Im Reich von König Yotam

Yotam Ottolenghi ist der Guru der Nahostküche – seine Bücher begeistern weltweit Millionen von Hobbyköchen, als Kulinarik-Influencer hat er gewaltigen Einfluss auf den Feinkosthandel. Wie schuf der gelernte Konditor sein globales Imperium?

Ein Gewölbe aus rotem Backstein im Norden von London; über das Dach rattert der Pendlerzug, drinnen klappern Töpfe und Teller. Hier, in der Ottolenghi Test Kitchen (kurz: OTK), entstehen neue Rezepte, hier köcheln, brutzeln und schmoren die Gerichte, die später überall auf der Welt nachgekocht werden. Das „Foodie-Labor“ ist ein heller und freundlicher Raum. In seinem Zentrum findet sich eine mächtige Küche; an den Wänden Designerregale, die mit schweren Büchern gefüllt sind. Auf Arbeitstischen aus hellem Holz findet man neben Schalen und Döschen mit Kreuz­kümmel, Currypulver und Knoblauch auch Macbooks. Es ist ein Ort wie eine Kreuzung aus Start-up und orientalischem Basar – und genau hier pocht das Herz einer globalen Genussmarke.

Yotam Ottolenghi ist ein großgewachsener, höflicher Mann mit graumelierten Bartstoppeln und freundlichem Gesicht. Der 52-Jährige strahlt Ruhe und Lockerheit aus, gekleidet ist er in Sneakers und Pullover. In der Ottolenghi Test Kitchen findet der gelernte Konditor und Pilates-Trainer die In­spiration für seine Kochbücher.

„Zu den wenigen positiven Folgen der Coronapandemie gehört, dass sich mehr Menschen in der Küche an Neues heranwagen und die Freude am Kochen entdeckt haben“, sagt Ottolenghi. Seit fast 20 Jahren ist er im Geschäft. In dieser Zeit sind sein Unternehmen und sein Einfluss stetig gewachsen. Bisher hat Ottolenghi insgesamt sieben Millionen Exemplare seiner diversen Bücher verkauft. Seine Vorträge erinnern an Konzerte eines Rockstars – ins berühmte Opernhaus in Sydney kamen neulich 2.000 Menschen, die für ihr Ticket rund 50 US-$ bezahlten. In London betreibt Ottolenghi vier Restaurants, drei Feinkostläden und einen Catering-Service. Der Firmenumsatz liegt bei jährlich rund 20 Millionen. Doch sein Einfluss auf die Gaumen dieser Welt lässt sich kaum mit Zahlen belegen. Seine Rezepte inspirieren Menschen weltweit: Von Brooklyn über Wien und Berlin bis nach Bahrain kaufen Hobbyköche die Gewürzabteilungen leer, auf der Suche nach klassischen Ottolenghi-Zutaten wie Kaffirlimette, Harissa-Paste oder Granatapfel­melasse. Otto­lenghis Gerichte sind exotisch und überdreht, sie treffen aber den Zeitgeist: oft vegetarisch, international, multikulturell, reichhaltig.

Bei uns gibt es viel Unabhängigkeit und Raum für Ideen. Ich bin kein Manager, der alles kontrolliert.

Harte Monate liegen hinter Ottolenghi, die Lockdowns haben ihn doch mitgenommen. Er selbst erkrankte an Covid, konnte drei Wochen lang kaum das Bett verlassen. „Es war sehr traumatisch“, erzählt Ottolenghi. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas erleben würde. Aber zum Glück sind wir unbeschadet durch die Pandemie gekommen, und das Geschäft hat sich gut erholt.“ Die Zeit, in der er seine Testküche schließen musste, hat er gut genutzt. Er arbeitete an dem neuen Buch „Shelf Love – neue Rezepte aus der Speisekammer“. Der Titel ist ein Wortspiel aus der Liebe zum Küchenregal und der Selbstliebe.

Aus einfachen Zutaten wie einer Dose Kichererbsen, einer Packung gefrorener Erbsen oder einer angebrochenen Tüte Mandeln mit neuen Kochtechniken und klassischen Gewürzen den maximalen Geschmack herauskitzeln – da­rum geht es in dem Buch, das den Auftakt zu einer Reihe bildet. Und so entstanden Rezepte zu Blumenkohl-Käse-Kuchen oder gegrillten Miso-Bananen. Kreativität und Freiheit sind nicht nur in Pandemiezeiten Erfolgsfaktoren in Ottolenghis Unternehmen. „Ich habe bis zu einem gewissen Grad den Überblick, was meine Köche und Restaurants machen. Es gibt viel Unabhängigkeit und Raum für eigenen Ideen und dafür, wie man diese profitabel macht. Ich bin kein Manager, der alles kontrolliert“, erklärt er.

Ottolenghi sieht sich eher als Aufsichtsrat, als einer, der Visionen und Konzepte vorgibt und sich aus dem Klein-Klein des Tagesgeschäfts heraushält. „Ich bin bei allen Entscheidungen dabei, aber wenn man mir eine Excel-Tabelle zeigt, dann kann ich vielleicht 50 % davon verdauen“, sagt er. „Und wenn viele rote Zahlen darauf zu sehen sind, will ich mich am liebsten unterm Bett verkriechen, so nervös werde ich.“ Ohnehin hätte der Israeli mit britischem Pass nie gedacht, dass er einmal der Gründer einer global erfolg­reichen Marke sein würde. „Ich bin kein geborener Unternehmer, ich bin viel zu risikoscheu und vorsichtig“, erzählt er. Das hat sich gezeigt, als er die ersten Restaurants unter seinem Namen eröffnete: Die Expansion bereitete ihm schlaflose Nächte. „Hätte ich nicht Leute um mich, die unternehmerisch begabter sind als ich, hätten wir wahrscheinlich bis heute nur ein Deli in Notting Hill (Gegend in London, Anm.)“, sagt er.

Er ist dennoch stets vorsichtig und zurückhaltend geblieben. Bis heute betreibt er nur in London Restaurants und Delis und hat keine Pläne, außerhalb der britischen Hauptstadt zu expandieren. Andere englische Starköche wie Jamie Oliver oder Gordon Ramsay eröffnen hingegen weltweit Lokale unter ihrem Namen, beide pflegen auch einen gewissen Personenkult. Ottolenghi ist das eher fremd. Er wirkt im Vergleich zu den Big Names seiner Branche bescheiden. Das hat auch mit seiner Biografie zu tun, die von Brüchen und Unsicherheiten geprägt ist.

Ottolenghi wuchs als Sohn einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters in Jerusalem auf und studierte in Tel Aviv Philosophie und Literatur. Als Sprössling eines klassischen Aka­demikerhaushalts – die Mutter arbeitete im Bildungsministerium in Israel, der Vater war Chemieprofessor – strebte er eine Universitätskarriere an und schrieb an der Uni in Amsterdam eine Masterarbeit über Ästhetik in der Fotografie. Seine Bewerbung für ein Doktorandenprogramm in Yale war erfolgreich – dennoch begann er eine Ausbildung als Konditor in der Kochschule Le Cordon Bleu in London. Für das Kochen hatte Ottolenghi sich schon als Student begeistert: Für Studienfreunde in Amsterdam schmiss er grandiose Dinnerpartys mit Gerichten aus seiner Heimat. Schon seine Eltern waren begeisterte Hobbyköche gewesen, von seiner Großmutter, die in Berlin geboren war, lernte er sogar deutsche Klassiker wie Blutwurst und Kohlrouladen. Doch vor allem war es die Hausmannskost des Nahen Ostens, die ihn und seine Freunde am meisten begeisterte – und die der Student auf Reisen im Ausland ver­misste: cremiger Hummus, geröstete Auberginen, luftiges Fladenbrot, Hähnchen gewürzt mit Sesam, Thymian und eingelegten Zitronen.

Die Gourmetküchen in London hatten wenig mit dem Essen seines Herzens und seiner Heimat zu tun. Der raue und militärische Ton hinter den Kulissen der Nobelrestaurants widerstrebte ihm; fast hätte er seine Karriere in der Gastronomie aufgegeben. Doch dann begegnete Ottolenghi dem Palästinenser Sami Tamimi, der ihm einen Job im Deli Baker & Spice verschaffte. Beide hatten Israel auf der Suche nach Abenteuer und Selbstverwirklichung verlassen, beide ver­missten die Küche ihrer Heimat – und so eröff­neten sie 2002 ihr legendäres Feinkostgeschäft
in Notting Hill.

Dass ein schwuler Jude und ein schwuler Palästinenser durch eine gemeinsame Erfolgs­geschichte auch die politischen und kulturellen Gräben ihrer Heimatländer überwinden, trägt natürlich zur Faszination bei. Vielleicht ist Ottolenghi deshalb auch ein echter Teamplayer geworden, der seine Schwächen kennt und Experten um sich schart, die die ihm feh­lenden Fähigkeiten einbringen. Zu ihnen gehört die Schweizerin Cornelia Stäubli, 52, die seit 17 Jahren an Ottolenghis Seite ist. Ihre offizielle Funktion: General Manager. Sie ist die Frau für die Zahlen und Excel-Tabellen. Dass sich das Geschäft trotz Corona und Brexit im ohnehin harten Lon­doner Gastromarkt behauptet, ist vor allem Stäubli zu verdanken – viele der heute 350 Mit­arbeiter hat die Schweizerin selbst eingestellt.

Yotam Ottolenghi
...ist ein britisch-israelischer Koch und Autor. Er hat bisher rund sieben Millionen Kochbücher verkauft und betreibt vier Restaurants
in seiner Wahlheimat London.

„Ohne Cornelia wäre die Firma nicht das, was sie heute ist“, sagt Ottolenghi. Stäubli hatte als Verkäuferin im Feinkostladen angefangen und sich in dem internationalen Umfeld wohlgefühlt. Doch sie musste „Ordnung in den Laden“ bringen, wie sie mit einem Grinsen erzählt. Heute ist sie der Kopf der Unternehmung und Patentante von Ottolenghis Söhnen Max und Flynn.

Doch der Erfolg liegt auch an der stetigen Neuerfindung. Nie ist das Team rund um Ottolenghi in der erfolgreichen „Hummus-Phase“ hängen geblieben, es erweiterte stets seinen kulinarischen Horizont. Nun steht das nächste Projekt an: die Ottolenghi Testkitchen, jenen Melting-Pot unter den Bahngleisen in London, zu einer eigenen Marke aufzubauen. Auch heute steht Ottolenghi oft noch selbst am Herd und experimentiert oder lässt sich von seinem Team inspirieren. Neben dem Kochen liebt er Sport, vor allem Fahrradfahren. Seine erste Auslandsreise ohne Eltern führte ihn und einen Freund auf eine Fahrradtour durch die Niederlande. Neulich kaufte er einen faltbaren Hightech-Fahrradhelm – „das Teuerste, was ich mir seit langer Zeit gegönnt habe“, sagt er und fügt an: „Das Leben in London ist teuer: Wohnraum kostet viel und die Schule für die Kinder. Ich arbeite für meine Familie, nicht für irgendwelchen Luxus.“

Text: Reinhard Keck
Fotos: Jonathan Lovekin

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 9–21 zum Thema „Handel“.

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