot über die Straße, werden Punkte abgezogen. „Die Kommunistische Partei Chinas (KP) unter Xi Jinping erhofft sich dadurch Kontrolle über die Bevölkerung und ihr Handeln und einen noch stärkeren Einfluss auf das Leben der 1,4 Milliarden Chinesen, die in dem Land leben“, so Alex Gladstein, Chief Strategy Officer der Human Rights Foundation (HRF). HRF ist eine in New York ansässige Menschenrechtsorganisation, die 2005 gegründet wurde und es sich zum Ziel gesetzt hat, durch Aufklärungsarbeit und Aktivismus Menschenrechte weltweit zu unterstützen. Gladsteins Schwerpunkt liegt auf dem Potenzial von Technologie für Menschenrechte.

In China wurde ein Social-Scoring-System bereits testweise in mehreren Städten eingeführt.

Das derzeitige System wird auf Provinzebene auf separaten Plattformen betrieben, die von unterschiedlichen Technologieunternehmen und staatlichen Institutionen entwickelt wurden. Darunter Sesame Credit in der gleichnamigen App des Fintech-Unternehmens Ant Group, das die Kreditwürdigkeit und Aktivitäten auf den sozialen Medien überprüft. Auch die People’s Bank of China ist an der Gestaltung des Systems beteiligt. Doch China strebt, laut dem 14. Fünf-Jahres-Plan, der am 11. März 2021 in Peking vorgestellt wurde, eine Vereinheitlichung an: Die in Hangzhou ansässige Firma Hyperchain, die 2016 von einer Gruppe von Computerwissenschaftern der prestigeträchtigen Zhejiang-Universität gegründet wurde, versucht diese Plattformen auf einer einzigen Blockchain-Datenbank zusammenzuführen – die sogenannte „Remin Chain“.

Ist diese Umsetzung von Blockchain nicht ein Widerspruch? Das Konzept der Technologie ist es doch, dezentral fälschungssichere Handlungsketten und Transaktionen abzubilden. Was für den einen ein Werkzeug ist, um sich von Mittelmännern wie Banken zu befreien, kann im Fall Chinas auch dazu verwendet werden, alle Handlungen eines Bürgers oder Unternehmens nachzuverfolgen und für immer zu speichern. „Xi Jinpings Blockchains werden für maximale Kontrolle stark zentralisiert sein und sind als Werkzeuge für verbesserte Überwachung gedacht“, so Gladstein.

Blockchain-Technologie könnte als zugrunde liegende Infrastruktur in Kombination mit bereits bestehenden Überwachungstools verwendet werden, um ein solches Sozialkreditsystem voranzutreiben. Dazu gehört auch das dichte Netz an Überwachungskameras vielerorts in China. Laut einer Prognose des österreichischen Instituts für Höhere Studien (IHS) sollen bis Ende 2021 eine Milliarde Kameras in Chinas Städten installiert werden. Ein weiteres Instrument für die Ermittlung von Informationen über die Bürger sind Smartphone-Applikationen. In Europa etwa nutzt man Whatsapp, um eine Nachricht zu schreiben, Instagram, um ein Bild zu posten und Uber, um ein Taxi zu bestellen. In China hingegen findet man all diese und weitere Anwendungen in einer einzigen App – „WeChat“. Eine weitere Komponente ist der digitale Yuan. Ein Thema, das Gladstein ein Dorn im Auge ist: „Hierbei handelt es sich um eine vom Staat geschaffene digitale Währung, die die aktuelle in den kommenden Jahren ersetzen soll. Bargeld wird es nicht mehr geben, durch Blockchain können alle Zahlungstransaktionen in Echtzeit nachverfolgt werden“, so der Aktivist. „Dies könnte sogar zu einer Kontoschließung führen, sollte eine gewisse Punktezahl unterschritten werden.“

Die Gefahren eines solchen Social-Scoring-Modells werden oft diskutiert: Massenüberwachung, Unterdrückung von politischen Gegnern etc. Doch welche Vorteile könnte die Blockchain auf ein Rating-System generell haben? Genau das hat eine Forschergruppe der Binghamton University untersucht: Das System könnte ein effizienter Ansatz werden, um das Vertrauen in öffentliche Organisationen, Unternehmen und Regierungsbehörden sowie in die Gesellschaft allgemein zu stärken.

Demnach ermöglicht es Regierungen, Unternehmungen und Einzelpersonen, kritische Entscheidungen aufgrund von analytischen Daten statt Meinungen zu treffen. Wird ein solches System jedoch zentralisiert eingesetzt und von nur einer oder einer kleinen Anzahl von Institutionen kontrolliert, kann es jedoch zu Problemen kommen. Private Daten könnten missbraucht werden und es fehlt an Transparenz. Zusätzlich sind traditionelle Kreditsysteme auf einer zentralen Architektur aufgebaut, die fehleranfällig ist, da sie nur einen Knotenpunkt besitzt. Hat dieser eine Störung, setzt das ganze System aus. In Kombination mit Blockchain könnten diese Probleme jedoch behoben werden. Das System ist, sofern es die Regierung eines Landes zulässt, dezentral und transparent aufgebaut. Bürger könnten tatsächlich an ihrer Kreditbewertung teilnehmen und diese nachvollziehen, statt sich auf Kreditwürdigkeitsdaten einer zentralen Instanz zu verlassen.

Ob und wie China und andere Regierungen Blockchain nutzen, um Social Scoring einzusetzen, wird sich erst zeigen. Denn während die technologischen Möglichkeiten dabei schon durchaus ausgereift sind, müssen die Länder dieser Welt auch die Akzeptanz der Bevölkerung berücksichtigen.

Text: Luca Ioannis Anastassopoulos
Illustration: Michael Mayr

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 6–21 zum Thema „NEXT“.

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