Immer im Visier

In kaum einer westlichen Stadt ist die Videoüberwachung der Bevölkerung so lückenlos wie in London. Auch setzt die Polizei längst automatische Gesichtserkennung bei der Verbrecherjagd ein. Sorgen die Kameras für mehr Sicher­heit?  Oder sind sie Vorboten einer orwellschen Dystopie?

Ein Freitagabend um 22 Uhr in Guildford, einer Pendlerstadt nahe London. Auf den regennassen Straßen spiegelt sich die Leuchtreklame der Fast-Food-Läden. Aus den Kneipen dröhnt bierseliges Gelächter. Fünf junge Frauen staksen in High Heels über die Onslow Street zum Nachtclub Casino; vier junge Männer in Jogginghosen und Daunenjacken folgen der Gruppe. Einer schiebt ein Fahrrad über den Gehsteig. Was die Männer nicht sehen können: Jeder ihrer Schritte wird genau überwacht.

Gordon Tyerman sitzt in einem weißen Opel-Lieferwagen, den er auf dem Gehsteig gegenüber einem McDonald’s geparkt hat. Von hier aus kann er drei Straßen einsehen, genauer gesagt: Die Über­wachungskameras auf dem Dach seines Vans können das. Tyerman, 66 Jahre alt, hat sein Fahrzeug zu einem Hightech-Überwachungsmobil umgebaut. An diesem Abend sitzt er im Laderaum und blickt mit strengem Gesicht auf vier Computerbildschirme, die zeigen, was die Kameras draußen einfangen – auch die jungen Männer in legerer Kleidung beim Spaziergang. Alles wirkt friedlich, wie ein normaler Ausgehabend – doch der Ex-Polizist Tyerman ist anderer Meinung.

„Diese Jungs sind nicht gekleidet, als würden sie ausgehen – und nur einer von ihnen hat ein Fahrrad dabei“, sagt Tyerman. Das macht ihn misstrauisch. Sind es Drogendealer? Oder Taschendiebe? Ist das Fahrrad ihr Fluchtgefährt? Oder sind das einfach nur Studenten im Schlabberlook, die gemeinsam einen freien Abend und den Start ins Wochenende genießen?

Tyermann zoomt näher heran. Seine Kamera, das Modell „Predator“ des britischen Herstellers 360 Vision, liefert detaillierte Bilder. Selbst in mehr als 350 Metern Entfernung kann sie Nummernschilder sichtbar machen, und dank Infrarot in der Dunkelheit filmen. Die Gesichter der Männer flimmern nun auf einem der Bildschirme im Van in Großaufnahme.

Technisch wäre es kein Problem, die Auf­nahmen in eine Datenbank der Polizei einzu­speisen. Künstliche Intelligenz würde dann mittels einer Software zur Gesichtserkennung die Bilder analysieren und sie mit den Gesichtsdaten von Gesuchten abgleichen.

Doch die Technik ist umstritten und die recht­lichen Hürden bei der Nutzung sind hoch – zumindest noch. Tyerman verlässt sich daher auf seine Augen statt auf Algorithmen. Bald sind die jungen Männer im Zwielicht der Straßenlaternen verschwunden. Doch Jogginghosen und ein Fahrrad haben genügt, um sie verdächtig zu machen – und zu überwachen.

„Mit meiner Arbeit will ich die Straßen sicherer machen“, sagt Gordon Tyerman. Seit 20 Jahren arbeitet er als Camera Operator für CCTV – was für Closed Circuit Television steht, den englischen Begriff für Videoüberwachung. Tyerman ist Privatunternehmer, doch er hat einen direkten Draht zur örtlichen Polizei, kann umgehend eine Straftat melden und Beamte aktivieren. Tyerman war selbst Beamter, überwachte ­ 16 Stadtzentren per Video und machte sich mit 49 Jahren als Berater für CCTV selbstständig.

Das legale Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen ist Gordon Tyermans Geschäft. Und dieses Business boomt – nicht nur in London, auch global. Der Markt für Videoüberwachung ist heute 13 Mrd. US-$ schwer; in zehn Jahren soll er bei mehr als 45 Mrd. US-$ liegen. Smarte und intelligente Überwachung, günstig, automatisiert und sicher – das sind die Versprechen der Industrie. Der führende Hersteller ist der staatliche chinesische Konzern Hikvision, auch der US-Mischkonzern Honeywell und Bosch Security Systems, ein amerikanischer Ableger des deutschen Traditionsunternehmens, verdienen in dem wachsenden Markt.

Vertrauen ist gut, Kontrolle per Kamera besser – dieses Motto gilt in Europa vor allem in Großbritannien, bei lokalen Behörden, Veranstaltern von Großereignissen, Transportunter­nehmen, Pub- oder Discobetreibern; selbst in Supermärkten, Coffeeshops und Büchereien. Denn nicht nur die Polizei setzt Kameras ein, auch Privatunternehmen – und die sind wiede­rum auf die Hilfe von Anbietern wie Tyerman angewiesen. Das Geschäft läuft gut, zumal der Ex-Beamte als führender Experte gilt. Er gibt auch Kurse zur Kameraüberwachung, ihrem Nutzen und ihren rechtlichen Einschränkungen und berät das britische Innenministerium.

In London werden täglich über 940.000 Kameras zur Videoüberwachung eingesetzt, schätzen Studien. Die Londoner werden im Schnitt 70-mal pro Tag gefilmt, das CCTV-System in der Londoner U-Bahn ist fast lückenlos – kaum eine andere europäische Metropole setzt derart massiv auf großflächige Videoüberwachung.

Doch was bringt die Technologie? Sorgt sie für mehr Sicherheit oder beschneidet sie die Freiheit und das Recht auf Privatheit? Ist das unsichtbare Auge Freund und Helfer der Polizei? Oder sind die Kameras Symbole eines orwellschen Über­wachungsregimes, das die Gesellschaft unterwandert?

George Orwells Meisterwerk „1984“ erzählt von einer Diktatur, die die Menschen permanent beschattet und kontrolliert. Es entstand unter dem Eindruck der totalitären Weltkriegsregime und des rasanten technologischen Fortschritts. Doch erst ein halbes Jahrhundert später wurde in London Videoüberwachung ausgebaut, nach zwei Bombenattentaten der IRA in den frühen 1990er-Jahren. „Hast du nichts zu verbergen, musst du nichts fürchten“ – dieses Motto legi­timierte damals den Einsatz der Technologie, und so argumentieren die Verfechter der Videoüberwachung bis heute.

In den folgenden Jahren wurden in Groß­britannien auch an den wichtigsten Verkehrs­knotenpunkten Kamerasysteme zur automa­tischen Erfassung von Nummernschildern installiert. Rund 13.000 solcher Kameras pro Tag fangen heute mehr als 55 Millionen Datensätze ein, suchen nach gestohlenen Autos oder Fahrzeugen von Kriminellen. Seit 2019 wird in London auch per Kamera kontrolliert, ob die in der Stadt verkehrenden Fahrzeuge die strengen Emissionsauf­lagen und Umweltstandards erfüllen. Die Software dafür entwickelte Siemens.

Durch mehr Kontrolle kamen weniger luftverschmutzende Fahrzeuge in die Stadt, die Belastung in der Atemluft wurde gesenkt. Doch Bürgermeister Sadiq Khan will der Polizei auch den Zugriff auf Kameradaten erlauben, die auch Livebilder einfangen, nicht nur Nummernschilder. Diese Aufnahmen könnten dann auch zur Gesichtserkennung genutzt werden, fürchten Datenschützer, die nun das Stadtoberhaupt verklagen. Der Vorwurf: Die Öffentlichkeit sei nie recht­mäßig über die neue „Schnüffelei“ unterrichtet worden.

Die liberale Stadträtin Sian Berry warnt, dass eine gigantische Datenbank entstehe, mit der die Polizei jederzeit und ohne interne Kontrolle „spielen“ könne. „Wir wissen, dass Polizisten suspendiert wurden, weil sie ihre Ex-Partner mittels solcher Daten gestalkt hatten“, erzählt die Politikerin. Datenschützer wie Berry fühlen sich daher im Alltag längst an den berühmten Slogan aus Orwells „1984“ erinnert: Big brother is watching you.

Walter Bruch, der spätere Pionier des Farbfernsehens, hatte 1942 für die Nazis die weltweit erste Videoüberwachung entwickelt, um Tests mit den V2-Raketen zu dokumentieren. In Deutschland oder Österreich konnte sich die Videoüberwachung nie durchsetzen – das Thema blieb unter dem Eindruck von Nazi- und DDR-Diktatur politisch brisant. Dass Großbritannien die Technologie weitgehend bedenkenlos anwendet, erklärte der ehemalige britische Vizepremier Nick Clegg mit dem historischen Glück, dass sein Land in der jüngeren Geschichte keine faschistische oder nicht demokratische Herrschaft ertragen musste. Das Misstrauen gegenüber dem Staat sei weniger ausgeprägt, meint der Politiker der Liberalen Demokraten; Über­wachung fühle sich für die Briten gutartig an – „bis sie es irgendwann nicht mehr ist“.

In seinem Van in Guildford klappt Gordon Tyerman seinen Laptop auf. Er zeigt ein Video von einer Prügelei vor einer Diskothek. Zu sehen ist ein Paar, das vor der Tür des Clubs streitet, inmitten einer größeren Gruppe. Plötzlich wird die Frau von dem Mann weggestoßen und schlägt rücklings auf dem Gehsteig auf. Die Sicherheitsleute stürzen sich auf den Mann, pressen seinen Kopf auf den Asphalt, bis die Polizei anrückt.

Dann klickt Tyerman auf die Zeitlupenfunktion, zoomt auf die Streitenden und spult zurück. Bei genauem Betrachten wird deutlich, dass der Mann ins Gespräch mit einem anderen Mann vertieft war, bevor ihm die Frau aus dem Gedränge unerwartet ins Gesicht schlug. Die Aufnahme zeigt: Instinktiv und ohne hinzu­schauen wehrt der Mann die Attacke ab. Die Frau verliert das Gleichgewicht und kippt nach hinten weg. Tyerman zeigte der Polizei die Aufnahmen. Er meint: „Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie CCTV bei der Aufklärung des Tathergangs helfen kann.“

Der Clip zeigt aber auch, dass zwischen Voyeurismus und Aufklärung ­nur ein schmaler Grat ist. Jeder, der im Vereinigten Königreich per Videoüberwachung gefilmt wird, hat das Recht, die Aufnahmen zu sehen – nur muss dafür ein komplexer Antrag gestellt werden, und es dauert oft Wochen, bis die Bilder verfügbar sind. Auch sitze oft kein geschultes Personal in den Kontrollzentren der Gemeinde, in denen die Überwachung öffentlicher Plätze gesteuert werde, sagt Tyerman.

„Videoüberwachung ist für lokale Behörden ein günstiges Mittel, um für mehr Schutz zu sorgen“, sagt der CCTV-Experte. Leider werde dann oft am Personal gespart. Manche Mitarbeiter wüssten nicht, was sie rechtlich überhaupt überwachen dürfen; ein Sexualakt etwa, der eindeutig auf gegenseitigem Einvernehmen beruhe, dürfe nicht aufgenommen werden, sagt Tyerman. Doch das lasse sich in der Praxis kaum vermeiden. Wie der Mensch hinter der Kamera damit umgehen soll, wie er überhaupt Einvernehmlichkeit feststellen soll (und wann diese vielleicht nicht mehr gegeben ist), wann man einschreiten und wann man wegschauen soll – das sind komplexe Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt.

„Mein Rat an das Überwachungspersonal ist: Lieber nicht ranzoomen, einen Kollegen mit einschalten – auch, um sicherzustellen, dass man sich nicht strafbar macht“, erklärt Tyerman.

Dass sie jenseits ihrer eigenen vier Wände höchstwahrscheinlich gefilmt werden, wissen viele Londoner. Dennoch fühlen sich auch manche von den Kameras provoziert – sie halten den Linsen den Mittelfinger entgegen, auch trommeln Passanten manchmal gegen Tyermans Van, der als CCTV-Mobil gekennzeichnet ist. Zu gewalttätigen Übergriffen kam es aber nie. Doch bringt mehr Überwachung wirklich mehr Sicherheit?

Ein Zusammenhang lässt sich wissenschaftlich oder statistisch kaum belegen. Zuletzt haben in London die Gewalttaten zugenommen, vor allem Morddelikte unter rivalisierenden Drogengangs. Doch bei Hasskriminalität und Übergriffen in der U-Bahn hat Videoüber­wachung nur wenig zur Aufklärung beitragen können. Laut einer Recherche von Vice News wurden nur 10 % dieser Delikte aufgeklärt – überraschend wenig in Anbetracht der groß­flächigen Videoüberwachung.

Einige Kilometer nördlich von Guildford, in einem Wohngebiet im Stadtviertel Wandsworth, lässt sich vielleicht schon eine dystopische Zukunft der smarten Überwachung besichtigen. Unterhalb einer Straßenlaterne ist eine Kamera des chinesischen Herstellers Dahua installiert, die auch mit Software zur Gesichtserkennung ausgerüstet ist. In der Gegend haben Einbrüche zuletzt stark zugenommen, die Polizei ist zu überlastet, um diese Straftaten aufzuklären. Kameras sollen nun den Bewohnern Sicherheit bringen und Einbrecher abschrecken.

Datenschützer sind hingegen besorgt. Der Hersteller Dahua musste einräumen, dass seine Systeme anfällig für Hackingattacken sind. Die Kameras wurden auch in China zur Gesichts­erkennung der uigurischen Minderheit eingesetzt, der Produzent preist sogar die Möglichkeit von „Real Time Uyghur Warnings“ an. In den USA sind die Systeme von Dahua verboten, auch die Kameras des staatlichen chinesischen Branchenprimus Hikvision.

In London scheint das noch niemanden zu stören. Dort investiert man mehrere Millionen Pfund in die umstrittenen Produkte; auch setzen Supermärkte auf Kameras mit Gesichtserkennung. Das Argument: So schützt man Kunden und Personal. Experten fürchten aber, dass die Läden biometrische Daten abgreifen, um sie später zu vermarkten. In Zukunft könnten Personen individuelle Produkte angepriesen bekommen – entsprechend ihren Shopping­gewohnheiten, aber auch ihrer Laune (Süßig­keiten für Gestresste) oder ihrem Aussehen (Chips für Übergewichtige). Scotland Yard nutzt Gesichts­erkennung bei Großveranstaltungen wie Fußballspielen, um vorbestrafte Gewalttäter zu identifizieren – und das sehr erfolgreich, wie Gordon Tyerman sagt. Er hält die Angst vor dem System für übertrieben; am Ende entscheide ja stets der Mensch, der Algorithmus mache ihm nur die Arbeit leichter.

Gordon Tyerman, 66, ist ehemaliger Polizist und führender Experte für Videoüberwachung in Groß­britannien. Er berät das britische Innenministerium

zur Nutzung der Technologie und schult weltweit CCTV-Personal, etwa an Universitäten in Saudi-Arabien, Flughäfen im Irak oder Goldminen in der Sahara.

Silkie Carlo, Direktorin der Datenschutz-NGO „Big Brother Watch“, meint hingegen: „Das öffentliche Vertrauen in die Polizei ist kollabiert und nimmt weiter Schaden, wenn die Polizei weiterhin orwellsche Technologie zur Gesichtserkennung einsetzt – die außerdem nutzlos und extrem übergriffig ist.“ Die Aktivistin fühlt sich an den Blockbuster „Minority Report“ erinnert, die Hollywood-Dystopie mit Tom Cruise, in der Maschinen Verbrecher jagen, noch bevor diese ihre Tat begehen können. Die britische Polizei nutze Technik, die man von Überwachungs­staaten wie China oder Russland erwarten würde, so Carlo – in einer Demokratie hätten diese aber „nichts verloren“.

George Orwell verglich die permanente Überwachung mit einem Stiefel, „der für immer auf ein menschliches Gesicht stampft“. Wie weit entfernt ist man in London noch von so einer orwellschen Welt? „Wir sind schon da – und weiter“, sagt Lucie Audibert, eine Anwältin von Privacy International. Der einzige Unterschied sei, dass man hier – zum Glück – in einer funk­tionierenden Demo­kratie lebe, die Gesetze achte und den Missbrauch der Technik ahnde. Doch das könnte sich ändern. „Wir sind niemals immun dagegen, dass autoritäre oder tyrannische Regierungen an die Macht kommen und die existierende Infrastruktur zur Überwachung missbrauchen“, warnt die Juristin.

Zurück in Guildford. Die Lage ist entspannt, Gordon Tyerman hat nichts melden müssen. Auch der CCTV-Verfechter findet, dass Über­wachung oft ohne triftigen Grund betrieben werde. Sogar bei einem Kinderfilmfestival war er mit seinem Van im Einsatz, weil das Sicherheitsprotokoll ab einer bestimmten Teilnehmerzahl Videoüberwachung vorschreibt. Gleichzeitig sagt Tyerman: „Die Polizei hat die Pflicht, Verbrechen aufzuklären, und sollte dabei auch moderne Technik nutzen können.“ In manchen Staaten im Nahen Osten, wo der Ex-Beamte Schulungen gibt, hat die Polizei per Gesetz jederzeit auf jede installierte Kamera im ganzen Land Zugriff. Das geht auch dem britischen CCTV-­Experten ein wenig zu weit.

Tyerman öffnet die Tür seines Vans einen Spalt, im selben Moment schlendern zwei junge Männer vorbei und blicken ins Innere. Fasziniert von den leuchtenden Bildschirmen flüstert einer: „Das ist Spionage in reinster Form.“ Die Nachtschwärmer verharren einen Moment schweigend und blicken fast demütig in die Welt der Überwachung. Dann gehen sie weiter Richtung Pub. Die Kameras auf dem Dach des Vans haben sie genau im Visier.

Fotos: Greg Funnell

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