HÖLLENRITT

Ein ungeordneter Austritt der Briten aus der EU erscheint immer realistischer. Was kann Guy Verhofstadt, Chefunterhändler des Europäischen Parlaments für den Brexit, hier noch bewegen?

Einen gewissen Sarkasmus konnte er sich dann doch nicht verkneifen – wenngleich auch eine gehörige Portion Frustration mitschwang, als Guy Verhofstadt seine Gedanken über die Brexiteers, also jene Politiker, die den Brexit initiierten, via Twitter mitteilte: „Well, I doubt Lucifer would welcome them, as after what they did to Britain, they would even manage to divide hell (mit lachendem Smiley, Anm.).“ Der Tweet war an die Kurznachricht des Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, angelehnt, der sich öffentlich gefragt hatte, ob in der Hölle nicht ein Platz für die Brexit-Befürworter reserviert sei. Verhof­stadt heizte damit die ohnehin schon angespannte Situation rund um die Brexit-Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union noch einmal an. Der britische Parlamentsabgeordnete der Tories Bob Seely warf dem Belgier auf Twitter Überheblichkeit vor. Auf einer Pressekonferenz in Brüssel ließ der Chefunterhändler des Europäischen Parlaments eine Nachfrage zu seinem Tweet unbeachtet.

Ein fester Standpunkt

Dabei ist Stille eigentlich nicht Verhofstadts Art. Im Gegenteil: Seit 2009 setzt sich der Leiter der Allianz der Liberalen und Demokraten für ­Europa (ALDE) lautstark für ein geeintes, starkes, modernes Europa ein. Bereits 2006 schrieb er in einem Buch von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Verhofstadts emotionale Parlaments­reden sind viel beachtet, insbesondere EU-Skeptikern ist er ein unangenehmer Gegenspieler. Im Juli 2015 griff er im Rahmen der Griechenland­krise den griechischen Ministerpräsidenten ­Alexis Tsipras scharf an, überfällige Staatsreformen endlich umzusetzen; als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban im April 2017 ins Brüsseler Parlament kam, kritisierte ihn Verhofstadt für den Demokratie­abbau im Land.

Zuletzt hielt Verhofstadt jedoch der für 29. März 2019 geplante Austritt der Briten aus der EU auf Trab. Der ehemalige Premierminister ­Belgiens wurde im September 2016 zum Chefunterhändler des Europäischen Parlaments für den ­Brexit ernannt. Er ist Leiter der sechsköpfigen „Brexit Steering Group“, die Beratungen und Entschließungen des Parlaments zu diesem Thema koordiniert. Die Verhandlungen für die ­Europäische Kommission – und damit mit „einer Stimme“ der EU-27 – führt der Franzose Michel Barnier. Verhofstadt wird nicht müde zu betonen, dass der Brexit ein Fehler Großbritanniens ist. Das Austrittsabkommen („Withdrawal Agreement“) nach mehr als zweijähriger Verhandlungsphase durch die Zielgerade zu bringen erweist sich als schwierig. Premierministerin und Tory-Parteiführerin Theresa May wurde Mitte Januar bei einer Abstimmung im House of Commons historisch abgestraft. Innenpolitisch herrscht rund um die Labour Party und die Tories Uneinigkeit darüber, wie die zukünftige Beziehung zur EU aussehen soll.

Die britischen Hardliner fordern von May rechtlich bindende Nachbesserungen beim Austrittsabkommen – die EU weist Neuverhandlungen jedoch zurück. In Brüssel und London kann nur spekuliert werden: Entweder Großbritannien tritt auf Basis des ausverhandelten Abkommens aus, oder es kommt zu einem „harten Brexit“, also einem ungeregelten Austritt ohne Vertrag. Auch eine Verlängerung der Frist ist möglich; oder eine zweite britische Volksabstimmung. In Brüssel bereitet man sich jedenfalls (auch) bereits intensiv auf den Worst Case, ein No-Deal-Szenario, vor. Das hätte zur ­Folge, dass Großbritannien mit 29. März nicht mehr Mitglied im EU-Binnenmarkt und der Zollunion ist (bis dato war eine Übergangsfrist bis 31. Dezember 2020 geplant, um sich wirtschaftlich vorbereiten zu können).

Foto: Aktenmappe mit Aufschrift "BREXIT"

Verhofstadt hat Erfahrung

Während des Interviews wirkt Verhof­stadt aber alles andere als hektisch. Vielmehr spricht der Brexit-Koordinator in seinem Büro in ­Brüssel angeregt über die verschiedenen Aspekte der Verhandlungen sowie mögliche Lösungs­wege. Das Büro ist schlicht eingerichtet, eine Vielzahl an Büchern ist in einem Regal an der Wand untergebracht, auf seinem Schreibtisch stapeln sich dicke Mappen. „Ich kann nicht sagen, was in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird“ – ­Verhof­stadt probiert erst gar nicht, Versprechungen zu machen. „Das Austrittsabkommen liegt auf dem Tisch, wie auch die Erklärung der zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten ­Königreich und der EU (diese ist Teil des gesamten Abkommens, jedoch nicht rechtsverbindlich ausgestaltet, Anm.). Unser Gefühl ist: In ­Großbritannien gibt es derzeit keine ernsthaften Versuche, eine Einigung zu erzielen.“

Verhofstadt ist ein Mann klarer Worte, seine Anliegen artikuliert er mit Nachdruck. So sieht er nicht nur die Rolle Großbritanniens im Rahmen der Brexit-Verhandlungen kritisch, er schreckt auch nicht davor zurück, die „eigenen Reihen“ – die EU – zu tadeln: Vergangenen Sommer be­zeichnete er etwa den Brexit als ein „Versagen“ der EU – immerhin spalte sich damit die zweitgrößte Volkswirtschaft von der Union ab.

Erste politische Erfahrungen ­sammelte ­Verhofstadt, der 1953 geboren wurde, zwischen 1972 und 1974 als Vorsitzender der flämischen Vereinigung liberaler Studenten. Das Studium der Rechtswissenschaften schloss er 1975 an der Universität Gent ab. Seine politische Karriere ging stets bergauf: 1992 wurde Verhofstadt Vorsitzender der Flämischen Liberalen und Demokraten (VLD), 1999 belgischer Premierminister, welcher er bis März 2008 blieb. 2009 wechselte er als Fraktionsführer der Liberalen ins Europäische Parlament. Großen Trennungsschmerz hatte er nicht – Verhofstadt sieht sich mehr als Europäer denn als Belgier.

Geschätzte Anzahl der Arbeitsplätze, die bei einem harten Brexit gefährdet sind (Quelle: Statista)

Schwerwiegende Folgen?

Was ein (harter) Brexit für Großbritannien und Europa und insbesondere die Wirtschaft der jeweiligen Regionen tatsächlich bedeuten würde, wird in Studien vielfach behandelt. Fakt ist, dass der Austausch von Waren und Dienstleistungen mit dem Wegbrechen des EU-Binnenmarkts und der Zollunion Handelshemmnissen unterstehen würde; Großbritanniens Exporte in die EU machten 2017 rund 188,5 Milliarden € aus. Darüber hinaus würden die vier Grundfreiheiten in der EU (Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital) im Verhältnis zueinander nicht mehr gelten. Einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zufolge könnten im Fall eines harten Brexits alleine in Deutschland mehr als 100.000 Jobs wegbrechen, in ­Frankreich wären rund 50.000 Arbeitnehmer betroffen. Bereits vergangenen November ­veröffentlichte die britische Regierung Daten zum Brexit: Sollte das ­Brexit-Abkommen von Premierministerin May umgesetzt werden, würde das BIP von Großbritannien in 15 Jahren um bis zu 3,9 Prozent geringer ausfallen, bei einem harten Brexit wären es sogar 9,3 Prozent. Doch die wahrscheinlich größte Herausforderung liegt darin, die Versorgungssicherheit des Vereinigten Königreichs aufrechtzuerhalten: Laut der deutschen Wochenzeitung Die Zeit müssten etwa jene Lkws, die am britischen Hafen in Dover ankommen, kontrolliert werden, da Großbritannien nicht mehr Mitglied der Zollunion und auch nicht mehr Teil des Binnenmarktes wäre. 99 Prozent der dort fahrenden Lkw befördern Waren in die EU.

Der japanische Autobauer Nissan teilte mit, die neue Version des SUVs X-Trail nicht in Großbritannien bauen zu wollen, Ford zieht seine Produktion gänzlich aus dem Vereinigten ­Königreich ab. Die US-amerikanische Automarke ist immerhin die meistverkaufte in Großbritannien, das Land stellt den drittgrößten Markt der Amerikaner dar. „Das (No Deal, Anm.) wäre sicherlich eine schlechte Sache für alle – für Europa und für Großbritannien. Es würde in verschiedener Hinsicht ein Durcheinander bedeuten. Darüber hinaus müssen wir die sogenannten ,Notfallmaßnahmen‘ ergreifen, um die Störungen zu begrenzen, die durch einen No-Deal-Brexit entstehen“, sagt Verhofstadt. Seine Hoffnungen auf ein zumindest zufriedenstellendes Brexit-Ergebnis beruhen darauf, dass sich das englische Parlament einen Schritt nach vorne bewegt: „Es wäre hilfreich, wenn das britische Parlament eine Mehrheit sucht – für etwas. Damit wir wissen, was sie wollen.“ Was eine Mehrheit der britischen Abgeordneten jedenfalls nicht will, ist der sogenannte „Backstop“. Diese Vertragsklausel solle im Zuge von Neuverhandlungen gestrichen und ersetzt werden.

Foto: Guy Verhofstadt

Die großen „Matches“

Dabei handelt es sich um eine Auffanglösung, die eine harte Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland ausschließen soll. Tritt das Vereinigte Königreich ungeregelt aus der EU aus, würden zwischen den Iren und Nordiren Zölle auf Waren anfallen, die Grenzen müssten von Wachbeamten kontrolliert werden. Alte politische Konflikte könnten wieder aufflammen, was die EU verhindern will. Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange in der Zollunion mit der EU bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist. Außerdem sollen in Nordirland weiter einige Binnenmarktregeln gelten. Die Brexit-Anhänger hingegen fürchten, hierdurch zu eng an die EU gebunden zu bleiben. „Es gibt viele mögliche Szenarien für eine tiefgehende Beziehung zwischen der EU und Großbritannien. Es könnte sich um eine Zollunion oder um eine europäische Beteiligung der britischen Bevölkerung am Europäischen Wirtschaftsraum handeln. Mit dieser gelösten Beziehung wird hauptsächlich die Verwendung des Backstop verhindert“, so ­Verhofstadt. Angesichts des Festhaltens der EU am Backstop ­erscheinen Neuverhandlungen so gut wie ausgeschlossen. Einziges „Entgegenkommen“ ist, die zuvor erwähnte politische Erklärung nun rechtsverbindlich ausgestalten zu wollen. Theresa May hält dennoch eisern an ihrem Plan fest, das ­Vereinigte Königreich am 29. März aus der EU zu manövrieren.

Seit dem 17. Juni 2017 wird verhandelt – über eine hochkomplexe, sensible Materie. Persönlich frustriert ob der vielen Kehrtwenden ist Verhofstadt aber nicht: „So etwas habe ich erwartet, als ich zum Koordinator für den Brexit ernannt wurde. Aber ich bin noch immer optimistisch, denn ich denke, dass es in den letzten Wochen vor dem Ausstieg genügend Druck geben wird, Dinge zu tun, die vor einigen Wochen oder Monaten vielleicht unmöglich waren. Ich bin schon lange in der Politik, habe einige schwierige Situationen erlebt.“ Verhofstadts politisches Handeln wird die EU jedenfalls auch in Zukunft mitprägen: Für die kommenden Europawahlen Ende Mai gingen die europäischen Liberalen ein Bündnis mit der Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein. Das Ziel: ein Gegengewicht zu Nationalisten wie Ungarns Premier Viktor Orban oder Italiens Innenminister Matteo Salvini zu bilden. Mit seinen Reden im EU-Parlament, die sich gegen EU-Skeptiker richten, hat sich Verhofstadt wohl schon aufgewärmt für die nächste Partie. Doch die großen „Matches“ werden, auch im Fall des Brexits, noch ausgefochten.

Verhofstadt arbeitet darüber hinaus intensiv an einer Neugründung der EU – und bringt durchaus visionäre Ideen ins Spiel: Die EU-­Kommission soll abgeschafft, eine kleine EU-Regierung installiert und eine Vertragsänderung abgeschlossen werden. Doch damit Europa langfristig wettbewerbsfähig bleibt, braucht es laut Verhof­stadt insbesondere ein (europäisches) Modell für die digitale Welt von morgen: „Wie ist es möglich, dass es unter den 20 größten Internet­unternehmen kein europäisches gibt?“, fragt er. Der digitale Binnenmarkt, um den Transfer von digitalen Waren und Dienstleistungen in der EU zu erleichtern, müsse so rasch wie möglich umgesetzt werden. Eines steht dabei wohl aber fest: Die Briten werden hier kein Wörtchen mehr mitreden können.

Text: Niklas Hintermayer
Fotos: Sander de Wilde

Dieser Artikel ist in unserer Februar-Ausgabe 2019 „Spielen-Wettbewerb“ erschienen.

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