HOLLYWOOD NEU ERFINDEN

Der Streaming-Riese Netflix hat die Unterhaltungsindustrie schon vor der Pandemie auf den Kopf gestellt. Dank einer unorthodoxen Managementkultur hat Gründer und Milliardär Reed Hastings das Unternehmen nun so positioniert, dass es von der Krise profitieren wird wie weltweit nur wenige andere Firmen.

Der Mann, der die ganze Welt unterhält, tut dies – zumindest in diesen Tagen – alleine vor einem Computerbildschirm im minimalistisch ­eingerichteten ehemaligen Schlafzimmer seines Sohnes. In gewisser Weise ist das das perfekte Setting für Reed Hastings, Mitgründer und Co-CEO von ­Netflix, dessen Firma das Konzept von Unterhaltung zu Hause revolutioniert hat. Und während in Holly­wood Erfolg anhand von prächtigen Büros gemessen wird, interessiert sich der analy­tische Hastings eher für die Funktionalität und nicht das Drumherum.

Egal, nach welchen Kriterien gemessen wird: Netflix ist ein globaler Player. Während im Jahr ­der Pandemie viele Firmen in der Unterhaltungsbranche auf den Kopf gestellt worden sind – die lahmgelegten Freizeitparks von Disney, die zurückgestellten Blockbuster von Warner Bros, die geschlossenen Kinos des amerikanischen Kinobetreibers AMC Entertainment –, verbucht Netflix mit 160 Emmy-Award-Nominierungen ­einen Rekord und stellt den lange dominierenden amerikanischen Fernsehprogramm­anbieter HBO in den Schatten. 2020 ist für Netflix ein Erfolgsjahr durch und durch: In den ersten sechs Monaten ­gewann das Unternehmen so viele Neukunden wie im gesamten Jahr 2019. ­Damit ist der Abonnenten­stamm auf fast 200 Millionen Menschen in 190 Ländern ­gewachsen. Das hat sich auch in den Einnahmen ­widergespiegelt: ein jährliches Umsatzwachstum von 25 %, eine ­Gewinnzunahme um mehr als das Doppelte und ein Anstieg des Aktienkurses um 50 %. Die jüngste Marktkapitalisierung liegt bei 213,3 Milliarden US-$. All ­diese Zahlen sind auf eine perfekte Synthese von Holly­wood und dem Silicon Valley zurückzuführen; das inhaltliche Angebot des Unternehmens entsteht dabei aus einem tiefen Verständnis für den Geschmack der Kunden. „Wir wollen grundsätzlich besser darin sein, Geschichten zu schaffen, über die die Menschen reden und die sie ­sehen wollen, als jeder unserer Konkurrenten“, so Hastings gegenüber Forbes.

Reed Hastings
...gründete 1991 mit Pure Software ein Unternehmen, das auf die Überprüfung von Softwarequalität spezialisiert war. Nach dessen Verkauf an Rational Software um 700 Millionen US-$ gründete Hastings 1997 Netflix.

Diesem Ziel nähert er sich zu einer Zeit, in der die Unterhaltungsindustrie ihre ­größte ­Krise – zumindest dieser Generation – erfährt, nun schneller als gedacht. In gewisser Weise ­bereitet sich Hastings, der sich auf der Forbes-400-­Liste mit einem Gesamtvermögen von fünf Milliarden US-$ auf Platz 132 befindet, schon seit zwei Jahrzehnten auf diesen Moment vor.

Bei Netflix geht es darum, ein Team von außergewöhnlichen Talenten aufzubauen. Dafür zahlt das Unternehmen auch das Nötige, um sich diese Talente sichern zu können. Bereits 2003 fing Netflix an, bei der Re­kru­tierung von „Rockstars“ – deren Fähigkeiten be­züglich Coding, Fehlerbehebung und Programmierung wesentlich höher waren als beim Durchschnitt – mit Google, Apple und Facebook zu konkurrieren. Im Gegenzug erwartet das Unternehmen jedoch auch, dass diese „Stars“ ange­messen arbeiten – und das ohne Pause. Auf seinen Lorbeeren ausruhen darf man sich bei Netflix nicht. „Auf durchschnittliche Leistung folgt eine großzügige Abfindung“, schrieben Hastings und Patty McCord, ehemals Chief Talent Officer bei Netflix, in einer Slideshare-Präsentation über die Netflix-Unternehmenskultur.

Joe Exotic und einer seiner Startiger – der Netflix-Dokumentarreihe wurde nach seiner Veröffentlichung auf dem Höhepunkt des Corona-Lockdowns im Frühjahr zu einem großen Erfolg.

Das jährliche Bewertungsverfahren – „360“ genannt – gipfelt in einem Dinner, bei dem in ­kleinen Gruppen konstruktives Feedback gegeben wird. „Das dauert mehrere Stunden“, so ein ehemaliger Manager, der anonym bleiben möchte. „Manche weinen. Dann muss man ­sagen: ‚Danke dafür, das macht mich zu einer besseren Person.‘“ Für Hastings ist das „360“-Bewertungsverfahren eine notwendige Komponente aufgrund der großen Autonomie, die jedem Mitarbeiter gegeben wird. „Normalerweise sind Firmen aufgestellt, um Effizienz zu erhöhen und Fehlerinzidenzen zu reduzieren. Dies führt aber zu Rigidität“, sagt Hastings. „Wir sind ein kreatives Unternehmen. Es ist besser, sich rund um Flexibilität zu organisieren und Chaos tolerieren zu können.“

 

KAPITALRENDITE
(Quelle: ForbesUS)

Hastings’ Kindheit hat es ihm ermöglicht, keine Angst vor Misserfolg zu haben. Sein Urgroßvater mütterlicherseits, ­Alfred Lee Loomis, war Wall-Street-Magnat, der vom Börsencrash 1929 profitierte, in späterer Folge das Geld in Wissenschaft investierte und ein Labor finanzierte, das Berühmtheiten wie Albert Einstein, Enrico Fermi und Ernest Lawrence anlockte. 1991 gründete Hastings sein erstes Unternehmen, Pure Software, das sich da­rauf spezialisierte, die Qualität von Computer­programmen zu messen. Pure Software ging 1995 an die Börse und fusionierte 1996 mit der kleinen, in ­Massachusetts beheimateten Firma Atria Software; später wurde das Unternehmen um 700 Millionen US-$ an Rational Software verkauft. Nach Silicon-Valley-Maßstäben war Pure Software eine Erfolgsgeschichte – Hastings blieb jedoch unzufrieden: Am Anfang war das Unternehmen innovativ, mit der Zeit entwickelten sich aber wie bei jeder anderen Firma Protokolle, um ­Fehler zu vermeiden, anstatt kluge Risiken einzugehen. Im Endeffekt wurden bei Pure Software jene Leute gefördert, die „sich an die Regeln hielten“, so Hastings. Dadurch waren die kreativen Querdenker frustriert und entschieden sich, wo-anders zu arbeiten. Mit diesen Gedanken im Kopf erhielt Hastings eines Tages eine 40-US-$-Mahnung von Blockbuster, weil er den Film „Apollo 13“ nicht rechtzeitig retourniert hatte. Es heißt, Hastings hatte in diesem Moment eine Offen­barung – die Idee zu Netflix entstand.

 

NETFLIX IN ZAHLEN
(Quelle: ForbesUS)

1997 gegründet, wurde Netflix durch seine roten Briefumschläge bekannt, die per Post verschickt wurden; anfangs verdiente das Unternehmen am meisten durch das Verkaufen von DVDs. Die wahre Erfolgsgeschichte startete 1999 mit einem Abonnentenmodell: Kunden konnten bis zu drei Filme ausleihen, ohne festgeschriebenes Retourdatum. Weiters lockte Netflix die Kunden mit einem Gratis-Probemonat – auch wenn das sehr viel kostete. 2007 wurde schließlich durch Breitbandinternet Streaming möglich. Hastings fing an, Geld und technische Ressourcen in etwas zu investieren, das im Wesentlichen eine Gratisleistung für bestehende DVD-Abonnenten war. Es war ein schicksalhafter Moment: Streaming bot ­sofortige Befriedigung, aber Netflix würde aufgrund der Fernsehverträge mit Hollywood nicht in der Lage sein, die gleiche Bandbreite an Inhalten zu er­reichen. Zum ersten Mal musste Hastings den Geschmack der Menschen verstehen und ihnen ein überzeugendes Angebot unterbreiten.

 

STREAMING-TRAUM
(Quelle: ForbesUS)

Die Coronapandemie stellte sich als Test für das Netflix-Modell heraus. Während Film- und Fernsehproduktionen stoppten, arbeitete die globale ­Maschinerie von Netflix weiter. „Eine Tatsache, die wenig bekannt ist, ist, dass wir im Vergleich zum Rest der Branche sehr langfristig im Voraus arbeiten, weil wir alle unsere Sendungen gleichzeitig ver­öffentlichen“, erklärte Ted Sarandos, Co-CEO von Netflix, den Investoren im April. Das Modell hat offenbar funktioniert: Während Kinos geschlossen bleiben, Sportevents nicht stattfinden können und klassisches Fernsehen nur mehr Überbleibsel anbieten kann, konnte Netflix rund eine Million Neuabonnenten pro Monat in den USA und Kanada (­global zwei Millionen) gewinnen. Das Coronavirus hat Streaming endgültig zur dominierenden Plattform für Bewegtbild-Unterhaltung gemacht. „Ich bin sicher, dass unsere Unternehmenskultur uns helfen wird, unsere Kunden besser zu bedienen, als es HBO oder Disney tun“, sagt Hastings. „Weil sie so viele interne Prozesse haben, die alles verlangsamen.“

Text: Dawn Chmielewski/Forbes US
Fotos: Kwaku Alston/Forbes US

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 11/12–20 zum Thema „Security“.

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