NEOM: NEUE ZUKUNFT

Fliegende Taxis ersetzen Autos, Supermärkte werden durch Drohnenlieferungen überflüssig: Die saudi-arabische Retortenstadt Neom soll eine geplante Hightech- und Öko-Metropole werden – und ist ein Prestigeprojekt des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Doch die Wüstenstadt hat auch ihre Schattenseiten.

Abdul-Rahim Al-Hwaiti, ein fried­licher Aktivist aus dem kleinen Fischerdorf Al-Khuraiba im Nordwesten Saudi-Arabiens, steht auf dem Dach seines Hauses und filmt die Umgebung. Als er Polizisten in der Nähe erblickt, ruft er: „Seht ihr sie? Sie kommen, um mich zu holen!“ Mit diesen Worten kommentiert er seine letzte Videoaufnahme. Kurz darauf fallen Schüsse: Der 47-jährige Al-Hwaiti war laut Augenzeugenberichten auf der Stelle tot – erschossen von der Behörde für öffentliche Sicherheit, wie die Polizei im Königreich Saudi-Arabien heißt. In einer offiziellen Erklärung der Saudi-Arabischen Presseagentur (SAP) am 15. April 2020 heißt es: ­„Al-Hwaiti hat das Feuer eröffnet, Molotowcocktails geworfen und sich seiner Verhaftung widersetzt.“ In den sozialen Netzwerken wird der Aktivist aber als „Märtyrer von Neom“ gefeiert. Auf Twitter hatte er bereits vor Wochen verkündet, sein Haus nicht verkaufen zu wollen: „Das Haus ist meine Heimat. Meine Heimat steht nicht zum Verkauf.“

Al-Hwaiti ist nicht alleine. Denn geht es nach den Plänen der saudi-arabischen Regierung, müssen die Bewohner von Neom umziehen, ob sie wollen oder nicht. Laut einer vom Wall Street Journal veröffentlichten Berechnung des Beratungshauses Boston Consulting Group (BCG) könnten das rund 20.000 Menschen sein – denn auf 26.000 km2 (einer Fläche, die fast so groß wie Belgien ist) soll die neue Millionenstadt Neom entstehen. Dabei handelt es sich um ein gigantisches Prestigeprojekt des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Im Zuge dessen sollen eine bisher kaum erschlossene, karge Wüstenlandschaft gegenüber der ägyptischen Sinai-Halbinsel und ein abgelegener Küstenstreifen in eine Utopie verwandelt werden. Ein Damm mitsamt einer Brücke über das Rote Meer wird dann Asien mit Afrika verbinden.

Gemeinsam mit den Beratungsriesen BCG, McKinsey und Oliver Wyman entwickelte der Thronfolger einen Plan für eine 500 Mrd. US-$ teure Ökometropole, in der Autos durch Flugtaxis ersetzt werden und Supermärkte überflüssig sind, weil Einkäufe direkt im Netz geordert und von Drohnen zugestellt werden. Der Strombedarf der Stadt soll ausschließlich mit erneuerbarer Energie gedeckt werden – primär von ­Solar- und Windfarmen im bergigen Umland. „Zukunftstechnologien sind der Eckpfeiler der Entwicklung von Neom“, erklärt der Kronprinz im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Bloomberg. Jeder Bürger soll einen kostenfreien Internet­zugang haben, genauso wie Gratiszugriff auf Onlineschulungen. „In Neom wird alles einen Bezug zu künstlicher Intelligenz haben“, sagt bin Salman. „Repetitive und mühsame Aufgaben werden automatisiert und von Robotern ausgeführt.“

Genaue Angaben, wann Neom fertig sein soll, sind jedoch schwer zu bekommen. Die involvierten Strategie- und Beratungsfirmen ­geben sich gegenüber Forbes verschwiegen. „Bei Beratungsprojekten wird üblicherweise zu Beginn des Projekts ein Vertrag mit einer Verschwiegenheitsklausel unterzeichnet. Damit verpflichtet sich das Beratungsunternehmen gegenüber dem Kunden, keine Auskünfte an Dritte weiterzugeben“, erklärt Maike Wiehmeier, Senior Communications & Marketing Manager von Oliver Wyman in Berlin. Maria Hirzinger, die Gründerin von Core Communication in Wien, die mit der Boston Consulting Group zusammenarbeitet, schreibt in einer ihrer E-Mails an Forbes: „Ich habe nochmals mit der BCG Rücksprache gehalten. Generell äußerst sich BCG nicht zu bestehenden oder potenziellen Kundenbeziehungen. Das gilt auch in diesem Fall.“

Der Name Neom ist eine Kombination aus dem altgriechischen Wort „neo“ (neu) und einem „m“, das für „mustaqbal“ steht, was auf Arabisch Zukunft heißt – „neue Zukunft“ also. Neom ist Teil der „Vision 2030“: Sie soll das konservative saudische Königreich gesellschaftlich öffnen und die vom Erdöl abhängige Wirtschaft diversifizieren. Das kostspielige Konzept für diesen langfristigen Strukturwandel wurde im April 2016 vom saudischen Kabinett verabschiedet. Darin vorgesehen ist die Aufstockung des Kapitals des Public Investment Fund (PIF) auf knapp zwei Billionen US-$ und die Teilprivatisierung von Aramco, der größten Erdölfördergesellschaft der Welt.

Aramco erwirtschaftete laut der Ratingagentur Moody’s 2018 ­einen Nettogewinn von 111,1 Mrd. US-$. Ein Barrel Öl (159 Liter) zu fördern kostet Aramco nur 7,5 ­US-$, Royal Dutch Shell fördert die gleiche Menge für Kosten von 22,9 ­US-$. Dennoch: Die Sorge besteht, dass die Ölförderung nicht ausreichend Gewinn erzielt, um auch die nächsten Generationen in Saudi-Arabien zu versorgen. Der Preis­verfall am Ölmarkt in den vergangenen Jahren tat sein Übriges, um diese Sorgen zu vergrößern.

Mit großer Genugtuung teilen Regimekritiker bei Kursverlusten beim Ölpreis online ein Interview von Mohammed bin Salman mit der Nachrichtenagentur Reuters aus dem Jahr 2016: „Ich denke, wir können bis 2020 ohne Erdöl leben“, gab sich der Thronfolger damals optimistisch. Mittlerweile wächst der Druck auf den Kronprinzen.

Laut Unterlagen, die das Wall Street Journal besitzt, hat er an­geordnet, „die Umsiedelung der Beduinen bereits bis 2022 abzuschließen“ – drei Jahre früher als ursprünglich geplant –, um seinen Wunschtraum Neom schnell zu verwirklichen. Derzeit leben nur 7.000 Arbeiter in Neom, konzipiert wurde die neue Stadt aber für zwei Millionen Menschen – die ersten Bewohner sollen bereits 2023 einziehen können.

Dabei sollen auch große Tech-Unternehmen eine Rolle spielen. Bereits in seiner Partnerschaft mit dem Softbank Vision Fund des japanischen Milliardärs Masayoshi Son, in den bin Salman 45 Milliarden US-$ investierte, hat der Kronprinz sein Interesse an den Tech-Riesen bewiesen. Auch in Neom sollen sie präsent sein: Von Amazon bis Tesla, von Google bis Facebook möchte der Kronprinz Unternehmen mit „kostenlosem Strom“ und „subventionierter Arbeit“ anlocken. „Neom wird das weltweit höchste BIP generieren“, schreibt das Wall Street Journal. Hoch qualifizierte Arbeitskräfte und Topmanager, die „klügsten Köpfe und größten Talente“ der Welt, sollen hier Jobs bekommen – mit ein Grund, weshalb die Voraussetzungen für eine Aufenthalts­genehmigung gelockert wurden.

Geködert wird die geistige ­Elite zudem mit dem Versprechen, dass „in Neom die weltweit höchste Dichte an Restaurants mit Michelin-Sternen zu finden sein wird“. Sogar das Alkoholverbot, das in Saudi-Arabien herrscht, soll in Neom aufgehoben werden. Die Anwaltskanzlei Latham & Watkins hat ein sogenanntes „unabhängiges“ Rechts­system für Neom ins Leben gerufen. Dabei ist jeder Richter direkt dem König unterstellt.

Doch die Utopie hat auch dystopische Elemente: Dokumente zeigen, dass jeder Bewohner über ein Gesichtserkennungssystem und Personen-Tracking-Technologie permanent überwacht werden soll. „Dies soll eine automatisierte Stadt sein, in der wir alles beobachten können“, heißt es dem Wall Street Journal zufolge in den Unterlagen des Kronprinzen – „eine Stadt, in der ein Computer Straftaten meldet und in der alle Bürger getrackt werden können.“

Die Gesamtkosten des Projekts belaufen sich auf 500 Milliarden US-$, die Wirtschaftsleistung soll in zehn Jahren bereits 100 Milliarden US-$ betragen, so das 2.300 Seiten starke, von den Beratungshäusern erstellte Infomaterial für Neom. Und dort steht auch der Slogan des Stadtprojekts: „Die Zukunft hat ein neues Zuhause.“

Text: Raoul Sylvester Kirschbichler

Illustration: Valentin Berger

Der Artikel ist in unserer Juli/August-Ausgabe 2020 „Smart Cities“ erschienen.

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