HERR WEIDEMANN NIMMT ABSCHIED

Günter Weidemann lebt das Gegenteil von dem, was man unter „verfrühtem Ruhestand“ versteht: Der Gründer und Geschäftsführer von Schollglas, einem Hersteller für Spezialglas, ist 86 Jahre alt – und noch immer täglich von 7 bis 20 Uhr im Unternehmen. Nun läutet er den Generationenwechsel ein. Gelingt der Abschied?

Das unternehmerische Herz des Mittel­ständlers Schollglas schlägt in einem drögen In­­dustriegebiet: Barsinghausen, Region Hannover, Postleitzahl 30890, gut 34.000 Einwohner. In der Nähe einer Shell-Tankstelle und des Lidl-Supermarkts findet sich der 80er-Jahre-Bau der Schollglas Holding und Geschäftsführungs GmbH. Das Unternehmen hat sich auf Glas fokussiert – stellt also Isolierglas, Sicherheitsglas und Spezialglas her. Schollglas, dessen alleiniger Gesellschafter der 86-­jährige Günter Weidemann ist, erwirtschaftet rund 250 Millionen € Umsatz pro Jahr. In einem Alter, in dem andere Menschen froh über die Rente sind, auf Weltreise gehen oder ihr Handicap auf dem Golfplatz verbessern, arbeitet Weidemann täglich von 7 bis 20 Uhr.

Als wir Weidemann im Konferenzraum treffen, ist die Coronakrise in Deutschland noch kein Thema. Was folgt, ist daher erst mal ein Händedruck, der erstaunlich fest ist. Günter Weidemann hat einen aufmerksamen Blick – und beginnt ein langes Gespräch über Spezialglas, Wandel, Nachfolger und Stiftungen. Ist Weidemann nun endlich bereit für die Rente? Und was bedeuten die Themen Nachfolge, Rente und Abschiednehmen ­überhaupt – mitten in der Coronakrise?

Einige Wochen nach dem Interview ­befragen wir Weidemann zum Ausbruch der Pandemie und dazu, wie sich die Situation für sein ­Unternehmen verändert hat. Auch für Schollglas hat sich die Welt innerhalb weniger Wochen auf den Kopf gestellt: „Wir befinden uns im Ausnahmezustand. Die Pandemie zwingt uns, vieles auf den Prüfstand zu stellen, und bringt Aufgaben mit sich, mit denen wir uns noch nie beschäftigt haben. Die Auswirkungen für unsere Branche werden erst noch auf uns zukommen. Niemand weiß, wie sich die Lage weiterentwickelt.“ Weidemann rechnet auch damit, dass die Krise das Unternehmen längerfristig beschäftigen wird: „Fest steht, dass die Pandemie deutliche Spuren in der Wirtschaft hinterlassen wird. Es zeichnet sich ab, dass nicht alle Firmen diese enormen Belastungen bewältigen werden. Die Wettbewerbssituation wird sich ändern. Einschneidende Maßnahmen sind nötig, um in den wirtschaftlichen Abläufen Gegenmaßnahmen in die Wege zu leiten.“

Wer Weidemanns Werdegang verstehen will, muss ins Jahr 1969 zurückblicken. Damals verkaufte der Bielefelder Glasgroßhändler Scholl sein Geschäft an den jungen Günter Weidemann. „Für die Selbstständigkeit brauchte ich einen Großhandelsladen, der schon lange Zeit existierte“, schildert der 86-Jährige. Dadurch kann der Aufsteiger direkt Glas von der Industrie kaufen. 50 Jahre später arbeiten für die Unternehmensgruppe Schollglas 1.500 Mitarbeiter an 15 Standorten; alleine in Barsinghausen sind es 138. Die Glasindustrie in Deutschland erwirtschaftet rund zehn Milliarden € Umsatz pro Jahr.

Was Schollglas auszeichnet: innovative Produkte, etwa das neue „Gewe-Com Connect“, ein Glas, das Mobilfunkstrahlung passieren lässt. Diese Scheiben werden gerade an die Deutsche Bahn verkauft, die damit in Zukunft ihren Reisenden besseren Empfang in den Zügen bieten will. Weidemanns Stärke ist das Erkennen von Chancen. Bei der Verleihung der Goldenen Ehrennadel der Stadt Barsinghausen im Jahr 2016 spielt der Laudator, der Barsinghausener Bürgermeister Marc Lahmann, darauf an: „Gründer sind erfolgreich, weil sie Marktlücken nutzen und sehr wendig sind. Sie treffen schnelle Entscheidungen und gehen Risiken ein.“ Ein Beispiel: Als Weidemann bemerkt, dass die Weißwarenhersteller in ihren Kühlschränken einfache Glasböden einsetzen, schlägt er dem Produzenten Liebherr vor, doch lieber bruchsicheres Glas zu nutzen. Die Idee kommt dort zunächst nicht gut an, lebt man doch auch vom Verkauf von Geräten nach Glasbruch – heute sind die Sicherheitsgläser Industriestandard. 2003 erhält Schollglas den Innovationspreis der deutschen Wirtschaft für neue Zugfenster beim Notausstieg. Diese werden bei der Deutschen Bahn in den ICEs verbaut und sichern den raschen und gefahrlosen Ausstieg. „Meine Mit­arbeiter haben an der Erfindung maßgeblichen Anteil“, so Weidemann.

Günter Weidemann
... übernahm im Jahr 1969 den Bielefelder Glasgroßhändler Scholl und gründete aus diesem heraus die Schollglas GmbH. 50 Jahre später ist Weidemann alleiniger Gesellschafter der Unternehmensgruppe Schollglas, die heute mit ihren 1.500 Mitarbeitern rund 250 Millionen € Jahresumsatz erwirtschaftet.

Bei seinem Team achtet Weidemann auf eine gute Mischung. In der Image­broschüre der Firmengruppe steht: „Die Kombination aus Angestellten mit langer Erfahrung und dem frischen Wind junger Berufs­einsteiger treibt die Firma voran.“ Wie in den meisten KMUs ist die Nachfolgeregelung auch bei Schollglas eine Herausforderung: „Ich habe es mehrfach versucht – ich fahnde seit Jahren nach einem passenden Geschäftsführer, habe auch einige eingestellt.“ Die logische Idee, die Nachfolge familiär zu regeln, ist bei Schollglas schon lange keine Option mehr: 1996 stirbt Weidemanns ein­ziger Sohn bei einem Autounfall. „Er wäre der offizielle Nachfolger gewesen“, sagt Weidemann heute nachdenklich.

Die Anzahl verschlissener Beinahe-Erbfolger, die landesweit per Personalberatung gesucht wurden, ist indes beachtlich. Zwei der heutigen Geschäftsführer sind zwar seit über 30 Jahren an Bord, mit weiteren Managern ist es aber problematisch. Im Handelsregister finden sich über 15 Einträge von Personen, neben deren Namen „nicht mehr Geschäftsführer“ steht, weil sie aus der Position ausgeschieden sind. Sind die Ansprüche zu hoch? „Auf dem Papier klingt es immer hervorragend, was die Aspiranten bieten – aber in der Praxis versagen sie.“ Spricht man Weidemann auf Kritik an, die ehemalige Mitarbeiter im Netz auf Bewertungsplattformen wie Kununu hinterlassen, ist er überrascht: „Davon weiß ich nichts. Möglich, dass das jene ehemaligen ­Protegés sind, die ich sehr schnell wieder kündigen musste.“

 

Schollglas in Zahlen
(Quelle: Schollglas, Statista)

Im Unternehmen selbst ist von Kritik wenig zu spüren. Jeder, dem man an diesem Tag begegnet, zollt dem Chef Anerkennung. Da werden Hände geschüttelt, kleinste Anweisungen sofort ausgeführt – und dennoch scheint über die Flure keine Angst zu wehen. Vielleicht auch wegen Weidemanns Fähigkeit, eigene Fehler zu korrigieren: 2001 wird die Schollglas-Unternehmens­gruppe an einen Finanzinvestor verkauft. „Doch wie bei diesen Leuten üblich, steht nach sechs bis sieben Jahren ein Weiterverkauf an“, erinnert sich der 86-Jährige. Der nächste Käufer hätte „viele Bereiche sofort in seine Zentrale verlagert. Das konnte ich nicht zulassen, denn mein Herz hing zu sehr am Unternehmen.“

Er will damals die Mitarbeiter, die „seit 20, 30, 40 Jahren für mich arbeiten“, nicht im Stich lassen. 2007 kauft der wohl älteste noch ­aktive Manager Deutschlands dem Finanzinvestor die Anteile wieder ab – um deutlich mehr Geld. „Betriebswirtschaftlich gesehen war das mein schlechtestes Geschäft“, sagt Weidemann. Doch wie bringt man so eine Firmengruppe sicher in die Zukunft, jetzt, wo sich alles um Corona dreht? „Für die Bewältigung dieser Krise ist das eigene Handeln sowie die Bereitschaft, sich mit den Problemen intensiv auseinanderzusetzen, ausschlaggebend. Ich habe von Anbeginn sparsam gewirtschaftet. Aus diesem Grund verfügen wir über ein sehr solides Fundament. Dennoch wird die Belastung für uns sehr hoch sein, denn wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Niemand kann die zukünftige Entwicklung der Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft zum heutigen Zeitpunkt endgültig einschätzen“, so Weidemann.

 

Nachfolger gesucht
(Quelle: Institut für Mittelstandsforschung in Bonn)

2010 kamen Weidemann und seine mittlerweile verstorbene Ehefrau dann auf eine Idee: Die beiden gründeten die „Schollglas Stiftung Brigitte und Günter Weidemann“. Sie soll nach Weidemanns Tod als Eigentümerin des Unternehmens fungieren, ihr Zweck ist die Förderung und Schaffung von Arbeitsplätzen, der Erhalt des Unternehmens hat oberste Priorität. Gefragt ist auch eine „kompetente Geschäftsführung mit einem erfahrenen Beirat als Aufsichtsorgan“. Der Plan: Die Geschäftsführung soll „maßvoll und gewissenhaft nach vorne marschieren“. Ist Weidemann in Rente, mutiert der Beirat zum Stiftungsvorstand.

Laut der Hannoverschen Allgemeinen gibt es alleine im Land Hannover etwa 20.000 Stiftungen, etwa 5 % davon sind Träger einer Firma oder verfolgen unternehmensnahe Ziele – so engagieren sich Stiftungen bei Konzernen wie Bosch, Bertelsmann, Fresenius, Haribo oder Carl Zeiss. Tom A. Rüsen, geschäftsführender Direktor des Insti­tuts für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke, sagt: „Wenn es keine Nachfolger gibt, ist die Idee einer Stiftung gut, um die Zukunft zu regeln – denn sie ist ein ‚unsterbliches Familien­mitglied‘ und sorgt für Kontinuität.“

Das Thema beschäftigt nicht nur Schollglas. Laut dem Institut für Mittelstandsforschung in Bonn werden alleine in Deutschland im Zeitraum von 2018 bis 2022 rund 150.000 Familienunternehmen mit 2,4 Millionen Beschäftigten die Nachfolge klären müssen. Geschätzte 53 % der Unternehmen werden innerhalb der Familie weitergegeben, 18 % von Mitarbeitern übernommen, 29 % an ­Externe verkauft. Weidemann ist von seinem Plan überzeugt: „Eine Stiftung hat Ewigkeitswert. Diese Firma kann Hunderte Jahre bestehen, denn Glas wird immer nachgefragt. Es liegt jetzt an den Mitarbeitern, das, was ich hinterlasse, zu erhalten.“

Text: Matthias Lauerer
Fotos: Mario Wezel

Der Artikel ist in unserer Mai-Ausgabe 2020 „Geld“ erschienen.

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