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Das Medtech-Scale-up Scarletred revolutioniert mit seiner KI-gestützten Hautanalyse die Dermatologie. CEO Harald Schnidar hat es geschafft, durch konsequentes Bootstrapping ein international erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, das führende Pharma- und Kosmetikkonzerne zu seinen Kunden zählt. Pünktlich zum elfjährigen Jubiläum steht Scarletred nun vor dem nächsten großen Meilenstein.
Vor uns erstreckt sich ein großer Konferenzraum mit Panoramablick auf Wien – das HQ von Scarletred liegt im achten Stock im Innovationsviertel Neu Marx, einem ehemaligen Industriegebiet, das heute Medien- und Technologieunternehmen beherbergt. Hier bereitet Harald Schnidar die Verdopplung seines Teams vor. Der Anlass ist klar: Nach elf Jahren ist das Unternehmen längst aus der Start-up-Phase herausgewachsen und treibt seine globale Skalierung voran. Gefeiert wird das Jubiläum im großen und nicht im kleinen Rahmen: Seit Mai ist Scarletred auch Teil des Österreich-Pavillons auf der Weltausstellung in Osaka, Japan. Der Auftritt erzählt die einzigartige Geschichte des Unternehmens: Von der Produktentwicklung über die Finanzierung bis hin zur globalen Expansion – Scarletred hat vieles anders gemacht.
Scarletred nutzt eigens entwickelte Algorithmen und ein innovatives Pflaster, um Veränderungen der Haut objektiv messbar zu machen. Nutzer öffnen die Scarletred-App auf ihrem Smartphone und fotografieren eine Hautstelle, die Daten fließen in ein neuronales Netz; eine KI-basierte Software misst dann innerhalb weniger Millisekunden alles, was das Auge sieht – darunter Größe, Form, Farbe und Struktur von Hautpartien –, und ermittelt, wo möglich, den Schweregrad der Erkrankung.
Das farbige kleine Pflaster auf der Haut, die einzige „Hardware“-Komponente des Systems, stellt sicher, dass Licht- und Sensorunterschiede keinen Einfluss auf die Qualität der Bilddaten nehmen. Schnidar vergleicht die entwickelte Technologie mit einem Thermometer, nur: „Anstatt Körpertemperatur messen wir Veränderungen der Haut.“ Die Diagnose einer Hauterkrankung wird weiterhin durch ärztliches Fachpersonal gestellt. Scarletred liefert jedoch objektive Analysedaten dazu, wie sich die Haut infolge einer Therapie verändert. Bisher wird das vor allem subjektiv mit dem Auge beurteilt. Wo es vor allem höherer Einheitlichkeit unter Medizinern bedürfe, sagt der CEO, „ist in der Ermittlung des Schweregrads von Erkrankungen. Unsere Technologie ermöglicht Pharma- und Konsumgüterherstellern, die klinische Entwicklungszeit neuer Arzneimittel und Pflegeprodukte um bis zu 50 % zu verkürzen, Risiken zu minimieren und in Summe enorme Kosten einzusparen.“ Allein im Bereich Hauterkrankungen ist der Bedarf riesig: Etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung leidet zumindest temporär unter Akne; chronische Hauterkrankungen wie Neurodermitis und Psoriasis nehmen in den Industriestaaten kontinuierlich zu.
Dass das Unternehmen den Nerv der Zeit trifft, ist beim Betreten des Büros nicht zu übersehen – im Gang reiht sich eine gerahmte Auszeichnung an die nächste. Eine davon liegt Schnidar besonders am Herzen: 2017 hat Scarletred den österreichischen Staatspreis in der Kategorie Digitalisierung erhalten, damals als erstes Unternehmen überhaupt. „Wir sind ein digitaler Pionier – und darauf bin ich stolz“, so Schnidar.

Mit der Smart-Imaging-Technologie von Scarletred hätte man in anderen Branchen vermutlich schneller erste Umsätze erzielt. Die kurzfristige Monetarisierung und ein rascher Exit standen für Schnidar jedoch nie im Vordergrund – er möchte etwas schaffen, das einen hohen gesellschaftlichen Nutzen hat. Auch deshalb sind die Produkte und das SaaS-Geschäftsmodell des Unternehmens als B2B-Service konzipiert, primär gezielt für den Einsatz in der Industrie. Den direkten Nutzern, also medizinischem Personal, Betroffenen und pflegenden Angehörigen, wird die App hierfür auch in Zukunft kostenlos zur Verfügung stehen, so Schnidar.
Patienten standen bereits vor der Gründung von Scarletred im Zentrum seiner Arbeit. Schnidar hatte sein Doktorat in der Hautkrebsforschung abgeschlossen und bereits in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert, als ein Projekt mit dem Landeskrankenhaus Graz die zündende Idee für Scarletred lieferte. Das Ziel des Projekts, einer klinischen Studie unter Schnidars Mitwirkung, war es, ein Medikament gegen Hautschäden zu entwickeln, die Brustkrebspatienten durch die Bestrahlung erlitten. Dazu generierte Schnidar auch Fotos der betroffenen Hautstellen und fragte sich: Müssten die Veränderungen, die mithilfe von Bildern dokumentierbar sind, nicht auch mithilfe dieser Bilder messbar sein? Verbesserungspotenzial sah er auch in der rascheren Datenübertragung, die damals noch per USB-Stick abgewickelt wurde. „Also habe ich eine Methode generiert, mit der man Hautrötung anhand einer Bildanalyse objektiv und unabhängig vom Ort messen kann“, so Schnidar. 2012 meldete er darauf das erste Patent für die Technologie an, heute verfügt das Unternehmen über 40 Patente.
Scarletred ist das einzige Unternehmen weltweit, das diese Art der Hautmessung als zertifiziertes Medizinprodukt anbieten kann, erzählt er. Dass der Wissenschaftler als Ausgleich zur akademischen Welt zuvor auch als Eventmanager tätig war, machte sich auf seinem Weg zum CEO bezahlt: „Ich habe früh mein Talent fürs Projektmanagement entdeckt“, sagt er. Schnidar absolvierte zudem einen General Executive MBA mit Stationen in London, Toronto, St. Gallen, Moskau und Shanghai. Der Austausch mit Führungskräften aus verschiedenen Branchen bestärkte ihn darin, die akademische Karriere gegen eine unternehmerische Tätigkeit zu tauschen. Der österreichische Genetiker Josef Penninger bot ihm einen fixen Job in seinem Biotech-Unternehmen an. „Nach drei Monaten Praktikum“, erzählt Schnidar schmunzelnd. Es war das Projekt, das dem späteren CEO die Augen öffnen sollte: Er stellte fest, dass Subjektivität in der Dermatologie trotz aller Versuche, möglichst objektiv vorzugehen, die Entwicklung von Arzneimitteln beeinflusst. „Am Ende des Tages führt das dazu, dass hohe Kosten entstehen, erfolgversprechende Medikamente nicht das gewünschte Testresultat erzielen oder zu spät erkannt wird, dass etwas im Projekt nicht funktioniert“, so der Gründer von Scarletred.

Bereits während des Forschungsprojekts hat Schnidar einen Algorithmus entwickelt, der Veränderungen der Haut misst. Doch der Weg bis hin zur Zertifizierung als Medizinprodukt ist lang: Um die gesamte Palette der über 3.000 existierenden Hauterkrankungen abzudecken, hat Scarletred bereits über hundert klinische Studien durchgeführt und somit auch eine einzigartige Datenbasis geschaffen. Das ist teuer – umso erstaunlicher ist, dass Scarletred bis jetzt ganz ohne externes Venture Capital gewachsen ist. Anfangs waren es Schnidars Investitionen, Seed-Kapital und Forschungskooperationen; seit drei Jahren trägt der Cashflow das wachsende Unternehmen. 2016 brachte die Teilnahme des CEOs an einem Accelerator-Programm im Silicon Valley den entscheidenden Impuls, der die Unternehmensvision nachhaltig prägte: „Wir können nicht nur mithalten“, wurde Schnidar damals klar, „wir können es sogar viel besser.“ Anfang 2020 folgte die Ernüchterung: Die Covid-19-Pandemie brach aus, die Biopharma-Branche hatte anderes im Sinn, als die Zusammenarbeit mit einem Dermatologie-Start-up auszubauen. Schnidar kontaktierte die weltgrößten Pharmaunternehmen mit der Idee, die Hautreaktion an den Einstichstellen von Impfungen zu messen. Ein bekannter US-amerikanischer Konzern zeigte Interesse und wurde zu einem der wichtigsten Kunden.
Wer die Pharmabranche kennt, weiß: Die Einstiegshürden für Jungunternehmen sind hoch. Nach erfolgreicher Umsetzung einer Crowd-Kampagne im Jahr 2018 nutzte Scarletred das frisch eingeworbene Kapital, um seine Technologie weltweit abzusichern, und meldete auch neue internationale Patente an. Im selben Jahr gründete Schnidar mit Scarletred Inc. eine zweite Niederlassung in Cambridge, USA – an der Ostküste, die er als das „Silicon Valley der Bio- und Medtechs“ bezeichnet. Im ersten Stock desselben Gebäudes, in dem Scarletred Inc. tätig ist, startete einst Mark Zuckerberg die Plattform Facebook. Angesichts der aktuellen US-Zollpolitik ist die Niederlassung auch strategisch klug gewählt: Sie fungiert unter anderem als Generalimporteur, das erleichtert die Lieferung des Hautpflasters und Projekte mit Geschäftspartnern in den USA erheblich. Bis auf diese Hardware-Komponente ist das System des KI-Unternehmens aber vollständig mobil – ein Vorteil gegenüber der indirekten Konkurrenz. Direkte Konkurrenz? „Gibt es keine“, sagt Schnidar. Dafür sorgen die hohe Patentdichte und der Entwicklungsvorsprung. Dass die Technologie auf Smartphones ausgelegt ist, macht sie vielen Menschen zugänglich; es bedeutet aber auch: Das System muss selbst im schummrigen Licht eines Wohnzimmers funktionieren. „Wir wollen die Probleme dort analysieren, wo sie akut sind und andere Technologien versagen“, so der CEO.
Der KI-Agent „Aurora“ macht das möglich. Die neueste Entwicklung von Scarletred lässt sich als Plug-in nahtlos in die Scarletred-Plattform integrieren. Sie ist das Ergebnis von über zehn Jahren klinischer Forschungsarbeit, die das Unternehmen mit Partnern aus der Pharmaindustrie und Universitäten durchgeführt hat. Aurora markiert den nächsten großen Meilenstein in der Evolution des Medtechs: Die KI erkennt selbst in kleinen Datenmengen komplexe Muster. Sie lässt sich gezielt auch auf seltene Erkrankungen trainieren und schnell um Modelle erweitern, die Ärzten als Entscheidungshilfe dienen. „Aurora analysiert Datensätze voll automatisiert und unterstützt unsere Kunden in der Identifikation neuer Biomarker, das ist revolutionär“, so Schnidar.
So kann im Idealfall selbst bei kleinen Datensätzen ein objektives Urteil über die Wirksamkeit von Arzneimitteln gefällt werden. Alle Daten, die in Aurora einfließen, werden zudem anonymisiert und verschlüsselt. Primär soll die Technologie die Entwicklung und Testung neuer Arzneimittel unterstützen und helfen, die Sicherheit von Arzneimitteln zu überwachen. Doch die Technologie hinter Aurora ermöglicht auch Anwendungen in der Telemedizin und Kosmetik. „Aurora ist ein Quantensprung nach vorne“, sagt Schnidar. Die Weltausstellung 2025 in Osaka läutet nun ein neues Kapitel ein: Bis Anfang 2026 wird Scarletred eine physische Niederlassung in Japan gründen, denn Europa, die USA und Japan sind die Hauptzielmärkte des Scale-ups. Japan ist für Scarletred kein Neuland: 2019 hat das Unternehmen einen Preis auf dem internationalen Start-up-Event Techbizkon gewonnen, das europäische und japanische Jungunternehmen vor den Vorhang holt. „Das hat uns gezeigt, dass auch in Japan erkannt wird, welches Problem wir mit Scarletred lösen“, so Schnidar. Er freut sich sichtlich auf das, was jetzt kommt: „Unser Ziel ist klar: Mit Aurora werden wir das ChatGPT der Dermatologie“, sagt der CEO. Dafür ist Schnidar auch bereit, gezielt Venture Capital ins Unternehmen zu holen.