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Es war mein erstes großes Innovationsprojekt als junger Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens mit über 250 Mitarbeitenden. Wir wollten nachhaltiger werden, unseren Beitrag leisten, etwas wirklich Neues auf den Markt bringen. Also beschlossen wir, unsere Produktpalette um eine biologisch abbaubare Folie zu erweitern – eine Idee, die unserer Zeit voraus war. Dachten wir.
Wir entwickelten im Stillen, rechneten, planten. Doch wir vergaßen das Wesentliche: den Markt, die Kunden und ihre Bedürfnisse. Es folgte ein krachender Misserfolg. Niemand interessierte sich für uns, niemand hatte Verständnis – und wir hatten keinen Absatz.
Rückblickend war das Projekt kein Scheitern. Es war eine bittere aber notwendige Lektion: Der größte Fehler war nicht die Idee. Der größte Fehler war der Mangel an Mut, den Dialog mit der Realität zu suchen. Ich hätte den Mut haben müssen, rauszugehen. Mit echten Kunden zu sprechen. Ihre Schmerzpunkte zu verstehen. Unfertige Ideen zu teilen. Ich hätte weniger orchestrieren und mehr riskieren müssen.
Heute ist diese Erkenntnis relevanter denn je. Die Geschwindigkeit, mit der sich Märkte, Technologien und Gesellschaften verändern, sprengt jeden Planungsrahmen. Vor allem durch künstliche Intelligenz ist das Management zur Echtzeitdisziplin geworden.
Entscheidungen können nicht mehr vertagt oder abgesichert werden. Sie müssen im Jetzt getroffen werden – mit begrenzter Information aber klarem Kompass. Und genau hier liegt das Dilemma: Deutschland ist Weltmeister im Planen, Prüfen, Absichern. Doch während wir validieren, entscheiden andere. Während wir Sicherheit simulieren, schaffen andere eine neue Realität.
Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben ein Umsetzungsdefizit. Und mehr noch: ein Mutdefizit.
Die Transformationsaufgaben sind da. Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Demografie, internationale Wettbewerbsfähigkeit. All das ist keine Überraschung. Doch viele Führungsetagen zögern. Warten auf Beweise, auf Studien, auf die nächste Präsentation der externen Beratung. Dabei braucht es nicht mehr Beratung. Es braucht mehr Haltung.
Führung bedeutet, Entscheidungen zu treffen, obwohl sie falsch sein könnten. Verantwortung zu übernehmen – ohne Absicherung. Sich sichtbar zu machen – trotz Kritik. Mut heißt nicht, blind zu handeln. Mut heißt, mit Unsicherheit umzugehen und trotzdem loszugehen.
Gerade jetzt, im Zeitalter von KI, ist menschliche Führung mehr denn je gefragt: als Orientierung, als Klarheit, als Impuls. Führung heißt, auch ohne Plan anzufangen und andere mitzunehmen.
Ich habe damals gelernt: Nicht Strategie war mein Problem, sondern fehlender Mut. Heute weiß ich: Der erste Schritt zählt, auch wenn der zweite noch nicht klar ist. Vielleicht ist das unsere größte Chance: Nicht alles wissen zu müssen, aber trotzdem loszugehen.
Philipp Depiereux
Unternehmer und Autor