Im Westen viel Neues

Edward Berger wurde 2023 mit seinem Kriegsdrama „Im Westen nichts Neues“ in neun Kategorien der Oscars nominiert. Von den Academy Awards in Hollywood ist er schließlich mit vier goldenen Figuren in der Tasche nach Deutschland zurückgekehrt – unter anderem mit dem Preis für den besten internationalen Film. Doch die Filmindustrie, sagt er, sei überschattet von Krisen, die sich nicht einfach unter den roten Teppich kehren lassen.

Im Berliner Büro von Edward Berger fällt neben den Filmbändern ein „Dekoelement“ sofort auf: ein Oscar mit einem Schild davor, das seinen Namen trägt. Daneben befinden sich zwei weitere Namensschilder („Steven Spielberg“ und „Ruben Östlund“ steht auf diesen), ­allerdings ohne goldene Statue da­hinter – eine Anspielung auf die Academy Awards of Merit 2023, denn Spielberg und Östlund gingen bei der Verleihung mit ihren Filmen „The Fabelmans“ und „Triangle of Sadness“ leer aus. Edward Berger, österreichisch-schweizerischer Drehbuchautor und Regisseur, sitzt entspannt an seinem Schreibtisch, unbeeindruckt von seinen unzäh­ligen Auszeichnungen. Die Liste ist lang; vom Grimme-Preis über den Deutschen Filmpreis (Lola) bis zum British Academy Film Award (Bafta).

Erst durch die Oscars aber taten sich Möglichkeiten auf, die sich Berger nur erträumen konnte: „Viele Türen haben sich für mich geöffnet, es ist wie in einem Klub, in den man plötzlich hineingelassen wird.“ Ins­besondere die Finanzierung von zukünftigen Filmprojekten hat sich erleichtert, dennoch steht man laut Berger vor jeder Produk­tion vor neuen Herausforderungen, und dabei hilft auch die wohl bekannteste Auszeichnung der Filmbranche nur sehr bedingt.

Schon früh entdeckte der Wahl-Berliner die Filmbranche für sich: Bereits als Kind war Berger begeistert von der Welt des Kinos. Nach dem Abitur kam sein Vater auf den damals Jugendlichen zu und fragte ihn, was er denn zukünftig beruflich machen werde. Berger antwortete, dass er Wirtschafts­ingenieurwesen studieren wolle, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Dieser war von der Antwort zwar überrascht, da er seinen Sohn bereits früh als sehr kreativ wahrnahm, aber er unter­stützte dessen Entscheidung. Doch nach seinem ersten Tag als Student des Wirtschaftsingenieurwesens schmiss Berger hin und wandte sich vollständig seiner Leidenschaft, dem Film, zu. Er studierte Regie in Braunschweig und New York, wo er bei der Produktionsfirma Good Machine auch seine ersten Berufserfahrungen sammelte.

Heute arbeitet Berger mit den Riesen der Branche zusammen, wie dem US-amerikanischen Konzern Netflix, auf dessen Streamingplattform „Im Westen nichts Neues“ erschien. Berger lobt die Zusammenarbeit mit dem wohl bekanntesten Streamingdienst weltweit, der 2022 einen Umsatz von 31,6 Mrd. € erwirtschaftete. In den ersten drei Tagen nach der Veröffentlichung des Films im Oktober 2022 erreichte sein Kriegsdrama 31,5 Mio. Abrufstunden und stand damit für zwei Wochen auf Platz eins der nicht englischsprachigen Filmcharts bei Netflix.

Doch Berger meint auch, dass es keine Alternative zur Finanzierung seines Dramas – zu jener durch Netflix – gegeben habe: „Der Film war zu teuer, als dass er in Berlin auf traditionelle Weise finanziert werden hätte können“, denn das Budget für „Im Westen nichts Neues“, das sich auf kolportierte ­20 bis 25 Mio. € belief, sei nicht über staatliche Filmförderung realisierbar gewesen. „Der traditionelle Weg samt Fernsehsender und staatlicher Unterstützung stand auch aufgrund der Komplexität der Idee nicht offen“, so Berger, „aber es ist schon fast ein Gesetz, dass man für jeden Film immer zu wenig Geld hat, das war auch bei der Finanzierung durch Netflix nicht anders.“ Einen wesentlichen Vorteil für die gesamte Film- und Serienbranche bringen Streamingdienste laut Berger allerdings: Local-Language-­Filme werden stärker in den Vordergrund gerückt, da sie unabhängig von der Originalsprache durch Untertitel und Synchronisa­tion gezeigt werden können. Die im Jahr 2023 meistgestreamte Serie weltweit ist „Squid Game“, eine südkoreanische Actionshow. Dadurch zeichnet sich laut Berger eine Diversifizierung der Film­industrie ab, weit über Landes­grenzen hinaus.

„Viele Türen haben sich durch die Oscars für mich geöffnet – es ist wie in einem Klub, in den man plötzlich hineingelassen wird“, sagt Edward Berger.

Doch hinter dem Glamour der Oscars verstecken sich viele Negativschlagzeilen, denn kaum eine Branche ist so krisengebeutelt wie die Filmindustrie. Das Kino als Wirtschaftsfaktor wurde seit dessen Erfindung vor 127 Jahren unzählige Male, vor allem aufgrund technologischer Errungenschaften, totgesagt – beginnend mit dem Aufstieg des Fernsehens über VHS und DVD bis hin zum Aufkommen von Streamingdiensten. Insbesondere die Coronakrise hat dem Wirtschaftssektor erneut zugesetzt: 2020 brach die Zahl der Kinobe­suche in Deutschland um 68 % im Vergleich zum Vorjahr ein; statt 118,6 Mio. Kinobesuchern in Deutschland waren es 2020 nur 38,1 Mio. – ein seit dem Jahr 2000 nicht mehr da gewesener Tiefpunkt. Auch wenn sich dieser Wert wieder erholt hat, konnte das Vor-Corona-Niveau noch nicht erreicht werden.

Auch gesellschaftspolitisch werden die Arbeitsbedingungen in der Branche kritisiert. Erst kürzlich machten Betroffene rund um Hollywood durch einen Doppelstreik darauf aufmerksam: Seit dem 14. Juli 2023 streiken Drehbuch­autoren und Schauspieler Seite an Seite und fordern der Inflation angepasste Honorare. Aber auch der harte Alltag bei Filmproduktionen wird scharf kritisiert. Die Proteste wirken sich auch auf die Filmfestspiele in Venedig aus, auf denen sich dieses Jahr weit weniger Stars der Branche blicken lassen als zuvor.

Diese Problematik hängt laut Berger vor allem mit der Förderung von Filmen zusammen: Der Weg zu Filmförderungen sei in Deutschland voller bürokratischer Hürden, finanzielle Mittel ließen lange auf sich warten. Wenn Geldquellen aber kurzfristig in der bereits laufenden Produktion gekürzt würden, leide nicht nur die Qualität des Endprodukts, sondern eben auch das Team darunter, das dennoch versuche, den Film zu retten. „Und wie geht das? Indem man länger, schneller und härter arbeitet“, sieht Berger die einzige Lösung, denn Drehtage sind extrem teuer. Zudem belohne die deutsche Filmförderung innovative Drehbuchideen kaum, statt­dessen bleibe man mit bereits da gewesenen Filmserien „auf der sicheren Seite“. „Ich glaube, Mut wird nicht belohnt, obwohl man sieht, dass sich zum Beispiel die Marvel- oder James-Bond-Film­reihen nicht mehr besonders gut verkaufen“, meint Berger. Laut dem Filmemacher
liege es in der Hand der Politik, die Filmförderung weniger bürokratisch und stattdessen treffsicherer zu gestalten, denn bei der Finan­zierung von Kulturprojekten liege Deutschland im europäischen und weltweiten Vergleich stark zurück. Doch der Regisseur und Drehbuchautor betont auch, dass es Teil der Filmbranche sei, mit Krisen umzugehen und diese zu überwinden.

Aber lassen sich diese Probleme überhaupt bewältigen, und wie tragen neueste Technologien in der Filmindustrie dazu bei? Auch das ist ein zentraler Kritikpunkt bei den Protesten in Hollywood, denn die Sorge, dass künstliche ­Intelligenz in naher Zukunft verschiedene Jobpositionen in der Branche obsolet machen könnte, wirkt bei einem Blick auf die neuesten Technologien nicht unberechtigt. Künstliche Intelligenz bietet enorme Möglichkeiten für Filme­macher: Drehbücher können bereits vollständig mittels KI verfasst werden, auch Statisten – bei „Im Westen nichts Neues“ waren es je nach Szene bis zu 400 – ­können durch KI ersetzt werden. Modernste Kameratechnologien ermöglichen den realistischen Scan verschiedenster Bewegungsabläufe eines Menschen, die abgespeichert und für unterschiedliche Szenen und Filme angepasst werden können. Solche KI-entwickelten Komparsen kann man bereits online erwerben, sodass Statisten in naher Zukunft obsolet werden könnten. Auch die Her­stellung von Deepfakes, etwa der Austausch des Gesichts eines Stuntmans mit dem des Haupt­darstellers, wird mit künstlicher Intelligenz erleichtert. Facescans der Mimiken und Emotionen eines Schauspielers vor dem Dreh könnten sogar Hauptfiguren ersetzen, sodass bei Krankheit oder Tod eines Darstellers dessen Rolle nicht mehr neu besetzt werden müsste. Außerdem ermöglicht künstliche Intelligenz das Aufhalten des Alterungsprozesses eines Schauspielers.

Schon als Kind hat sich Edward Berger für Filme interessiert – heute lebt er seinen Traum als Regisseur und Drehbuchautor.

Auch Berger sieht diese rasante Weiterentwicklung in der Film­technik: Erst nach dem Schreiben des Drehbuchs setzt er sich mit den zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmitteln auseinander, wissend, dass bei der Produktion des nächsten Films die Technologie auf einem völlig neuen Stand sein wird. Doch Berger betont dabei, dass auch die innovativsten tech­nischen Möglichkeiten kein schlechtes Drehbuch retten können: „Ich glaube, am Ende spielt die Technik keine Rolle, sondern nur die Geschichte. Sie muss neu, originell und einfach gut sein. Die Technik ist im Grunde nur ein Hilfsmittel.“ Laut Berger bewegt sich die Kinobranche zukünftig in zwei Richtungen: Einerseits würden extreme und noch nie da gewesene Ideen stärker beim Publikum anklingen, auch wenn gesellschaftspolitische Themen für den Zuseher unangenehm werden können – wie etwa bei „Im Westen nichts Neues“. Andererseits zeichnet sich ein Trend in Richtung Arthousefilme ab, die nicht für den typischen Blockbusterseher gemacht sind, sondern sich in einem Nischenmarkt bewegen. Auf die abschließende Interviewfrage, ob das Kino eines Tages aussterben werde, kann Edward Berger jedenfalls nur kopfschüttelnd lachen.

Edward Berger, 53, studierte Regie in Braunschweig und New York, bevor er nach Berlin ging und seine Karriere als Drehbuchautor und Regisseur startete. Für seinen auf Netflix erschienenen Film „Im Westen nichts Neues“ wurde er 2023 mit vier Oscars ausgezeichnet.

Fotos: Peter Rigaud

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