MOVE SLOW AND MAKE THINGS

Unter Howie Lius Führung wurde Airtable still und heimlich zu einem Softwareriesen. Sein Geheimnis: Substanz statt Geschwindigkeit. Doch kann die „Schildkröte“ Airtable das Rennen um Big Data tatsächlich gewinnen?

In der hektischen Welt der Technologie ist es das vorherrschende Ethos, alles schnell zu machen und ­Fehler in Kauf zu nehmen. Doch Howie Liu bewegt sich im ­Schneckentempo. 2013 startete Liu – gemeinsam mit Andrew Ofstad und Emmett ­Nicholas – Airtable. Die Idee: ein Programm, das Tabellenkalkulationen mit der Leistungs­fähigkeit von Datenbanken ver­bindet.

Als wir ihn treffen, sitzt Liu, 30, in seinem Büro in San ­Francisco. Lederjacke, Hemd, Hose, ­Schuhe – alles in Schwarz. Es ist eine minimalistische Uniform à la Apple-­Gründer Steve Jobs. „Anstatt zu versuchen, eilig ein neues ­Produkt zu veröffentlichen, führen wir eine erzwungene Verzögerung ein, damit die Leute darüber schlafen“, sagt er. „Wir lassen die Ideen quasi köcheln.“ Die lange „Kochzeit“ zahlt sich aus: Airtable, eine cloudbasierte Software, wird mittler­weile in 80.000 Unternehmen angewandt – von Netflix bis zu NGOs. Der Umsatz stieg 2018 um 400 Prozent auf 20 Millionen US-$, was auch die Investoren bemerkt haben: Im März sammelte Airtable 59 Millionen US-$ ein, im Oktober kamen weitere 100 Millionen US-$ hinzu. Die Bewertung: 1,1 Milliarden US-$.

Anders als die anderen?

Airtable hat Drag and Drop in eine leistungsfähige Datenbank integriert, vergleichbar mit der Art, mit der Windows mühsame text­basierte Befehle durch eine grafische Oberfläche ersetzte. „Es ist eine intuitive und unterhaltsame Möglichkeit, Daten zu nutzen. Mit klobigen Produkten wie Microsoft Access und Excel geht das nicht“, sagt Ray Tonsing von Caffeinated Capital.

Auf den ersten Blick sieht ­Airtable wie ein modifiziertes Google Sheet aus. Es handelt sich um eine kollaborative Tabellenkalkulationsanwendung, die Bilder, Dokumente, Videos und URLs speichern kann. Alle diese können in Zellen gezogen und mit einem Klick geöffnet werden. Während Google Sheets für Projekte mit einem Team von etwa zehn Personen funktioniert, hat Airtable eine Datenbank, um von Unternehmen mit Tausenden Mitarbeitern bedient zu werden.

Die Preisgestaltung erfolgt nach dem üblichen Freemium-­Modell: Die Grundversorgung ist kostenlos, Abos, die monatlich pro Nutzer 10 oder 20 US-$ kosten, bieten erweiterte Funktionen und großzügigen Speicherplatz; Enterprise-Pakete beginnen bei 60 US-$ pro Kopf. Jeder sechste Nutzer ist ein zahlender Kunde. Das definierende Merkmal von Airtable ist ein Buffet von Apps und Funktionen, die als „Blocks“ bezeichnet werden. Mit diesen kann man Datensätze mit einer Google-Map überlagern, Regeln und Formeln anwenden, Warnungen und Nachrichten an Kollegen senden, Dateien über SMS-Nachrichten oder E-Mails austauschen, Dienste wie Slack und Dropbox integrieren, Umfragen und Formulare einbeziehen und Inhalte auf eine Live-Website übertragen.

Software-Lego

All das ergibt ein leistungsstarkes Toolkit, mit dem jeder ­individuelle Anwendungen (Vertriebspipelines, Kundenberichte, Projektmanagement-Flows, redaktionelle Kalender, Bestandsverwaltung) erstellen kann. Doch Airtable ist nicht der einzige Software­anbieter, der über codefreie Programmierung spricht. Quick Base funktioniert ähnlich. Das hindert Liu aber nicht daran, sich zu überlegen, wie seine Firma einen Großteil der weltweiten Datenverarbeitung erfassen kann. „Die Leute denken, dass wir einen Ersatz für Excel oder Google Sheets bauen. Aber wir sind dabei, das nächste Microsoft oder Apple zu bauen“, sagt er. „Wir haben die Chance, über 100 Milliarden US-$ zu verdienen.“

Liu könnte einen Weg ­finden, sich einen Teil der 110 ­Milliarden US-$ von Microsofts Umsatz zu schnappen. Doch Microsoft könnte sich auch einen Teil von Airtables Umsatz schnappen. Aber Liu ist sicher, dass Airtable gewinnen kann, indem es eine Art Software-­Lego wird, das Blöcke bereitstellt, mit denen jedes Unternehmen billig und schnell Software entwickeln kann. „Amerikas wertvollste Daten sind immer noch in den Köpfen der Menschen und auf Excel-Tabellen gespeichert“, sagt Sam Lessin von Slow Ventures, der sich im März an der Finanzierungsrunde von Airtable beteiligt hat. „Wer einen Ort besitzt, wo all diese Daten zusammenkommen, hat die Chance, ein Ökosystem aufzubauen.“

Foto: Howie Liu, CEO Airtable

Mit Erfolg

Airtable hat bereits ­illustre Kunden: Netflix verwendet es für den Betrieb seiner Postproduktionspipeline. Atlantic Records hat ein Airtable-Programm entwickelt, um die Kommunikation zwischen ­Produzenten, Songwritern und Künstlern zu steuern. Bei WeWork arbeiten Tausende von Mitarbeitern mit Airtable hinsichtlich Verwaltung und Planung von Bauprojekten. Für Calvin Klein regelt eine Airtable-Datenbank den Einkauf von Stoffen.

13 Jahre und Programmierer

Liu wuchs als Sohn koreanischer Eltern in Texas auf. Sein ­Vater erarbeitete sich einen Doktor­titel in Biochemie, seine Mutter, eine ausgebildete Ingenieurin, arbeitete bei McDonald’s und als ­Näherin. „Sie kam mit blutigen Händen nach Hause“, erinnert sich Liu. „Aber sie hatte dennoch die ­Energie, mir
Mathematik, Lesen, Kunst und handwerkliche Fähigkeiten beizubringen.“ Sie gab Liu Bücher über Steve Jobs und Bill Gates. Mit 13 Jahren brachte sich Liu Programmieren bei, mit 16 ging er an die Duke University und machte 2009 seinen Abschluss in Maschinenbau und Politik.

Das erste Start-up

Dann ging er als Entwickler zu Accenture. Sein damaliges Gehalt wäre höher als das Einkommen beider Eltern gewesen. Doch am Abend vor seinem ersten Tag bekam er kalte Füße und tauchte nie auf. „Das war eine schwierige Entscheidung. Ich hatte keinerlei finanzielle Mittel, auf die ich zurückgreifen konnte“, sagt Liu. „Aber ich ­hatte mich ­entschieden, es mit einem Start-up zu ­versuchen.“ Er gründete ein vierköpfiges Unternehmen ­namens Etacts, das Nachrichten von E-Mails, Facebook und Twitter sammelte. Im Jahr 2010 bekam Liu einen Platz in Y Combinator, dem bekannten Inkubator in Kalifornien. Später im gleichen Jahr verkaufte er Etacts an Salesforce – was ihm Millionen und einen Job einbrachte. Bei Salesforce fühlte Liu sich wohl, spürte aber wieder den Reiz, etwas Neues zu starten. 2012 reiste er nach Japan und Uganda und las Bücher über Philosophie und Designtheorie.

Der Anfang von Airtable

Zu diesem Zeitpunkt nahm sich Andrew Ofstad, ein ehemaliger Studienkollege von Liu, eine Auszeit von seinem Job als Projekt­manager bei Google. Bald schleppten er und Liu überdimensionale Computermonitore in ihre Wohnungen, um Programme zu entwickeln. Airtable nahm 2012 ­Gestalt an. Im März 2013 erhielten Liu und Ofstad drei Millionen US-$ von ­Caffeinated Capital und Freestyle Capital, 2015 folgten weitere acht Millionen US-$ Finanzierung. „Wir haben immer viel Geld gesammelt“, sagt Liu, dessen Aktien­anteil auf zehn Prozent gesunken ist. Liu wird die jüngst eingesammelten 100 ­Millionen US-$ Kapital ­dringend benötigen: Neben Quick Base macht Airtable auch Coda­ ­Konkurrenz; auch Technologieriesen sind eine Bedrohung. „Es gibt ein ­Amazon-Team, das einen direkten Konkurrenten zu uns aufbaut“, sagt Liu. (Amazon reagierte nicht auf unsere Anfragen.)

Liu wird einen Teil des Geldes nutzen, um eine aggressive Marketingkampagne zu starten und potenzielle Kunden über die ­Funktionen von Airtable zu informieren. Er wird auch in Unternehmen investieren, die Apps erstellen wollen. Wie immer hat es Liu dabei nicht eilig.

Text: Steven Bertoni / Forbes US
Fotos: Jamel Toppin / Forbes US
Übersetzung: Wolfgang Steinhauer

Dieser Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2019 „Growth-Innovation-Forschung“ erschienen.

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