Innovation auf europäisch

Den USA und China gehört die Zukunft – und Europa ist längst abgeschlagen. Dieses düstere Bild wird häufig gezeichnet. Doch wie ist es wirklich um unseren Kontinent bestellt?

Rund die Hälfte der 1.000 besten ­Universitäten der Welt im „The Times World Universities Ranking“. Acht der zehn innovativsten Volkswirtschaften der Welt im „Global Innovation ­Index“. 15 der 30 wohlhabendsten Staaten der Welt nach Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung. Das ist ­Europa. Aber: Nur eines der 20 weltweit größten Inter­netunternehmen kommt aus ­Europa. Und nur ­eines der 20 größten Start-ups der Welt. In den USA wurde 2017 mehr als viermal so viel ­Venture Capital (VC) investiert wie in ­Europa. Das wirft die Frage auf: Ist die europäische Wirtschaft fit für die Zukunft? Oder droht ­Europa, im 21. Jahrhundert zurückzufallen, wie ­viele ­befürchten?

Bereits 2011 gab die Europäische Kommission eine breit angelegte Untersuchung in Auftrag, welche die Innovationsfähigkeit der Europäischen Union ein für allemal feststellen sollte. Die Ergebnisse waren ernüchternd: In fast ­allen untersuchten Bereichen lag die EU hinter den USA. China hatte Europa schon fast eingeholt – und auch Staaten wie Japan und Südkorea investierten, gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung, mehr in Forschung und Entwicklung. Doch was ist das Problem? Scheitert es an der Wissen­schaft? An den Unternehmern? Oder an der Unter­stützung der Politik? „Wir in Europa sind super in der Forschung und total mies darin, daraus Unternehmen zu schaffen. Aber am Ende sind es ­Unternehmen, die Märkte erobern, und nicht Forscher“, sagte Fabian Westerheide von Asgard Capital, einem auf künstliche Intelligenz (KI) spezialisierten VC-Fonds aus Berlin, schon im ­Februar im Interview mit Forbes.

Aber warum ist das so? Eine Antwort darauf gibt Hermann Hauser. Der gebürtige Österreicher lebt seit Jahrzehnten im britischen Cambridge und ist Partner beim VC-Fonds Amadeus Capital. Hauser unterscheidet zwischen zwei ­Arten von Innovationen – evolutionären und revolutionären. Mit Ersteren umzugehen, sei für Großkonzerne meist kein Problem: Häufig könnten sie schrittweise Verbesserungen aufnehmen und sie in ihre bestehenden Abläufe oder Produkte einfließen lassen. „Mit revolutionären Veränderungen können Großunternehmen dagegen schlechter umgehen, die sind bei Start-ups besser aufgehoben“, sagte Hauser im Juni bei einem Vortrag in Brüssel. Konzerne könnten sich dann an diesen beteiligen – etwa über Risikokapital.

An Gründungen innovativer ­Unternehmen mangelt es in Europa laut Hauser nicht. Der Knackpunkt ist ein anderer: „Wir haben in Europa kein Start-up-Problem. Wir haben ein Scale-up-Problem.“ Gemeint ist: In Europa werden mittlerweile sogar mehr Start-ups gegründet als in den USA. Doch häufig bleiben sie in der Wachstumsphase stecken. Jungunternehmen in diesem Stadium haben bereits bewiesen, dass ihr Geschäftsmodell funktioniert – sie bräuchten aber Geld, um richtig groß werden zu können. „Wir müssen Start-ups auch einmal einen Scheck über 50 Millionen € ausstellen – und nicht über fünf Millionen €“, meint Hauser. Er selbst arbeitet daran, größere Wachstumsfinanzierungen in Europa aufzustellen.

Victor Basta von der Londoner Investment­firma Magister Advisors sieht es ähnlich: Euro­päische Tech-Start-ups hätten mit einem „schwarzen Loch“ bei Series-C-Finanzierungen, also in der Wachstumsphase, zu kämpfen. Entscheidend für Europa sei, dieses Loch zu füllen. Basta schlägt vor, dass der Staat als Finanzier oder zumindest als Co-Finanzier einspringen könnte. Außerdem könnten in Europa „Scale-up-Hubs“ analog zu bestehenden Start-up-Hubs ­geschaffen werden – also Zentren, in denen Jungunternehmen in der Wachstumsphase ­gemeinsam arbeiten und unterstützt werden.

Bei den gesamten Venture-Capital-Investitionen holt Europa bereits auf. Nach Zahlen von Pitchbook hat sich das in Europa investierte Volumen zwischen 2008 und 2017 mehr als verdreifacht. Lag es vor zehn Jahren noch bei 5,5 Milliarden €, belief es sich im Vorjahr schon auf 19 Milliarden €. In den ersten drei Quartalen in diesem Jahr wurden Deals in der Höhe von 14,8 Milliarden € abgeschlossen – ein Rekordjahr ist also in Reichweite. Wie wichtig es ist, sich frühzeitig auf neue Technologien zu spezialisieren, zeigt dabei das Beispiel Blockchain. Im Schweizer Zug hat sich etwa ein Zentrum für die dezentrale Technologie hinter Kryptowährungen gebildet („­Crypto Valley“). Von den 4,5 Milliarden €, die laut Pitchbook im dritten Quartal 2018 in europäische Start-ups investiert wurden, entfiel mit 85 Millionen € fast ein Fünftel auf Blockchain-Start-ups aus dem kleinen Schweizer Kanton nahe Zürich.

Eine wichtige Rolle beim Anstieg der europäischen VC-Investitionen spielt das Risikokapital von Großunternehmen. Diese dürften in Europa in diesem Jahr einen neuen Höchststand erreichen. Nach drei Quartalen haben ­Konzerne 2018 bereits 6,2 Milliarden € in Start-ups investiert. Im Vorjahr waren es im gesamten Jahr 7,8 Milliarden €. Dieser Wert war bereits ein ­Rekord – gegenüber 2014 hatten sich die Corporate-VC-Investitionen mehr als verdoppelt, gegenüber 2009 sogar verfünffacht. Zu den wichtigsten Corporate-VCs in Europa zählen Novartis, Siemens und Bosch.

Apropos Bosch: Das Unternehmen ist ­heute nicht nur eines der führenden Corporate-VCs, der Automobilzulieferer trug auch wesentlich zum Aufstieg einer der stärksten Industrien Europas bei: der Automobilbranche. Für die Zukunft der europäischen Wirtschaft wird es nicht nur darauf ankommen, innovative Start-ups groß zu ­machen. Entscheidend wird auch sein, wie es den etablierten Unternehmen und Branchen gelingt, neue Technologien zu adaptieren. Die Industrialisierung Europas stand Ende des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Automobilbranche, insbesondere deutsche Ingenieure hatten ihre Finger im Spiel. 1885 entwickelte Carl Benz das erste Automobil. Das nur einige Jahre zuvor gegründete Unternehmen Bosch baute zwei Jahre später erstmals Magnetzünder. Dadurch war bei Verbrennungsmotoren kein zusätzlicher Energiespeicher wie ein Akkumulator oder eine Batterie mehr nötig. Heute, über 120 Jahre später, ist Bosch der weltweit führende Automobilzulieferer. 2017 erwirtschaftete das Unternehmen (Unternehmensbereich Mobility Solutions) laut dem Datenanbieter Statista 47,38 Milliarden € Umsatz, dahinter befinden sich Continental mit Sitz in Hannover (44,01 Milliarden €) und Denso aus Japan (36,41 Milliarden €).

Dass die Automobilbranche für Europas Industrie wichtig ist, bestreitet niemand. Wenn es um Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft geht, muss aber die gesamte europäische Industrie ­betrachtet werden. Laut der Europäischen Kommission gehen 80 Prozent der Exporte sowie 50 Millionen Jobs (also einer von fünf) auf die Kappe der Industrie. Einen klaren Vorteil bringen die Rahmenbedingungen: Mit 500 ­Millionen Verbrauchern und 21 Millionen Unternehmen ist der europäische Binnenmarkt der größte ­gemeinsame Markt weltweit.

Angesichts der angesprochenen Technologien stellt sich aber auch die Frage: Wo sind die „Magnetzünder“ von heute? Wie, wo und von wem werden neue industrielle Innovationen ­geschaffen? Europäische Unternehmen sind laut Daten der Europäischen Kommission in vielen Branchen weltweit führend – etwa in der Maschinenbau-, Luftfahrt-, Chemie- und Pharmaindustrie. Ebenso in Märkten für zukünftige Techno­logien, wie der fortgeschrittenen Fertigung, Nanotechnologie, Biotechnologie, Mikro- und Makroelektronik, Fotonik und fortgeschrittenen Werkstoffen.

Bei den Venture-Capital-Investitionen in Europa ist ein Rekordjahr in Rechweite

Quelle: Pitchbook

Um die europäische Industrie ins ­nächste Zeitalter zu befördern, wurde im Rahmen des ­österreichischen EU-Ratsvorsitzes nun ein „Presidency Paper“ für eine neue Strategie ausgearbeitet. Damit könnte das festgelegte Brüsseler Ziel, die Industriequote bis 2020 auf ein Fünftel der Wirtschaftsleistung zu heben – aktuell macht sie 15,9 Prozent aus –, zumindest ein Stück weit ­näher rücken. Einer der Kernpunkte des Berichts: Technologien wie KI, Roboterisierung und Big Data in der Industrie sollen 2025 bis zu zwölf Billionen € in Europa erwirtschaften.

Und damit sind wir schon beim springenden Punkt: Europas Produzenten liegen bei der ­digitalen Transformation global gesehen zurück. Laut ­einer aktuellen PwC-Studie sind fünf Prozent der befragten Unternehmer in Europa „Digital Champions“ (die Betriebe wurden auf ihre digitale „Reife“ untersucht und in vier Gruppen unterteilt, Anm.), während es in Asien 19 und in Amerika elf Prozent sind. Somit steht fest: Die europäische Industrie muss hier zulegen, um ihre alte Stärke wieder entfachen zu können. Die Umsetzung des digitalen Binnenmarktes vonseiten der EU, wie bereits seit längerer Zeit oftmals gefordert, ist eine der ­Voraussetzungen dafür.

Wenngleich es nicht die digitale Transformation an sich ist, wo europäische Unternehmen auftrumpfen können, so ist dies bei einer ihrer Spielarten komplett anders: bei Industrie 4.0, also der kompletten Vernetzung der Produktion. Investitionen darin zu tätigen, wird von Daniel Buhr und Thomas Stehnken von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Paper „Industrie 4.0 und europäische Innovationspolitik“ als zukunftsweisend angesehen (wenngleich sie dies eher auf EU-Förderebene und nicht jener der Unternehmen analysieren, Anm.).

Bosch erwartet sich durch Industrie 4.0 im Zeitraum von 2015 bis 2020 eine Kostenersparnis von einer Milliarde € sowie einen zusätzlichen Umsatz, ebenfalls in Höhe von einer Milliarde €. „Wir verfolgen seit rund fünf Jahren eine ­Doppelstrategie: So sind wir nicht nur ­führender Anwender von Industrietechnik, Software und Cloud-Lösungen. Bereits jetzt setzen wir diese in unseren rund 280 Fertigungsstandorten weltweit ein. Zugleich sind wir aber auch Leitanbieter von Industrie-4.0-Lösungen für externe Kunden“, sagt Stefan Aßmann, Leiter Bosch Connected Industry. Überhaupt wird Industrie 4.0 in Fachkreisen oftmals als deutsche Erfindung angesehen und deutsche, aber auch österreichische Unternehmen genießen mit ihrer Ingenieurskunst einen Wettbewerbsvorteil. Denn die Vorteile liegen dabei auf der Hand: In Großserienanlagen können flexibel einzelne Produkte oder unterschiedliche Serien gefertigt werden. Effizienter und kostensparender sollen die Prozesse in der „Fabrik der Zukunft“ ausgestaltet sein. Die Zielsetzung: dadurch näher an den Kunden zu rücken – denn dort warten die satten Umsatzsteigerungen.

„Die Firmen aus Deutschland sind gut aufgestellt, sie zählen zu den führenden Ausrüstern von Fabriken weltweit. Doch der Blick alleine auf Deutschland oder einzelne Länder und Regionen greift zu kurz. Bosch ist ein globales Unternehmen“, sagt Aßmann. Jedenfalls entdecken auch die USA das Thema Industrie 4.0 für sich – was wiederum Konsequenzen für europäische Unter­nehmen hat. So kaufte etwa der Elektroautoproduzent Tesla 2016 den deutschen Maschinenbauer Grohmann Engineering, der auf Anlagen für automatisierte Produktion spezialisiert ist, um kolportierte 150 Millionen US-$.

Entscheidend wird jedoch sein, inwiefern teilweise etablierte Industrieunternehmen digitale Innovationen selbst (weiter) mitentwickeln – letztlich ist dies aber auch eine Frage des Geldes und der Zugänglichkeit. Auf EU-Ebene existieren hierfür jedenfalls bereits mehrere Forschungsprogramme. So hat die EU-Kommission 2014 das Projekt „Horizon 2020“ ins Leben gerufen. ­Dabei handelt es sich um das weltweit größte trans­nationale Programm für Forschung und Innovation mit einer Dotierung von 80 Milliarden €. Die Industrie bildet neben der Spitzenforschung und der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen einen Schwerpunkt.

Insgesamt beliefen sich die EU-Gelder für die unterzeichneten Förderungen zwischen 2014 und 2016 auf 24,8 Milliarden €. Der Anteil für die Industrie daran betrug 20 Prozent – und hier machten wiederum die Investments in Informations- und Kommunikationstechnologien 61 Prozent aus.

Zusammenfassend lässt sich also ­sagen: Es mangelt weder Start-ups noch Corporates in Europa per se an Innovationskraft. Jungunter­nehmen bräuchten allerdings speziell in der Wachstumsphase mehr Kapital zur Expansion. Technologien frühzeitig zu erkennen und sie zu adaptieren, ist für Start-ups und Großunternehmen gleichermaßen wichtig. Zweitere haben als Risikokapitalgeber für Start-ups im Vorjahr zwar so viel investiert wie nie zuvor, doch sind sie selbst auch auf die richtigen Rahmenbedingungen angewiesen, damit ihre Innovationen Früchte tragen können. Und: Sie müssen ­insbesondere wissen, worin sie investieren. In Zukunft führt jedenfalls kein Weg an KI, Big Data und Robotics vorbei. Man kann hoffen, dass dies alles dazu beiträgt, die von der Europäischen Kommission beauftragte Untersuchung zur Innovation möglichst schnell vergessen zu machen.

Text: Niklas Hintermayer und Dominik Meisinger

Dieser Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2018 „Europa“ erschienen.

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